Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Inkrafttreten von EU-Rechtsakten mit Veröffentlichung im Amtsblatt, Art. 254 EG. Außenwirkung einer primär an Behörden gerichteten Verordnung (EG). Keine Bindungswirkung der VO als Folge fehlender Veröffentlichung

EuGH Urteil vom 10. 3. 2009 (C-345/06) DVBl 2009, 587

Fall
(Kein Tennisschläger ins Flugzeug)

Nach den Anschlägen vom 11. 9. 2002 in New York erließen das Europäische Parlament und der Rat die Verordnung (EG) Nr. 2320/2002, die den Zweck hatte, die Sicherheit der Zivilluftfahrt zu gewährleisten und unrechtmäßige Eingriffe in die Zivilluftfahrt zu verhindern. Danach ist das Handgepäck aller abfliegenden Fluggäste zu kontrollieren, bevor der Zugang zu Sicherheitsbereichen oder das Besteigen eines Luftfahrzeugs gestattet wird. Die Fluggäste müssen alle verbotenen Gegenstände abgeben; anderenfalls wird ihnen der Zugang zum Sicherheitsbereich bzw. zum Flugzeug verweigert. Als Beispiele für verbotene Gegenstände werden genannt: „Schlagwaffen: Totschläger, Schlagstöcke, Baseballschläger und ähnliche Gegenstände.“ Die Kommission wurde ermächtigt, Näheres in einer Durchführungsverordnung zu regeln, bei der die im Anhang aufgeführten Maßnahmen geheim bleiben und nicht veröffentlicht werden sollten. Dementsprechend erließ die Kommission die VO 622/2003, die einen Anhang enthielt, für den bestimmt wurde: Die Informationen des Anhangs werden nur den zuständigen Behörden zur Verfügung gestellt; im übrigen bleiben sie geheim und werden nicht veröffentlicht. So wurde auch verfahren.

Herr Gottfried Heinrich (H) wollte vom Flughafen Wien-Schwechat abfliegen, wurde aber bei der Sicherheitskontrolle abgewiesen, weil er einen Tennisschläger im Handgepäck hatte; dieser sei nach dem Anhang zur VO 622/2003 verboten. Dagegen klagte H vor den zuständigen österreichischen Gerichten und erreichte einen Vorlagebeschluss an den EuGH, in dem die Frage aufgeworfen wurde, ob Verordnungen bzw. Teilen davon verbindliche Kraft zukomme, wenn diese nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden. Wie wird der EuGH entscheiden ? Von der Zulässigkeit des Vorlagebeschlusses gemäß Art. 234 EG ist auszugehen.

I. Nach Art. 234 I b) EG entscheidet der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft. Im vorliegenden Fall ist zu entscheiden, ob der Anhang zur VO 622/2003, Teil einer Handlung der Kommission, gültig ist. Gültigkeitshindernis könnte die nicht erfolgte Veröffentlichung bzw. die Geheimhaltung sein.

II. Nach Art. 254 II 1 EG werden die Verordnungen des Rates und der Kommission sowie die an alle Mitgliedstaaten gerichteten Richtlinien dieser Organe im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht.

1. Die VO 622/2003 ist eine Verordnung der Kommission (Art. 249 II EG). Der Anhang ist ein Teil davon und müsste somit im Amtsblatt veröffentlicht worden sein, was aber nicht geschehen ist.

2. Der Anhang zur VO könnte aber deshalb nicht veröffentlichungsbedürftig sein, weil er sich nur an die Sicherheitsbehörden richtet und diesen den Umfang ihrer Prüfung vorschreibt.

a) Es würde sich dann um eine ähnliche Erscheinung handeln, wie sie im deutschen Recht als Verwaltungsvorschrift bekannt ist, die ebenfalls nicht in gleicher Weise wie eine Rechtsnorm veröffentlicht zu werden braucht. Ob es eine solche Ausnahme im EU-Recht gibt, wird vom EuGH nicht behandelt. Es spricht aber viel dafür, dass der EuGH hiervon ausgeht, weil er ausführlich dazu Stellung nimmt, dass veröffentlichungsbedürftig Rechtsakte sind, die dem Einzelnen Pflichten auferlegen. Rdnrn. 43 - 46:

aa)  Ein von einem Gemeinschaftsorgan erlassener Rechtsakt darf natürlichen und juristischen Personen in einem Mitgliedstaat nicht entgegengehalten werden, bevor diese die Möglichkeit hatten, von dem Rechtsakt durch eine ordnungsgemäße Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union Kenntnis zu nehmen (…). Insbesondere muss es eine Gemeinschaftsregelung nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit den Betroffenen ermöglichen, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen. Denn die Einzelnen müssen ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 21. Juni 2007, ROM-projecten, C‑158/06, Slg. 2007, I‑5103, Randnr. 25 und die dort angeführte Rspr.).

bb) Die Beachtung dieser Grundsätze ist mit den gleichen Folgen geboten, wenn eine gemeinschaftsrechtliche Regelung die Mitgliedstaaten verpflichtet, zu ihrer Durchführung Maßnahmen zu erlassen, mit denen den Einzelnen Verpflichtungen auferlegt werden. Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts erlassen, müssen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wahren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Juni 2002, Mulligan u. a., C‑313/99, Slg. 2002, I‑5719, Randnrn. 35 und 36, und vom 11. Januar 2007, Piek, C‑384/05, Slg. 2007, I‑289, Randnr. 34). Nationale Maßnahmen, die in Durchführung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung den Einzelnen Pflichten auferlegen, müssen daher veröffentlicht werden, damit die Betroffenen davon Kenntnis nehmen können (vgl. in diesem Sinne Urteil Mulligan u. a., Randnrn. 51 und 52). Ferner müssen sich die Betroffenen in einem solchen Fall auch über die Quelle der ihnen Pflichten auferlegenden nationalen Maßnahmen unterrichten können, da die Mitgliedstaaten diese Maßnahmen in Erfüllung einer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung erlassen haben.

b) Folglich prüft der EuGH, ob der Anhang zur VO 622/2003 dem Einzelnen Pflichten auferlegt. Rdnr. 48:  Hinsichtlich der Liste verbotener Gegenstände ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren fragliche gemeinschaftsrechtliche Regelung, die nicht veröffentlicht wurde, d. h. der Anhang der Verordnung Nr. 622/2003, den Einzelnen Pflichten auferlegen sollte.

Rdnr. 51:  Gemäß den Nrn. 4.1 und 4.3 dieses Anhangs werden alle abfliegenden Fluggäste und ihr Handgepäck kontrolliert, um zu verhindern, dass verbotene Gegenstände in einen Sicherheitsbereich oder an Bord eines Luftfahrzeugs gebracht werden. Alle verbotenen Gegenstände sind abzugeben; andernfalls wird dem Fluggast der Zugang zu dem Sicherheitsbereich oder dem Luftfahrzeug verweigert. Verbotene Gegenstände sind beispielhaft in…dem fraglichen Anhang aufgeführt. Auch wenn diese Vorschriften als in erster Linie an die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gerichtet erscheinen, lässt sich nicht bestreiten, dass sie jedenfalls den Einzelnen Pflichten auferlegen sollen.  Danach trifft jeden Fluggast die Pflicht, verbotene Gegenstände nicht bei sich zu führen und andernfalls entweder die Wegnahme des Gegenstandes oder die Zurückweisung bei der Sicherheitskontrolle zu dulden. Solche Rechtsakte sind veröffentlichungsbedürftig.

3. Die EU-Kommission hat bei Erlass der VO 622/2003 möglicherweise angenommen, von einer Veröffentlichung des Anhangs könne abgesehen werden, weil dieses Vorgehen „im Kampf gegen den Terrorismus“ ausnahmsweise gestattet sei, etwa aus Gründen der Effektivität oder aufgrund eines Notstandsrechts. Darauf ist der EuGH nicht eingegangen, sondern hat - zu Recht - die Beachtung grundlegender rechtsstaatlicher Anforderungen, zu denen das Veröffentlichungsgebot von Rechtsnormen gehört, auch bei der Bekämpfung außerordentlicher Gefahren verlangt. Somit war auch der Anhang zur VO 622/2003 veröffentlichungsbedürftig.

4 Rechtsfolge der Nichtveröffentlichung des Anhangs ist nach EuGH nicht dessen Nichtigkeit. Rdnr. 65:  Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof die Verordnung Nr. 622/2003 mit dem vorliegenden Urteil weder ganz noch teilweise für ungültig erklärt.  Vielmehr hat er dem nicht veröffentlichten Teil die Rechtswirksamkeit (Bindungswirkung) gegenüber den Bürgern abgesprochen. (Eine solche Entscheidung kann offenbar auch Ergebnis einer Nachprüfung nach Art. 234 I b) EG sein.)

EuGH Rdnr. 62, 63:  Infolgedessen können, da der Anhang der Verordnung Nr. 622/2003 nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, Maßnahmen…, soweit sie in diesem Anhang enthalten sind, den Einzelnen nicht entgegengehalten werden.  Auf die…[Vorlegungs-]Frage ist daher zu antworten, dass der Anhang der Verordnung Nr. 622/2003, der nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, keine Bindungswirkung hat, soweit mit ihm den Einzelnen Verpflichtungen auferlegt werden sollen.

Rdnr. 66:  Hinzuzufügen ist, dass eine Feststellung der fehlenden Bindungswirkung des Anhangs der Verordnung Nr. 622/2003, soweit er den Einzelnen Pflichten auferlegen soll, nicht die Verpflichtungen berührt, die die Verordnung Nr. 2320/2002 den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Sicherheit in der Zivilluftfahrt auferlegt, insbesondere nicht die Verpflichtung, das Verbringen verbotener Gegenstände in die Sicherheitszonen der Flughäfen und an Bord des Flugzeugs zu verhindern.  Somit bleiben die aus Sicherheitsgründen gebotenen Maßnahmen zulässig.

III. Der Tenor der Entscheidung des EuGH lautet:  Der Anhang der Verordnung (EG) Nr. 622/2003 der Kommission vom 4. April 2003 zur Festlegung von Maßnahmen für die Durchführung der gemeinsamen grundlegenden Normen für die Luftsicherheit…, der nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, hat keine Bindungswirkung, soweit mit ihm den Einzelnen Pflichten auferlegt werden sollen.


Zusammenfassung