Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Erlass eines EU-Rechtsakts (Art. 5 I EG); Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen. Vorhandensein verschiedener Ermächtigungsgrundlagen: Schwerpunkttheorie, Doppelabstützung. Umweltpolitik (Art. 175 EG). Harmonisierung der Rechtsvorschriften im Binnenmarkt (Art. 95 EG)

Fall nach Aufsatz Kahl NVwZ 2009, 265 ff.

Fall
(EU-Richtlinie erneuerbare Energien)

Die Organe der Europäischen Gemeinschaft sind auf Vorschlag der Kommission mit der Erarbeitung einer Richtlinie (EERL) befasst, nach der die Mitgliedstaaten der EU näher bestimmte Maßnahmen ergreifen sollen, damit der Anteil der erneuerbaren Energien in der EU im Jahre 2020 mindestens 20 % beträgt. Der Anteil erneuerbarer Energie in den Treibstoffen soll einheitlich 10 % betragen. Die damit verfolgten Ziele sind die Bekämpfung der Klimaerwärmung, die Schonung der Ölvorräte sowie die Vereinheitlichung der bislang noch unterschiedlichen und den zwischenstaatlichen Handel behindernden Vorschriften der Mitgliedstaaten über den Zwang, dem Benzin Treibstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen beizumischen. Wäre der Erlass einer solchen EERL rechtmäßig, wer wäre dafür zuständig und welches Verfahren müsste dabei eingehalten werden ?

A. Nach dem in Art. 5 I EG enthaltenen Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung bedarf die EU für jede Maßnahme, insbesondere für jeden Rechtsakt gemäß Art. 249 EG, einer Ermächtigungsgrundlage. In dieser Ermächtigungsgrundlage sind die materiellen Voraussetzungen und in der Regel auch die Zuständigkeitszuweisungen und die Verfahrensanforderungen enthalten.

B. Es ist die anwendbare Ermächtigungsgrundlage zu bestimmen.

I. Welche Vorschrift als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommt, richtet sich nach Inhalt und Zweck des Rechtsakts, im vorliegenden Fall: der Richtlinie.

1. Die von der Kommission benannten zwei Gründe Klimaschutz und Ressourcenschutz durch Förderung erneuerbarer Energien sind Ziele und Inhalte des Umweltschutzes. Ermächtigungsgrundlage für Umweltschutzmaßnahmen der Gemeinschaft kann Art. 175 EG sein.

2. Der weiterhin genannte Zweck ist die Rechtsangleichung der Vorschriften, mit denen die Mitgliedstaaten die Beimischung von Treibstoff aus nachwachsenden Rohstoffen regeln. Sie ist nicht gleichlaufend mit dem Umweltschutz, denn die Festlegung einer einheitlichen Beimischungsquote kann auch zu einer Absenkung führen. Auch kann ein Beimischungszwang die Nachfrage beispielsweise nach Palmöl erhöhen und damit zur Vernichtung natürlicher Vegetation führen, vor allem in Ländern, die noch über Tropenwald verfügen, was dem Schutz der Umwelt schädlich ist.

Maßnahmen der Rechtsangleichung sind in Art. 94, 95 EG vorgesehen, wobei es sich im vorliegenden Fall um eine Maßnahme des Binnenmarktes handeln würde, so dass Art. 95 EG einschlägig wäre.

II. Es fragt sich, wie ein Fall zu behandeln ist, bei dem mehrere Ermächtigungsgrundlagen in Betracht kommen (zum Folgenden genauer Kahl NVwZ 2009, 266 ff.). Abgesehen von dem Fall, dass die eine Ermächtigungsgrundlage als Spezialnorm Vorrang vor der anderen hat, gibt es zwei Möglichkeiten der Behandlung dieser Frage.

1. Es kann darauf abgestellt werden, bei welcher Zielsetzung und inhaltlicher Regelung der Schwerpunkt zu sehen ist (Schwerpunkttheorie). Dann wird nur die Rechtsgrundlage herangezogen, bei der der Schwerpunkt der Regelung liegt.

2. Nach der Lehre von der Doppelabstützung wird der Rechtsakt auf beide Rechtsgrundlagen gestützt. Das ist allerdings nur möglich, wenn sich beide Rechtsgrundlagen auf der Rechtsfolgenseite nicht unterscheiden, insbesondere wenn das gleiche Rechtssetzungsverfahren mit den gleichen Anforderungen an die Mehrheiten eingreift.

III.
Diese Regeln sind im vorliegenden Fall anzuwenden:

1. Kahl a. a. O. legt die Schwerpunkttheorie zu Grunde und sieht den Schwerpunkt einer Regelung, die die erneuerbaren Energien fördern will, beim Umweltschutz. Er will deshalb nicht Art. 95, sondern nur Art. 175 anwenden. Dafür bezieht er sich auch darauf, dass der Entwurf der Kommission für die EERL 25 Artikel hat, von denen sich nur drei mit der Rechtsangleichung befassen; das Ziel der Rechtsangleichung werde deshalb nur beiläufig und nachrangig verfolgt. Wendet man Art. 175 an, ist zwischen den beiden Absätzen 1 und 2 zu unterscheiden. Die beiden Absätze unterscheiden sich auf der Verfahrensseite insofern, als im Fall des Absatzes 1 der Ministerrat mit Mehrheit entscheiden kann, während bei Absatz 2 ein einstimmiger Beschluss erforderlich ist.

a) Wird zunächst die speziellere Regelung des Art. 175 Absatz 2 in den Blick genommen, so kommt Art. 175 II c) in Betracht. Dieser betrifft Maßnahmen, die die Wahl eines Mitgliedstaats zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung erheblich berühren. Um eine „erhebliche“ Wirkung zu haben, muss in die Grundstruktur der Energieversorgung eingegriffen werden, bloße Verschiebungen bei den Energiequellen reichen nicht aus (Kahl S. 268/9 und Fn. 65). Da alle Mitgliedstaaten der EU bereits erneuerbare Energien nutzen und auch die Absicht haben, deren Anteil zu steigern, „rennt die EERL hierbei offene Türen ein“ (Kahl S. 269) und führt nicht zu einem erheblichen Eingriff in die Energieversorgung. Art. 175 II scheidet folglich als Ermächtigungsgrundlage aus.

b) Nach der Schwerpunkttheorie wäre somit Art. 175 I Ermächtigungsgrundlage.

2. Demgegenüber sehen Kommission und Parlament (Nachw. bei Kahl S. 266) auch in der Rechtsangleichung für den Binnenmarkt ein wesentliches Ziel der EERL, so dass sie eine Doppelabstützung für geboten halten.

a) Sie ist dadurch möglich, dass Art. 95 I EG und Art. 175 I EG sich hinsichtlich Verfahren (in beiden Fällen Art. 251 EG) und Beteiligten nicht unterscheiden.

b) Da den Gemeinschaftsorganen bei der Gewichtung der verfolgten Ziele ein Beurteilungsspielraum zukommt und die Einschätzung von Kommission und Parlament durchaus vertretbar erscheint, wird hier der Methode der Doppelabstützung gefolgt.

C. Somit sind die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die EERL nach Art. 175 I EG und Art. 95 I zu prüfen.

I. Die materiellen Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlagen sind gering und liegen vor:

1. Bei Art. 175 I müssen die Ziele des Art. 174 verfolgt werden. Der Umstieg auf erneuerbare Energien dient den Zielen des Art. 174 I, insbesondere der Bewältigung des globalen Problems Klimaerwärmung. Er entspricht auch dem Art. 174 III, insofern die Vorteile des Umstiegs auf erneuerbare Energien die Nachteile deutlich überwiegen. Ob die vorgeschlagenen Maßnahmen ausreichend sind, ist nicht entscheidend, da insgesamt nur ein Mindestziel festgelegt wird und es den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, einen weitergehenden Umstieg anzustreben und vorzunehmen (vgl. auch Art. 176 EG).

2. Bei Art. 95 I muss es sich um Vorschriften handeln, die „die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben.“ Der Treibstoff für Fahrzeuge ist Gegenstand des Handelns im Binnenmarkt. Gibt es in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche Vorschriften über dessen Zusammensetzung, kann der Binnenmarkt insoweit nicht funktionieren.

II. Die Wahl der Richtlinie als Handlungsform ist in Art. 249 III EG grundsätzlich vorgesehen und erscheint im vorliegenden Fall geeignet. Es ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten bereits über Vorschriften zum Einsatz und zur Förderung erneuerbarer Energien verfügen, so dass es zweckmäßig ist, dass sie die Ziele der EERL in ihr Recht einfügen. Für die Binnenmarktharmonisierung (Art. 94, 94 EG) ist die Richtlinie ohnehin praktisch das einzige geeignete Instrument.

III. Ein EU-Rechtsakt darf keine Grundrechte verletzen.

1. Gemäß Art. 6 II EU-Vertrag hat der EuGH die Berufsfreiheit als Grundrecht des europäischen Rechts anerkannt (EuGH Slg. 1994, 4973; Streinz, Europarecht, 7. Aufl., Rdnr. 773; vgl. auch Art. 16 Grundrechte-Charta, wo die Unternehmensfreiheit anerkannt ist). Vorschriften über die Zusammensetzung des Benzins bedeuten einen Eingriff in die Freiheit der Unternehmen, die diese Produkte erzeugen und die damit handeln, und somit einen Eingriff in die Berufsfreiheit.

2. Die Berufsfreiheit darf aber durch Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen beschränkt werden, wenn diese im übrigen rechtmäßig sind und insbesondere das Gebot der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 III EG) beachten. Die Vorschriften der EERL sind geeignet, die von ihr angestrebten Ziele zu fördern. Die Erforderlichkeit ergibt sich daraus, dass es gegenüber einem sukzessiven Umstieg in die erneuerbaren Energien kein milderes Mittel gibt. Ein Beharren auf der Energieversorgung aus fossilen Quellen (mit der Folge des hohen CO2-Ausstoßes; angesichts begrenzter Ölvorräte) und mit Hilfe der Atomenergie (dadurch Unfallgefahr, Entsorgung ungelöst) wäre sowohl ökologisch als auch ökonomisch mit zu großen Risiken verbunden. Somit sind die beabsichtigten Maßnahmen auch verhältnismäßig.

IV. Hinsichtlich Zuständigkeiten und Verfahren verweisen Art. 175 I und Art. 95 I auf das Verfahren der Mitentscheidung nach Art. 251 EG.

1. Herbei trifft der Rat seine Entscheidungen - ggfs. einschließlich der Formulierung eines gemeinsamen Standpunkts - mit einfacher Mehrheit (Art. 205 I EG).

2. Das Parlament wird in der Weise beteiligt, als es Stellung zu nehmen hat, den Vorschlägen von Rat und Kommission zustimmen kann, aber auch Vorschläge mit absoluter Mehrheit ablehnen darf und ggfs. Vertreter in den Vermittlungsausschuss entsendet und durch diese dort seine politischen Vorstellungen durchzusetzen versucht.

V. Die Richtlinie ist zu begründen (Art. 253 EG, i. d.R. durch vorangestellte Erwägungsgründe) und im Amtsblatt der EU zu verkünden (Art. 254 II EG).


Zusammenfassung