Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

EU-Recht: Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 I b AEUV. EU-Verordnung und EU-Grundrechte; Anwendbarkeit der Grundrechte, Art. 51 GRCh; Einschränkbarkeit, Art. 52 GRCh. Diskriminierungsverbot, Art. 21 GRCh; Diskriminierung wegen Alters. Berufsfreiheit, Art. 15 GRCh. Arbeitsrecht: Arbeitsleistung als Fixschuld. Kein Lohn ohne Arbeit; Ausnahme bei Annahmeverzug, § 615 BGB.

EuGH Urteil vom 5. 7. 2017 (C-190/16) BeckRS 2017, 115489

Fall
(Altersgrenze für Piloten)

Die von den zuständigen Organen der Europäischen Union erlassene Verordnung Nr. 1178/2011 („EU-VO 1178“) bestimmt - in Übereinstimmung mit internationalen Abkommen über den Flugverkehr -, dass der Inhaber einer Pilotenlizenz, der das Alter von 65 Jahren erreicht hat, nicht mehr bei der entgeltlichen Beförderung von Fluggästen oder Fracht eingesetzt werden darf. Der bei der deutschen L-AG als Pilot beschäftigte Flugkapitän F wurde im Oktober 65 Jahre alt. Da sein Arbeitsvertrag aufgrund einer tarifvertraglichen Regelung noch bis zum 31. 12. lief, bot er an, noch bis zum Ende des Jahres zu arbeiten. Die L-AG lehnte das unter Berufung auf die EU-VO 1178 ab, setzte F in den Monaten November und Dezember nicht mehr als Pilot ein, beschäftigte ihn auch nicht anderweitig und zahlte ihm kein Gehalt mehr.

F verlangt mit einer Klage gegen L vor den Arbeitsgerichten Zahlung des Gehalts für November und Dezember. Er erkennt an, dass es bei Piloten eine Altersgrenze geben müsse; jedoch sei die in der EU-VO 1178 enthaltene starre, von der Leistungsfähigkeit des Piloten unabhängige Altersgrenze nicht gerechtfertigt und verletze ihn in seinen Grundrechten. Als Pilot sei er regelmäßig ärztlich untersucht worden; noch die letzte Untersuchung habe ergeben, dass er geistig und körperlich gesund und voll einsatzfähig sei. Demgegenüber hält L die EU-VO 1178 für rechtswirksam und vertritt die Auffassung, F könne schon deshalb kein Gehalt für November und Dezember verlangen, weil er in diesen Monaten nicht gearbeitet hat.

Die Klage des F ist inzwischen beim Bundesarbeitsgericht anhängig. Die Beteiligten bitten um ein Gutachten, in dem geklärt wird,

1. ob die von F aufgeworfene Frage vom BAG zu entscheiden ist oder ob sie dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt werden muss; dabei ist davon auszugehen, dass es eine Entscheidung des EuGH zu dieser Frage bisher nicht gibt;

2. ob die von F vertretene Rechtsauffassung zutrifft.

Lösung

Vorab folgende Hinweise: Im Originalfall handelte es sich um das arbeitsgerichtliche Verfahren Werner Fries gegen Lufthansa CityLine. - In der Realität ergibt sich die Altersgrenze (vgl. EuGH [1-11]) u. a. aus den Vorschriften JAR-FCL.065 (Joint Aviation Requirements - Flight Crew Licensing) Buchst. b des Anhangs I der Verordnung (EU) Nr. 1178/2011 vom 3. November 2011 zur Festlegung technischer Vorschriften und von Verwaltungsverfahren in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt gemäß der Verordnung Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2011, L 311, S. 1). Die Benennung dieser Vorschriften wurde, wie im Sachverhalt geschehen, vereinfacht, dies auch in den Originalzitaten. - Das Urteil wird kurz angesprochen von Epiney NVwZ 2018, 1180.

Frage 1: Entscheidungszuständigkeit

Grundsätzlich hat ein Gericht sämtliche Rechtsfragen, auf die es für die Entscheidung ankommt, selbst zu entscheiden, auch Vorfragen wie die Frage nach der Gültigkeit einer Norm. Gesetzlich kann aber etwas anderes bestimmt sein. Wichtigster Fall im deutschen Recht ist die Verpflichtung eines jeden Fachgerichts, die Frage der Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes dem BVerfG vorzulegen (Art. 100 GG). Danach behält zwar jedes Gericht eine Prüfungskompetenz, die Verwerfungskompetenz hat aber allein das BVerfG. Art. 100 GG betrifft nur deutsche Gesetze. Die EU-VO 1178 ist EU-Recht. Für sie könnte sich eine Vorlagepflicht an den EuGH aus Art. 267 AEUV ergeben, der das Verfahren der Vorabentscheidung regelt.

I. Es müssten die Voraussetzungen des Art. 267 I AEUV vorliegen. In Betracht kommt Art. 267 I Buchstabe b). Danach entscheidet der EuGH über die Gültigkeit der Handlungen der Organe der EU. Prüfungsgegenstand ist also sekundäres Unionsrecht, Prüfungsmaßstab ist das primäre EU-Recht, zu dem nach Art. 6 EUV auch die Grundrechtecharta gehört (Ogorek JA 2018, 559 in einer Besprechung des EuGH-Urteils). Dabei hat der EuGH, ebenso wie das BVerfG bei Art. 100 GG, die alleinige Verwerfungskompetenz für das EU-Recht (Geiger/Khan/Kotzur, EUV, AEUV, 6. Aufl. 2012, Art. 267 Rdnr. 19).

1. Aus dem Begriff der Vorabentscheidung und den Regelungen in Art. 267 II-IV AEUV ergibt sich, dass ein Verfahren vor einem Gericht eines Mitgliedstaates anhängig sein muss. Das ist im vorliegenden Fall der Rechtsstreit des F gegen L vor dem BAG.

2. Die dem EuGH vorzulegende Frage muss die Gültigkeit einer Handlung der Organe der EU betreffen. Gültigkeit ist gleichbedeutend mit Rechtmäßigkeit (Geiger/Khan/Kotzur, a. a. O., Art. 267 Rdnr. 9). Der Erlass der VO 1178 war eine Handlung der innerhalb der EU hierfür zuständigen Organe. Als Verordnung hat sie nach Art. 288 II AEUV allgemeine Geltung und ist in jedem Mitgliedstaat unmittelbar verbindlich. Hierfür ist aber Voraussetzung, dass die VO nicht gegen das bei ihrem Erlass zu beachtende Recht verstößt. Zu diesem Recht gehören die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) normierten Grundrechte. F bestreitet mit dem Vorbringen, die VO 1178 verstoße gegen Grundrechte, die Rechtmäßigkeit und Gültigkeit dieser VO. Somit handelt es sich um ein Verfahren, in dem über die Gültigkeit einer Handlung eines EU-Organs zu entscheiden ist.

3. Die Entscheidung über die aufgeworfene Frage muss für das Ausgangsverfahren erforderlich, d. h. entscheidungserheblich sein (vgl. Art. 267 II AEUV; Geiger/Khan/Kotzur, a. a. O. Art. 267 Rdnr. 11). Über die Erforderlichkeit entscheidet grundsätzlich das nationale Gericht (Calliess/Ruffert/Wegener, EUV, AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 Rdnr. 22-24), im vorliegenden Fall also das BAG. (Es gibt aber auch Fälle, in denen der EuGH Vorlagen für nicht erforderlich und damit für unzulässig erklärt hat, etwa weil kein wirklicher Streit bestand, sondern ein Gutachten über eine Rechtsfrage erstrebt wurde, dazu Calliess/Ruffert a. a. O. Fn. 99.)

Die Gültigkeit der EU-VO 1178 ist für die Klage des F gegen L entscheidungserheblich, wenn von ihr abhängt, ob F von L ein Gehalt auch für die Monate November und Dezember verlangen kann. Nachfolgend ist also zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen F gegen L einen Anspruch auf das Gehalt für diese beiden Monate hat.

a) Anspruchsgrundlage ist der gegenüber § 611 BGB speziellere § 611 a BGB. Zwischen F und L bestand ein Arbeitsvertrag, der bis zum 31. 12. lief und die Monate November und Dezember umfasste. Nach § 611 a II BGB ist der Arbeitgeber während des Laufes des Arbeitsvertrages zur Zahlung der vereinbarten Vergütung verpflichtet.

b) Der Arbeitnehmer kann die Vergütung aber nur als Gegenleistung für das Erbringen der geschuldeten Dienste verlangen.Der Arbeitsvertrag reicht nicht aus; der Anspruch entsteht erst mit der Erbringung der Dienst- oder Arbeitsleistung („Kein Lohn ohne Arbeit“; Palandt/Weidenkaff, BGB, 77. Aufl. 2018, § 611 Rdnr. 50; vgl. auch § 614 BGB, wonach die Vergütung nach Leistung der Dienste zu zahlen ist). F hat seine Arbeitsleistung für November und Dezember nicht erbracht. Er kann sie auch nicht mehr erbringen. Denn beim Arbeitsvertrag ist die Arbeitsleistung an den Zeitraum gebunden, für den sie zu erbringen ist; nach dessen Ablauf wird ihre Erbringung (nachträglich) unmöglich i. S. des § 275 I BGB (Schaub/Linck, Arbeitsrechtshandbuch, 17. Aufl. 2017, § 49 Rdnr. 5: die Arbeitsleistung ist eine absolute Fixschuld). Mit dem Unmöglichwerden der Arbeitspflicht verliert F auch den (Gegen-) Anspruch auf das Gehalt für die Monate November und Dezember (§ 326 I BGB; Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, 7. Aufl. 2015,§ 21 Rdnr. 17). Der Verlust ist unabhängig von einem Verschulden und tritt deshalb beispielsweise auch ein, wenn der Arbeitnehmer rechtmäßig streikt oder ihm das Erscheinen am Arbeitsplatz durch Zugausfall oder Verkehrsstau unmöglich war (Zöllner/Loritz/Hergenröder a. a. O.). Im Ausgangspunkt ist also der Einwand der L, F könne keine Gehaltszahlungen für November und Dezember verlangen, weil er in diesen Monaten nicht gearbeitet hat, berechtigt.

c) Von der Bindung des Vergütungsanspruchs an das Erbringen der Arbeitsleistung gibt es aber Ausnahmen. Die wichtigsten sind § 616 BGB und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Zöllner/Loritz/Hergenröder a. a. O. Rdnr. 19), geregelt im Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG). Im vorliegenden Fall kommt die Ausnahme des § 615 BGB in Betracht. Danach kann der zur Dienstleistung Verpflichtete die Vergütung auch ohne Erbringung der Dienstleitung verlangen, wenn der D ienstberechtigte mit der Annahme der Dienste in Verzug war (oder das Betriebsrisiko trug). § 615 BGB ist keine Anspruchsgrundlage, sondern hält den Anspruch aus dem Dienstvertrag aufrecht („Behaltensregelung“; Schaub/Linck, Arbeitsrechtshandbuch, § 95 Rdnr. 3). Für eine Anwendung des § 615 BGB im vorliegenden Fall müsste L im Annahmeverzug gewesen sein.

aa) Nach § 293 BGB kommt der Arbeitgeber als Gläubiger der Arbeitsleistung in Annahmeverzug, wenn er die ihm angebotene Leistung nicht annimmt. L hat das Angebot des F, in den Monaten November und Dezember zu arbeiten, nicht angenommen.

bb) Der Gläubiger kommt nach § 297 BGB aber nicht in Verzug, wenn der Schuldner zur Zeit des Angebots nicht in der Lage ist, die Leistung zu bewirken, d. h. ihre Erbringung dem Schuldner (ursprünglich, d. h. bereits zu Beginn des Zeitabschnitts, für den die Arbeit geschuldet ist) unmöglich ist. Um die Arbeitsleistung als Pilot zu bewirken, ist die persönliche Leistungsfähigkeit dann nicht ausreichend, wenn Rechtsvorschriften die Erbringung der Leistung untersagen. Das ist bei F der Fall, wenn die in der EU-VO 1178 enthaltene Altersgrenze von 65 Jahren rechtswirksam ist. Denn dann durfte F nicht mehr wie bisher als Pilot bei der entgeltlichen Beförderung von Fluggästen oder Fracht eingesetzt werden. Dass er möglicherweise an anderer Stelle im Betrieb der L eingesetzt werden konnte, ist unerheblich. Dazu hätte es einer Vereinbarung zwischen F und L bedurft, zu deren Zustandekommen aber weder F noch L einen Versuch unternommen haben. Offenbar gab es für beide Parteien nur die Möglichkeiten, dass F entweder als Pilot wie bisher oder dass er gar nicht arbeitet. Ist die EU-VO 1178 dagegen nicht rechtswirksam, weil sie gegen Grundrechte verstößt, bleibt der Anspruch des F auf Gehaltszahlungen für die Monate November und Dezember bestehen, und der Einwand der L, F könne keine Gehaltszahlungen für November und Dezember verlangen, weil er in diesen Monaten nicht gearbeitet hat, ist unberechtigt.

Folglich hängt die Entscheidung des Arbeitsgerichtsprozesses von der Gültigkeit der EU-VO 1178 ab. Nach den vorangegangenen Überlegungen ist eine Entscheidung darüber erforderlich i. S. des Art. 267 II AEUV.

4. Gleichwohl besteht keine Vorlagepflicht, wenn der EuGH die Frage bereits entschieden hat (oder wenn im Falle des Art. 267 I a AEUV vernünftige Zweifel an der richtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht bestehen; Acte clair-Doctrin, EuGH Slg 1982, 3415; BVerwGE 97, 301, 310). Nach der Aufgabenstellung im Sachverhalt liegt bisher keine Entscheidung vor (so dass das hier behandelte EuGH-Urteil außer Betracht bleibt). Der EuGH hat allerdings über die Zulässigkeit einer Altersgrenze für Piloten bereits im Fall Prigge (NJW 2011, 3209) entschieden; dort ging es aber anders als im vorliegenden Fall um einen Tarifvertrag, der eine Altersgrenze von 60 Jahren enthielt, während außerhalb des Tarifrechts lediglich 65 Jahre als Altersgrenze galt; das hat der EuGH für europarechtswidrig erklärt.

II. Die Frage der Vorlageberechtigung oder -verpflichtung ist in Art. 267 II, III AEUV geregelt. Grundsätzlich darf jedes Gericht, wenn die Voraussetzungen des Art. 267 I AEUV vorliegen, die offene Frage dem EuGH vorlegen. Das BAG als letztinstanzliches deutsches Arbeitsgericht ist aber zur Vorlage verpflichtet (Art. 267 III AEUV). Außerdem besteht - über den Wortlaut des Art. 267 II AEUV hinaus -, soweit es um die Gültigkeit einer EU-VO geht, eine Vorlagepflicht eines jeden Gerichts wegen des Verwerfungsmonopols des EuGH.

III. Im Fall des Art. 267 AEUV genügt, dass das vorlegende Gericht, hier das BAG, eine Entscheidung der Frage der Gültigkeit der EU-VO für erforderlich hält; das wurde oben I bejaht. Nicht erforderlich ist, dass es - wie bei Art. 100 GG - von der Verfassungswidrigkeit bzw. Ungültigkeit der zu prüfenden Vorschrift überzeugt ist.

Somit ist Ergebnis zu Frage 1, dass über die Gültigkeit der EU-VO 1178 der EuGH zu entscheiden hat. Das BAG wird einen Beschluss fassen, durch den das arbeitsgerichtliche Verfahren ausgesetzt und die Frage nach der Gültigkeit der EU-VO 1178 dem EuGH durch Vorlagebeschluss vorgelegt wird. (Zu den vom BAG im Originalfall formulierten Fragen EuGH [26].)

Frage 2: Ungültigkeit der EU-VO 1178 wegen Verletzung von EU-Grundrechten

Die von F vertretene Rechtsauffassung trifft zu, wenn die EU-VO 1178 gegen ein Grundrecht der EU-GRCh verstößt. Dann ist im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 I b AEUV die VO für ungültig zu erklären.

I. Die Grundrechte der GRCh müssten anwendbar sein. Nach Art. 51 GRCh gilt die Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union (und für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union, z. B. bei der Umsetzung einer Richtlinie, Meyer/Borowsky, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2014, Vor Titel VII Rdnr. 24; Epiney NVwZ 2018, 779). Die EU-VO 1178 wurde laut Sachverhalt von den zuständigen Organen der EU erlassen. Diese waren bei Erlass der VO an die Grundrechte der GRCh gebunden (vgl. auch Art. 6 I EUV), so dass diese anwendbar sind.

II. Verstoß gegen Art. 21 GRCh

Die EU-VO 1178 könnte gegen das in Art. 21 GRCh enthaltene Verbot der Diskriminierung verstoßen. EuGH [29, 30] Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der in Art. 20 der Charta niedergelegt ist. Das Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 1 der Charta stellt eine besondere Ausprägung dieses Grundsatzes dar. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH verlangt dieser allgemeine Grundsatz, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 1. März 2011, Association belge des Consommateurs Test-Achats u. a., C‑236/09, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Art. 21 I GRCh verbietet grundsätzlich eine Diskriminierung wegen einer der in dieser Vorschrift aufgeführten Gründe. Dazu gehört eine Benachteiligung wegen des Alters. (Demgegenüber ist in Art. 3 III GG das Alter nicht als Diskriminierungsgrund aufgeführt.)

Zur nachfolgenden Prüfung: Die EU-Grundrechte sind ähnlich zu prüfen wie die Grundrechte des GG (Meyer/Borowsky a. a. O. Art. 52 Rdnr. 19 m. Nachw. auf die Rspr. des EuGH). Zu prüfen sind also Schutzbereich und Eingriff; im Falle eines Gleichheitsrechts eine Ungleichbehandlung bzw. Diskriminierung (dazu im Folgenden 1.); die grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeit nach Art. 52 I GRCh als Grundrechtsschranke (nachfolgend 2.); das Vorliegen eines Gesetzes (dazu 2 a); die Schranken-Schranken Wesensgehalt (2 b) und Verhältnismäßigkeit (2 c). Anders als nach deutschem Recht, in dem die Verletzung von Freiheitsrechten und Gleichheitsrechten unterschiedlich geprüft wird, ist Art. 52 GRCh unterschiedslos auf Freiheits- und Gleichheitsrechte anzuwenden (Ogorek JA 2018, 560).

1. Die Vorschriften der EU-VO 1178 versagen einem über 65 Jahre alten Inhaber einer Pilotenlizenz die weitere Tätigkeit als Pilot eines Flugzeugs bei der entgeltlichen Beförderung von Fluggästen oder Fracht und enthalten deshalb eine rechtliche Schlechterstellung. EuGH [33, 34] Somit ist festzustellen, dass diese Bestimmung eine Ungleichbehandlung wegen des Alters darstellt.

2. Die Ungleichbehandlung könnte aber gerechtfertigt sein. Grundlage für eine Einschränkung eines Grundrechts der GRCh ist Art. 52 I GRCh. Art. 52 GRCh ist eine für die Charta grundlegende Vorschrift (Meyer/Borowsky, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rdnr. 1); für sie gibt es im GG keine Parallelvorschrift.

a) Nach Art. 52 I 1 Fall 1 GRCh muss die Einschränkung gesetzlich vorgesehen sein. Förmliche Gesetze wie in der BRD gibt es in der EU nicht. In der EU ist die Verordnung (Art. 288 II AEUV) das Gesetz der EU (materieller Gesetzesbegriff, Meyer/Borowsky, a. a. O. Art. 52 Rdnr. 20 a). Die Regelung der EU-VO 1178 ist somit eine gesetzliche Regelung i. S. des Art. 52 I GRCh. EuGH [37] Es steht fest, dass das Verbot für Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein, als gesetzlich vorgesehene Einschränkung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta anzusehen ist, weil sie sich aus der EU-VO 1178 ergibt.

Als Rechtfertigung für eine Einschränkung muss sie auch formell rechtmäßig erlassen worden sein. Hierfür reicht die Feststellung im Sachverhalt, dass sie von den zuständigen Organen der EU erlassen wurde, nicht aus. Vielmehr muss die Union selbst zuständig sein. Nach Art. 100 II AEUV, einer Vorschrift im Kapitel Verkehr, können die zuständigen Organe der EU „Vorschriften für die Seeschifffahrt und die Luftfahrt“ erlassen. Daraus ergibt sich die Zuständigkeit der EU für Vorschriften über die persönliche Eignung bzw. Nichteignung von Piloten. Von einer Beachtung der Verfahrensvorschriften bei Erlass der VO kann ausgegangen werden.

b) Nach Art. 52 I 1 GRCh müssen Einschränkungen den Wesensgehalt der Rechte und Freiheiten achten. Insoweit errichtet die GRCh „eine absolut geschützte Kernzone, wonach grundlegende Bestandteile eines Rechts nicht völlig missachtet werden dürfen“ (Meyer/Borowsky, Art. 52 Rdnr. 23). EuGH [38] Des Weiteren achtet diese Einschränkung…den Wesensgehalt des Diskriminierungsverbots. Sie stellt diesen Grundsatz als solchen nicht in Frage, da es nur um die spezifische Frage der Beschränkung der Pilotenaufgaben im Hinblick auf die Sicherstellung der Flugsicherheit geht (…).

c) Nach Art. 52 I 2 GRCh müssen Einschränkungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren, müssen insbesondere erforderlich sein und Zielsetzungen des Gemeinwohls dienen oder dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer entsprechen. Dabei empfiehlt sich folgende Prüfungsfolge (Meyer/Borowsky a. a. O. Art. 52 Rdnrn. 21, 22 b):

aa) Die Regelung muss ein legitimes Ziel verfolgen. EuGH [41-43] Ziel der EU-VO 1178 ist die Schaffung und Aufrechterhaltung eines einheitlichen, hohen Sicherheitsniveaus der Zivilluftfahrt in Europa… Dazu hat der EuGH bereits entschieden, dass das Ziel der Gewährleistung der Flugsicherheit einen rechtmäßigen Zweck im Sinne dieser Bestimmungen darstellt …(…). Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass es sich beim Ziel der Schaffung und Aufrechterhaltung eines einheitlichen, hohen Sicherheitsniveaus der Zivilluftfahrt um eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung handelt.

bb) [44-47] Was die Geeignetheit dieser Bestimmung im Hinblick auf das verfolgte Ziel angeht, ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH, dass in Bezug auf die Flugsicherheit Maßnahmen, die auf die Vermeidung von Flugzeugunglücken durch Kontrolle der Tauglichkeit und körperlichen Fähigkeiten der Piloten abzielen, damit menschliche Schwächen nicht zur Ursache derartiger Unfälle werden, unbestreitbar Maßnahmen darstellen, die geeignet sind, die Sicherheit des Flugverkehrs zu gewährleisten (…). Des Weiteren hat der EuGH ausgeführt, dass es wesentlich ist, dass Verkehrspiloten über angemessene körperliche Fähigkeiten verfügen,…und dass diese Fähigkeiten mit zunehmendem Alter abnehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil Prigge, Rn. 67). So sind die Bestimmungen der EU-VO 1178, da mit ihnen ausgeschlossen werden kann, dass ein Abnehmen dieser körperlichen Fähigkeiten nach dem 65. Lebensjahr zur Unfallursache wird, geeignet, die verfolgte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung zu erreichen.

cc) Nach Art. 52 I 2 GRCh muss die Regelung erforderlich sein. EuGH [55, 56] Da die Piloten von Luftfahrzeugen in der Kette der Akteure der Luftfahrt ein wesentliches Glied darstellen, bleibt die Kompetenz dieser Spezialisten eine der Hauptgarantien für die Zuverlässigkeit und Sicherheit der Zivilluftfahrt. Vor diesem Hintergrund ist der Erlass von Maßnahmen, mit denen gewährleistet werden soll, dass nur die über die erforderlichen körperlichen Fähigkeiten verfügenden Personen Luftfahrzeuge fliegen dürfen, unerlässlich, um die Gefahr von Zwischenfällen aufgrund menschlichen Versagens auf ein Mindestmaß zu verringern.

Allerdings könnte es als milderes Mittel ausreichen, die geistigen und körperlichen Fähigkeiten eines Piloten im Einzelfall zu überprüfen, statt eine starre Altersgrenze einzuführen. EuGH [57-65] Was die Festlegung der Altersgrenze speziell auf 65 Jahre angeht, beanstandet Herr Fries diese Grenze und bringt u. a. vor, dass…sich der Rückgang der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit nicht mit Vollendung eines bestimmten Lebensalters einstelle, sondern von individuellen Faktoren, darunter der Lebensgeschichte, abhänge. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber über ein weites Ermessen im Hinblick auf komplexe Fragen medizinischer Art verfügt wie der, ob bei Personen, die ein bestimmtes Alter überschritten haben, besondere körperliche Fähigkeiten, die für die Ausübung des Berufs des Verkehrspiloten erforderlich sind, nicht vorhanden sind, und dass er bei Ungewissheiten bezüglich der Existenz oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit Schutzmaßnahmen treffen kann, ohne abwarten zu müssen, bis das Vorliegen und die Schwere dieser Risiken in vollem Umfang nachgewiesen sind… Der Unionsgesetzgeber ist berechtigt, angesichts wissenschaftlicher Ungewissheiten Maßnahmen den Vorzug zu geben, bei denen er sich sicher ist, dass sie ein hohes Maß an Sicherheit bieten… Demgegenüber würde eine bloß individuelle Prüfung nicht in gleichem Maße gewährleisten, dass diejenigen Piloten zuverlässig erkannt werden, die nicht mehr hinreichend leistungsfähig sind. Deshalb scheidet sie als milderes Mittel aus. Es bleibt bei der Erforderlichkeit der festen Altersgrenze.

dd) [66-68] Zudem ist zu betonen, dass die Altersgrenze nicht automatisch bewirkt, dass die Betroffenen gezwungen werden, endgültig aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden… Beispielswese kann der Betroffene Leer- und Überführungsflüge durchführen und als Ausbilder oder Prüfer tätig werden. Somit ist festzustellen, dass das Verbot für Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein, nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung erforderlich ist.

Folglich verstößt die Altersgrenze nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und ist i. S. der Art. 21, 52 I GRCh gerechtfertigt. Art. 21 GRCh ist nicht verletzt.

(Die Angemessenheit wird vom EuGH nicht gesondert geprüft, sondern mit der Prüfung der Erforderlichkeit verbunden, vgl. vorstehend dd) und im Urteil unter [44, 53, 78]; dazu auch Ogorek JA 2018, 560. Das entspricht der allgemeinen Regelung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Art. 5 IV EUV.)

III. Verstoß gegen Art. 15 GRCh

Die Altersgrenze der EU-VO 1178 könnte das Grundrecht des F auf Berufsfreiheit (Art. 15 I GRCh) verletzen. Nach Art. 15 I GRCh hat jede Person das Recht, einen frei gewählten Beruf auszuüben.

1. Es müsste ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts erfolgt sein.

a) Beruf ist jede Tätigkeit, die der Schaffung oder Erhaltung der Lebensgrundlage dient (Meyer/Bernsdorff, Charta der Grundrechte der EU, Art. 15 Rdnr. 13). Die Tätigkeit als Pilot ist die Ausübung eines Berufs.

b) EuGH [71] Vorliegend führt die Anwendung der EU-VO 1178 zu einer Beschränkung der Berufsfreiheit der Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, die darin besteht, dass sie vom Datum ihres 65. Geburtstags an ihren Beruf als Pilot im gewerblichen Luftverkehr nicht mehr ausüben können. Somit liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 15 I GRCh vor.

2. Der Eingriff könnte in Anwendung des Art. 52 I GRCh gerechtfertigt sein. Diese Prüfung verläuft bei Art. 15 GRCh weitgehend so wie bei Art. 21 GRCh oben II 2.

a) Das notwendige Gesetz ist die EU-VO 1178. EuGH [74] Wie bereits zu Art. 21 GRCh ausgeführt wurde, ist das Verbot für Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein, als gesetzlich vorgesehen im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta zu betrachten.

b) [75] Des Weiteren tastet die betreffende Einschränkung nicht den Wesensgehalt der Berufsfreiheit an, da sie die berufliche Tätigkeit der Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, lediglich bestimmten Einschränkungen unterwirft.

c) Die EU-VO 1178 verstößt auch nicht gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.

aa) [76] Im Hinblick auf das durch die streitige Maßnahme verfolgte Ziel wurde bereits festgestellt, dass mit der EU-VO die Schaffung und Aufrechterhaltung eines einheitlichen, hohen Sicherheitsniveaus der Zivilluftfahrt in Europa angestrebt wird, was eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung darstellt.

bb) [77] Weiterhin ergibt sich aus den Ausführungen des vorliegenden Urteils, dass die Maßnahme…geeignet ist, die dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung zu gewährleisten.

cc) Auch hinsichtlich der Erforderlichkeit kann auf die Ausführungen oben II 2 c cc) verwiesen werden. Insbesondere ist die feste Altersgrenze erforderlich, weil bei einer individuellen Prüfung nicht in gleichem Maße gewährleistet wäre, dass die Piloten zuverlässig erkannt werden, die nicht mehr leistungsfähig sind.

dd) [78, 79] Des Weiteren lässt die Gesamtheit der Erwägungen des vorliegenden Urteils den Schluss zu, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Bestimmung, deren Gültigkeit in Frage gestellt wird, die Anforderungen der Flugsicherheit gegen das individuelle Recht des Inhabers einer Pilotenlizenz, der älter als 65 Jahre ist, den gewählten Beruf auszuüben, in einer Weise abgewogen hat, die nicht die Feststellung zulässt, dass die Bestimmung außer Verhältnis zum verfolgten Ziel steht. Somit ist das Verbot gemäß der EU-VO 1178 für Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein, mit Art. 15 Abs. 1 der Charta vereinbar.

Ergebnis: Die EU-VO 1178 verletzt weder Art. 21 noch Art. 15 GRCh. Die von F vertretene Auffassung, eine starre, von der individuellen Leistungsfähigkeit des Piloten unabhängige Altersgrenze enthalte eine Grundrechtsverletzung, trifft nicht zu. Hat der EuGH im Vorlageverfahren in diesem Sinne entschieden, wird anschließend das BAG die Klage des F auf Gehaltszahlung, weil F nicht mehr zur Erbringung der Arbeitsleistung in der Lage und L nicht im Annahmeverzug war, abweisen.

Hinweis: Eine Altersgrenze in einer deutschen Rechtsnorm wäre nach Art. 12 I GG als subjektive Berufswahlregelung zu beurteilen und zulässig, wenn sie Voraussetzung für die ordnungsgemäße Ausübung des Berufs ist oder dem Schutz eines wichtigen Gemeinschaftsgutes dient. Danach hat auch das BVerfG eine Altersgrenze für Verkehrspiloten für verhältnismäßig und gerechtfertigt erklärt (2 BvR 2408/06), ebenso Altersgrenzen für Kassenärzte, Notare, Prüfingenieure und kommunale Wahlbeamte (Ogorek JA 2018, 559 m. Nachw.).

 

Zusammenfassung