Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz
► Warenverkehrsfreiheit, Art. 28 EG-Vertrag; Maßnahme gleicher Wirkung. ► Ausnahmen von der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 30 zum Zwecke des Gesundheitsschutzes. ► Verhältnismäßigkeit einer Ausnahme (Art. 5 III EG); Geeignetheit und Erforderlichkeit
EuGH Urteil vom 5. 6. 2007 (C-170/04) DVBl 2007, 894
Fall (Schwedisches Alkohol-Einfuhrverbot)
Der zur EU gehörende Staat S hat seit langem Maßnahmen gegen einen übermäßigen Alkoholkonsum getroffen. Dazu gehört zunächst eine Beschränkung der Werbung für Alkohol; sie wurde vom EuGH als für vereinbar mit dem EG-Vertrag erklärt (Slg. 2001, I-1795). Eine weitere Regelung enthält § 2 des Gesetzes über alkoholische Getränke (Alkoholgesetz). Danach ist in S ansässigen Privatpersonen - nicht erfasst werden gewerbliche Unternehmer, insbesondere solche aus dem Gaststättengewerbe - die Einfuhr alkoholischer Getränke untersagt, soweit sie den Transport nicht selbst durchführen. Die Befugnis zur Einfuhr wird einer Organisation (dem Systembolag, vom EuGH auch als „Monopol“ bezeichnet) übertragen. Das Monopol ist nach § 5 AlkoholG verpflichtet, eine Bestellung zur Einfuhr auszuführen und dem Besteller das Getränk auf seine Kosten zu beschaffen. Es darf die Bestellung aber ablehnen, wenn es das Getränk nicht in seinem Sortiment führt. Außerdem müssen bei der Bestellung und Bezahlung bestimmte Formalitäten und Bedingungen erfüllt werden, die das Urteil des EuGH unter Rdnr. 35 aufführt und die in der folgenden Lösung wiedergegeben werden (unter I 3b). Für Personen, die noch nicht 20 Jahre alt sind, darf das Sytembolag keinen Alkohol beschaffen. In einem Rechtsstreit vor dem obersten Gericht des Landes S kommt es auf die Vereinbarkeit des Alkoholgesetzes mit dem europäischen Recht an. Das Gericht hat diese Frage deshalb nach Art. 234 EG dem EuGH vorgelegt. Wie lautet dessen Entscheidung ?
Das AlkoholG könnte mit der die Warenverkehrsfreiheit gewährleistenden Vorschrift des Art. 28 EG unvereinbar sein. (Dazu, dass diese Vorschrift hier nicht von Art. 31 EG, der Vorschrift über Handelsmonopole, verdrängt wird, EuGH Rdnrn. 15 - 27.)
I. Art. 28 EG bestimmt, dass mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten sind.
1. EuGH Rdnr. 31: Der freie Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten ist ein elementarer Grundsatz des EG-Vertrags, der in dem Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie aller Maßnahmen gleicher Wirkung in Art. 28 EG seinen Ausdruck findet…
2. Hinsichtlich der Voraussetzungen des Art. 28 ist zunächst festzustellen, dass eine mengenmäßige Begrenzung in der Übertragung eines Einfuhrmonopols auf eine bestimmte Organisation nicht gesehen werden kann. Das gilt zunächst für den in § 5 AlkoholG geregelten Normalfall, in dem der Monopolinhaber auf Bestellung die Einfuhr von alkoholischen Getränken, die im Sortiment enthalten sind, ohne Begrenzung vornehmen muss. Aber auch wenn ein Getränk nicht im Sortiment enthalten ist, liegt keine mengenmäßige Begrenzung vor, sondern ein vollständiger Ausschluss des Privat-Imports.
3. Es könnte sich um eine Maßnahme gleicher Wirkung handeln. (Hierbei handelt es sich um die praktisch weit bedeutsamere Variante der beiden von Art. 28 erfassten Fälle.)
a) EuGH Rdnr. 32: Das in Art. 28 EG aufgestellte Verbot von Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen erfasst jede Regelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern (vgl. u. a. Urteile vom 11. 7. 1974, Dassonville, 8/74, Slg. 1974, 837 Rdnr. 5; vom 23. 9. 2003, Kommission/Dänemark, C-192/01, Slg. 2003, I-9693, Rdnr. 39; vom 2. 12. 2004, Kommission/Niederlande, C-41/02, Slg. 2004, I-11375, Rdnr. 39…).
b) EuGH Rdnr. 33: Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass die Bestimmung von § 5 des Alkoholgesetzes …dem Systembolag die Möglichkeit einräumt, die Bestellung eines Verbrauchers, die die Lieferung von Getränken betraf, die nicht in den vom Monopol angebotenen Sortiment enthalten waren und somit gegebenenfalls eingeführt werden mussten, abzulehnen. Unter diesen Umständen stellt das Verbot der unmittelbaren Einfuhr solcher Getränke nach Schweden, das für Privatpersonen besteht, die den Transport nicht persönlich durchführen, und das nicht durch eine uneingeschränkte Verpflichtung des Monopols zur Einfuhr der von den Betroffenen bestellten Getränke ausgeglichen wird, eine mengenmäßige Beschränkung dar. (Allerdings dürfte mit der „mengenmäßigen Beschränkung“ eine „Maßnahme gleicher Wirkung“ gemeint sein, wofür auch die folgenden Ausführungen sprechen, da diese keinerlei Bezug zu einer mengenmäßigen Begrenzung haben.)
Rdnr. 34, 35: Denn unabhängig von der in der vorhergehenden Rdnr. genannten Möglichkeit müssen die Verbraucher, wenn sie die Dienste des Systembolag in Anspruch nehmen, um sich mit alkoholischen Getränken zu versorgen, die eingeführt werden müssen, verschiedene Nachteile in Kauf nehmen… Sie müssen ein Bestellformular in einem Ladengeschäft des Monopols ausfüllen, später noch einmal zurückkommen, um die Bestellung zu unterschreiben… Die Bestellung wird außerdem nur angenommen, wenn die Einfuhr eine bestimmte Mindestmenge an Flaschen erfasst… Darüber hinaus umfasst bei jeder Einfuhr der vom Käufer verlangte Preis neben dem vom Lieferanten in Rechnung gestellten Preis der Getränke die Erstattung der vom Systembolag getragenen Verwaltungs- und Beförderungskosten sowie eine Spanne von 17 %…
Somit handelt es sich um eine Maßnahme gleicher Wirkung i. S. des Art. 28 EG, die die Warenverkehrsfreiheit beeinträchtigt (EuGH Rdnr. 36).
c) In seiner sonstigen Rspr. ( EuGH Slg. 1993, I-6097, Fall Keck) prüft der EuGH zusätzlich, ob eine für Art. 28 EG erforderliche Produktanforderung im Unterschied zur bloßen Verkaufsmodalität vorliegt. Im vorliegenden Fall spricht er diese Frage nicht an, allerdings ohne dass die Annahme gerechtfertigt wäre, dass er von dieser Voraussetzung abrückt. Prüft man diesen Aspekt, so lässt sich eine Produktanforderung nicht feststellen, sondern die Verpflichtung, alkoholische Getränke aus dem Ausland nur über das Monopol zu beziehen, kann nur als eine der Verkaufsmodalität ähnliche Erwerbsmodalität bezeichnet werden. Solche Modalitäten lässt der EuGH aber ebenfalls unter Art. 28 fallen, wenn sie sich gerade zum Nachteil ausländischer Anbieter auswirken, was hier der Fall ist. Somit lässt sich ein Handelshemmnis i. S. des Art. 28 EG nicht verneinen.
II. Das Handelshemmnis könnte jedoch nach Art. 30 Satz 1 EG gerechtfertigt sein.
1. EuGH Rdnr. 38: Maßnahmen, die mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen im Sinne von Art. 28 EG sind, können gemäß Art. 30 EG insbesondere aus Gründen des Schutzes der Gesundheit und des Lebens von Menschen gerechtfertigt sein.
a) Rdnr. 39: Es ist ständige Rechtsprechung, dass unter den in Art. 30 EG geschützten Gütern und Interessen die Gesundheit und das Leben von Menschen den ersten Rang einnehmen und es Sache der Mitgliedstaaten ist, in den durch den Vertrag gesetzten Grenzen zu bestimmen, auf welchem Niveau sie deren Schutz gewährleisten wollen (vgl. Urteil vom 11. 12. 2003, Deutscher Apothekerverband, Slg. 2003, I-14887, Rdnrn. 103 und die dort angeführte Rspr.).
b) Rdnr. 40: Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, liegen einer Regelung, die zum Ziel hat, den Alkoholkonsum in einer Weise zu beeinflussen, dass den schädlichen Auswirkungen alkoholhaltiger Stoffe auf die menschliche Gesundheit und die Gesellschaft vorgebeugt wird, und die so den Alkoholmissbrauch bekämpfen soll, die in Art. 30 EG anerkannten Belange des Gesundheitsschutzes …zugrunde (vgl. Urteil vom 28. 9. 2006, Ahokainen und Leppik, Slg. 2006, I-9171, Rdnr. 28). Somit liegen die Voraussetzungen des Art. 30 Satz 1 für eine Ausnahme vor.
2. Nach Art. 30 Satz 2 EG dürfen aber Ausnahmen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. EuGH Rdnr. 42: Hierzu ist festzustellen, dass dem Gerichtshof keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Gründe des Gesundheitsschutzes, die von den schwedischen Behörden …geltend gemacht werden, missbraucht und zur Diskriminierung von Waren aus anderen Mitgliedstaaten oder zum mittelbaren Schutz bestimmter nationaler Produktionen verwandt worden wären. Art. 30, 2 EG hindern also die Bejahung einer Ausnahme i. S. des Art. 30, 1 EG nicht.
3. Nach Art. 5 III EG dürfen Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane nicht über das für die Erreichung der Ziele des Vertrags erforderliche Maß hinausgehen. Sie müssen zunächst überhaupt geeignet sein, das verfolgte Ziel zu erreichen oder zu fördern, und müssen erforderlich/notwendig sein (EuGH Rdnr. 43, 50). Dabei handelt es sich um Aspekte des Prinzips der Verhältnismäßigkeit.
a) Der EuGH prüft diese Frage zunächst unter dem Aspekt, ob die im Alkoholgesetz getroffenen Maßnahmen allgemein, d. h. im Hinblick auf alle Personen, geeignet sind, den Alkoholkonsum zu beschränken.
EuGH Rdnr. 45 - 47: Zwar verringert das für Privatpersonen bestehende Verbot der unmittelbaren Einfuhr alkoholischer Getränke die Angebotsquellen für den Verbraucher und kann in gewissem Umfang dazu beitragen, den schädlichen Wirkungen dieser Getränke wegen der Beschaffungsschwierigkeiten vorzubeugen; doch bleibt dem Verbraucher gemäß § 5 des Alkoholgesetzes die Möglichkeit, diese Waren beim Systembolag zu bestellen. Anschließend prüft der EuGH, ob das Systembolag von einer gewissen Obergrenze ab die Lieferung ablehnen kann, kann das aber nicht feststellen. Wie bereits ausgeführt wurde (I 3b), muss sogar eine Mindestmenge an Flaschen bestellt werden, damit die Bestellung ausgeführt wird. Diese Regelung kann den Alkoholkonsum sogar begünstigen.
Daher erweist sich das für Privatpersonen bestehende Verbot der unmittelbaren Einfuhr alkoholischer Getränke als Mittel der Begünstigung eines Vertriebskanals für diese Waren, indem die Nachfrage nach Getränken, die eingeführt werden müssen, auf das Systembolag hingelenkt wird. Dagegen muss dieses Verbot zur Erreichung des Zwecks, nämlich der allgemeinen Beschränkung des Alkoholkonsums zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, als ungeeignet betrachtet werden, weil seine Auswirkungen in dieser Hinsicht eher beiläufig sind.
Als allgemeine Maßnahme gegen einen übermäßigen Alkoholkonsum kann die Regelung des Alkoholgesetzes deshalb nicht durch Art. 30, 1 EG gerechtfertigt werden.
b) Im Fall des EuGH hatte sich die schwedische Regierung weiterhin darauf berufen, dass das Systembolag keinen Alkohol an Personen unter 20 Jahren abgeben darf und dass dadurch Jugendliche vor den Gefahren des Alkoholkonsums geschützt würden. Zunächst stellt der EuGH unter Rdnr. 49 fest, dass die Regelung unter diesem Aspekt geeignet ist, weil sie den Erwerb von Alkohol durch Jugendliche deutlich erschwert. Weitere Frage ist, ob sie auch erforderlich ist.
aa) EuGH Rdnr. 50: Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Einfuhrverbot gilt jedoch unabhängig vom Alter. Daher geht es offensichtlich über das hinaus, was im Hinblick auf das angestrebte Ziel des Schutzes der Jugend gegen die schädlichen Folgen des Alkoholkonsums notwendig ist.
bb) Abgesehen davon ist das eingerichtete System allein zum Zwecke einer Alterskontrolle nicht notwendig. Einerseits ist eine Alterskontrolle auch durch das Systembolag nicht vollständig gewährleistet, weil die bestellten Getränke auch auf dem Postweg zugesandt werden (EuGH Rdnr. 53). Andererseits wäre eine Alterskontrolle auch auf einfachere Weise durch jede Alkohol abgebende Stelle möglich. EuGH Rdnr. 56: Hierzu trägt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, in diesem Punkt unwidersprochen, vor, dass die Alterskontrolle mittels einer Erklärung durchgeführt werden könnte, mit der der Empfänger der eingeführten Getränke auf einem Formblatt, das die Waren zum Zeitpunkt ihrer Einfuhr begleitet, bestätigt, dass er mindestens 20 Jahre ist. Die Informationen, über die der Gerichtshof verfügt, erlauben keineswegs die Annahme, dass eine solche Regelung, verbunden mit geeigneten strafrechtlichen Sanktionen im Fall ihrer Verletzung, notwendigerweise weniger wirksam wäre als das vom Systembolag abgewandte System.
cc) EuGH Rdnr. 57: Somit ist nicht nachgewiesen, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verbot ein verhältnismäßiges Mittel ist, um das Ziel des Schutzes der Jugend gegen die schädlichen Auswirkungen des Alkoholkonsums zu erreichen.
Ergebnis zu 3. und Gesamtergebnis: Die Regelung des Alkoholgesetzes verstößt gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 III EG), kann nicht durch Art. 30, 1 EG gerechtfertigt werden und verletzt deshalb die durch Art. 28 EG geschützte Warenverkehrsfreiheit. Das AlkoholG des Staates S ist mit Art. 28 EG nicht vereinbar.
Zusammenfassung
- da sie ungeeignet ist, das Ziel der allgemeinen Beschränkung des Alkoholkonsums zu erreichen, und - kein verhältnismäßiges Mittel ist, um das Ziel des Schutzes der Jugend gegen die schädlichen Auswirkungen des Alkoholkonsums zu verwirklichen. |