Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen, Art. 141 EG-Vertrag. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung; Anwendung auf teilzeitbeschäftigte Beamtin

EuGH
Urteil vom 6. 12. 2007 (C-300/06) NJW 2008, 499 (Fall Voß)

Fall
(Teilzeitbeschäftigte Lehrerin)

Nach der im Lande L geltenden „Verordnung über die Vergütung von Mehrarbeit der Beamten“ (MVergVO) wird Mehrarbeit mit einem geringeren Stundensatz bezahlt als die Arbeit während der regulären Arbeitszeit. Mehrarbeit ist die Arbeit, die über die Arbeitszeit hinausgeht, zu der der Beamte oder die Beamtin individuell verpflichtet ist. Frau F ist beamtete Lehrerin und hat eine Teilzeitstelle, wobei ihre Lehrverpflichtung wöchentlich 23 Stunden beträgt. Die Unterrichtsverpflichtung einer in Vollzeit beschäftigten Lehrkraft beträgt 26, 5 Stunden. Wegen Lehrermangels an ihrer Schule leistet F wöchentlich 3, 5 Überstunden. Hierfür erhält sie die in der MVergVO vorgesehene Mehrarbeitsvergütung von 28 € pro Stunde. F verweist darauf, dass bei einem in Vollzeit beschäftigten Lehrer auf eine Stunde, die er während seiner regulären Arbeitszeit leistet, ein Betrag von 33 € entfällt. Dies bedeute eine Benachteiligung der Frauen, weil diese 88 % der Teilzeitbeschäftigten stellen. F verlangt für ihre 3, 5 Überstunden wöchentlich ebenfalls 33 € pro Stunde und hat eine darauf gerichtete Klage vor den Verwaltungsgerichten erhoben. Das BVerwG beabsichtigt, der Klage stattzugeben, falls die Regelung der MVergVO gegen europäisches Recht verstößt. Es hat diese Frage deshalb gemäß Art. 234 EG-Vertrag als Vorabentscheidungsersuchen dem EuGH vorgelegt. Wie wird dieser entscheiden ?

Die Regelung der MVergVO könnte gegen Art. 141 II 2 b) EG verstoßen. Art. 141 EG lautet:

(1) Jeder Mitgliedstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher.
(2) Unter ‚Entgelt‘ im Sinne dieses Artikels sind die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt.
Gleichheit des Arbeitsentgelts ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bedeutet,

a) dass das Entgelt für eine gleiche nach Akkord bezahlte Arbeit aufgrund der gleichen Maßeinheit festgesetzt wird,
b) dass für eine nach Zeit bezahlte Arbeit das Entgelt bei gleichem Arbeitsplatz gleich ist.

I. Art. 141 betrifft das Arbeitsentgelt im Verhältnis von Männern und Frauen. ist also kein allgemeiner, sondern ein spezieller Gleichheitssatz. Er ist aber nicht, wie die Grundfreiheiten, auf grenzüberschreitende Rechtsverhältnisse beschränkt, sondern gilt, wie sein Wortlaut eindeutig zeigt, generell, also auch für Rechtsverhältnisse innerhalb eines Staates. Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschrift sind auch der Staat und dessen Beamtinnen und Beamte. Die Anwendbarkeit dieser Vorschrift im vorliegenden Fall unterliegt somit keiner Beschränkung.

EuGH Rdnr. 24: Insoweit ist daran zu erinnern, dass Artikel 141 EG den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit aufstellt. Dieser Grundsatz gehört zu den Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft (vgl. EuGH Slg. 1976, 455, Defrenne, Rdnr. 12).

II. Voraussetzung ist eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen im Hinblick auf das Arbeitsentgelt bei gleicher Arbeit. Eine derartige Ungleichbehandlung wird üblicherweise als Diskriminierung bezeichnet. Daran knüpft die Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung an. Diese gibt es nicht nur im Anwendungsbereich des Art. 141, sondern generell bei allen Gleichheitsgeboten des EU-Rechts und auch im deutschen Recht (u. a. im Anwendungsbereich des Art. 3 II, III GG).

1. Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn unterschiedliche (Entgelt-)Regelungen ihre Anwendbarkeit ausdrücklich davon abhängig machen, ob ein Mann oder eine Frau von der Regelung betroffen ist. In der MVergVO wird aber an keiner Stelle eine Bezahlung davon abhängig gemacht, ob ein Mann oder eine Frau die Mehrarbeit leistet. Die unterschiedliche Bezahlung hängt allein davon ab, ob die individuelle Arbeitszeit eingehalten oder überschritten wird, was bei Männern und Frauen möglich ist und auch tatsächlich vorkommt. Eine unmittelbare Diskriminierung liegt somit nicht vor.

2. Es kommt deshalb nur eine mittelbare Diskriminierung in Betracht. Sie hat zur Voraussetzung, dass formal neutral gefasste Vorschriften, Kriterien oder Verfahren einen wesentlich höheren Anteil der Angehörigen eines Geschlechts benachteiligen.

EuGH Rdnr. 25: Der Grundsatz des gleichen Entgelts steht nicht nur der Anwendung von Vorschriften entgegen, die unmittelbare Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts enthalten, sondern auch der Anwendung von Vorschriften, die Ungleichbehandlungen von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern aufgrund von Kriterien aufrechterhalten, die nicht auf dem Geschlecht beruhen, sofern sich diese Ungleichbehandlungen nicht mit objektiv gerechtfertigten Faktoren erklären lassen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (EuGH Slg. 1986, 1607 Rdnrn. 29, 30, Bilka-Kaufhaus; Slg.1994, I-5727 Rdnr. 20, Helmig u. a.; Slg. 2004, I-5861 Rdnr. 12, Elsner-Lakeberg).

Rdnr. 26: In Bezug auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung steht fest, dass sie keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts enthält. Daher ist zu prüfen, ob eine solche Regelung möglicherweise eine mit Art. 141 EG unvereinbare mittelbare Diskriminierung zur Folge hat.

a) Auch in diesem Fall ist zunächst eine Ungleichbehandlung erforderlich. Ungleich behandelt werden könnten im vorliegenden Fall teilzeitbeschäftigte und vollzeitbeschäftigte Lehrer. Bei der Bezahlung wird davon ausgegangen, dass alle Lehrer derselben Schulform sowohl in ihrer regulären Arbeitszeit als auch bei einer Mehrarbeit (bei Überstunden) die gleiche Arbeit leisten. Ungleich ist aber die Bezahlung der Stunden, die über die individuelle Arbeitszeit der Teilzeitbeschäftigten hinausgehen, sich aber noch im Rahmen der Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten halten. Das lässt sich am vorliegenden Fall wie folgt zeigen: Ein vollzeitbeschäftigter Lehrer erhält für jede Arbeitsstunde 33 €, also auch für die letzten 3, 5 Stunden bis zur Pflichtstundenzahl von 26, 5 Stunden (beginnend mit der 24. Stunde und endend nach 26,5 Stunden). Die teilzeitbeschäftigte F erhält für die gleichen 3, 5 Stunden, weil diese über ihre individuelle Arbeitszeit hinausgehen, nur 28 € pro Stunde. Sie wird also insoweit benachteiligt.

EuGH Rdnr. 29: In diesem Zusammenhang liegt eine Ungleichbehandlung immer dann vor, wenn bei gleicher Arbeit und gleicher Anzahl Stunden, die aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden, die Vollzeitbeschäftigten gezahlte Vergütung höher ist als die Teilzeitbeschäftigten gezahlte (Urteil Helmig u. a., Rdnr. 26).

Vgl. auch den Fall Elsner-Lakeberg, dazu EuGH Rdnr. 33: In dieser Rechtssache hatte Frau Elsner-Lakeberg, eine Lehrerin, 15 Unterrichtsstunden pro Woche geleistet, während vollzeitbeschäftigte Lehrer 24,5 Stunden wöchentlich unterrichteten. Frau Elsner-Lakeberg hatte in einem Monat 2,5 Unterrichtsstunden Mehrarbeit geleistet. Für diese Mehrarbeit konnte sie keine Vergütung beanspruchen. Sie wurde daher nur für 15 Unterrichtsstunden vergütet, obwohl sie 17,5 Stunden geleistet hatte. Ein vollzeitbeschäftigter Lehrer hingegen, der 17,5 Unterrichtsstunden geleistet hätte, wäre für 17,5 Unterrichtsstunden vergütet worden, da er seine individuelle Wochenarbeitszeit nicht überschritten hätte. Der Gerichtshof hat entschieden, dass sich daraus eine Ungleichbehandlung hinsichtlich der Vergütung ergebe, da Teilzeitbeschäftigte für die gleiche Zahl geleisteter Unterrichtsstunden schlechter vergütet würden als Vollzeitbeschäftigte.

Zum vorliegenden Fall EuGH Rdnr. 34: Im Ausgangsverfahren geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass Frau Voß, die in Teilzeitbeschäftigung tätig ist, für die Stunden, die sie über ihre individuelle Arbeitszeit hinaus bis zur Regelarbeitszeit bei Vollzeitbeschäftigung erbracht hat, eine Vergütung erhält, die bei gleicher Anzahl geleisteter Stunden niedriger ist als die eines vollzeitbeschäftigten Lehrers.

Eine Ungleichbehandlung liegt somit vor.

b) Die benachteiligende Ungleichbehandlung wird zur Diskriminierung der Frauen, wenn von ihr wesentlich mehr Frauen als Männer betroffen sind. Das folgt im vorliegenden Fall daraus, dass 88 % der Teilzeitbeschäftigten Frauen sind. Der Bereich der Teilzeitbeschäftigung ist deshalb der Hauptanwendungsbereich der Grundsätze über die mittelbare Diskriminierung. Auch im vorliegenden Fall ist eine mittelbare Diskriminierung gegeben.

III. Allerdings liegt eine Verletzung des Art. 141 EG gleichwohl nicht vor, wenn die unterschiedliche Regelung durch sachliche Gründe, die nicht auf das Geschlecht bezogen sind, gerechtfertigt ist. Dazu stellt der EuGH unter Rdnr. 43 lediglich fest: Im Ausgangsverfahren ist dem Vorlagebeschluss nicht zu entnehmen, dass die niedrigere Vergütung für von Teilzeitbeschäftigten geleistete Mehrarbeit auf Faktoren beruhte, die durch Gründe, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, sachlich gerechtfertigt wäre. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, diesen Punkt zu prüfen. Im vorliegenden Fall lässt der Sachverhalt keine sachlichen Gründe erkennen, die es rechtfertigen könnten, dass Mehrarbeit von Teilzeitbeschäftigten niedriger bezahlt werden müsste. Allein das Motiv, Kosten zu sparen, ist kein hinreichender Grund dafür, um gerade Frauen zu benachteiligen.

IV. Somit handelt es sich um eine gegen Art. 141 II 2 b EG verstoßende mittelbare Diskriminierung teilzeitbeschäftigter Frauen, zu denen F gehört. Wegen der unmittelbaren Geltung des Art. 141 EG im nationalen deutschen Recht wäre das BVerwG nach Entscheidung der Vorlagefrage durch den EuGH berechtigt, der Klage der F auf Zahlung von zusätzlichen 5 € pro geleistete Arbeitsstunde stattzugeben.


Zusammenfassung