Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Anfechtungsklage oder Fortsetzungsfeststellungsklage; Erledigung des VA. ► Feststellungsinteresse i. S. des § 113 I 4 VwGO. ► Polizeirechtliche Sicherstellung; Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr; Leistungsbescheid auf Kostenersatz. ► Verhältnis zwischen polizeilichen Präventivmaßnahmen im Straßenverkehr zum Mehrfachtäter-Punktesystem nach § 4 StVG
BayVGH Urteil vom 26. 1. 2009 - 10 BV 08.1422-
Fall (Hardcore-Raser am Kesselberg)
Im Lande L führt die Bundesstraße 11 über einen Pass, den Kesselberg. Die auf den Pass und wieder hinunter führenden Serpentinen ziehen regelmäßig Motorradfahrer an, die dort so schnell fahren, dass es immer wieder zu Unfällen kommt. Weder Geschwindigkeitsbeschränkungen und -kontrollen noch eine offene Polizeipräsenz mit Anzeigen und anschließenden Verfahren haben zu einer Entschärfung der Lage geführt. Nachdem es innerhalb eines Jahres zu dreißig Unfällen mit drei Toten und einer Reihe von Verletzten gekommen war, entschloss sich das zuständige Polizeipräsidium im Einvernehmen mit dem Innenministerium zu einem härteren Vorgehen. Es erließ eine „Grundsatzweisung“, die auch in der Motorradszene bekannt gemacht wurde. Danach sollten Motorräder von sog. Hardcore-Rasern bei einer einmaligen Geschwindigkeitsüberschreitung von mehr als 40 km/h und bei einer zweimaligen Überschreitung von mehr als 25 km/h innerhalb eines Jahres sichergestellt, abgeschleppt und bis zum nächsten Morgen, an Wochenenden bis zum Montagmorgen, verwahrt werden.
Der im Lande L wohnende K, der die Strecke über den Kesselberg öfters befuhr, war am Freitag, den 24. 8., mit seinem Motorrad der Marke Suzuki unterwegs. Er wurde zunächst in einer Ortsdurchfahrt wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 12 km/h von der Polizei angehalten und mit einem Verwarnungsgeld von 25 Euro belegt. Später fuhr er auf der B 11 Richtung Kesselberg, wo bei einer Radarkontrolle eine Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um 42 km/h gemessen wurde. Die kontrollierenden Polizeibeamten ordneten, nachdem sie K zur Rede gestellt und auf die Grundsatzweisung hingewiesen hatten, die Sicherstellung des Motorrads an und ließen dieses zur Verwahrstelle bringen. Noch an Ort und Stelle wiesen die Beamten K darauf hin, dass er außerdem wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit mit einem Bußgeld in Höhe von 100 Euro, mit einer Eintragung von drei Punkten in Flensburg und mit einem einmonatigen Fahrverbot zu rechnen habe. Als K am Montagmorgen, den 27. 8., an der Verwahrstelle erschien, wurde ihm ein Leistungsbescheid über 277,42 Euro (232,42 Auslagen und 45, 00 Gebühren) übergeben. Nach dessen Begleichung erhielt er das Motorrad zurück.
K hält das Vorgehen der Polizei für eine verdeckte Bestrafung und hat gegen die Maßnahmen Widerspruch erhoben. In diesem versichert er, künftig die Geschwindigkeitsbegrenzungen einzuhalten. Der Widerspruch wurde unter Hinweis darauf, dass im Land L das Widerspruchsverfahren abgeschafft ist, als unzulässig zurückgewiesen. Nunmehr will K den Klageweg beschreiten. Hätte eine verwaltungsgerichtliche Klage gegen die Maßnahmen der Polizei Aussicht auf Erfolg ?
Hinweise für die Bearbeitung: Das Polizeigesetz des Landes L enthält folgende Vorschriften:
§ 25. Die Polizei kann eine Sache sicherstellen, 1. um eine gegenwärtige Gefahr abzuwehren, 2.…
§ 26. Sichergestellte Sachen sind in Verwahrung zu nehmen…
§ 28. Die Kosten der Sicherstellung fallen dem Verantwortlichen zur Last.
Derartige Vorschriften gibt es in allen Bundesländern (z. B. in NRW §§ 43 Nr. 1, 44 I 1, 46 III 1 PolG NRW). In BaWü und Sachsen wird zwischen der im Interesse des Betroffenen erfolgenden Sicherstellung und einer Beschlagnahme unterschieden, so dass es sich im vorliegenden Fall um eine Beschlagnahme handelt.
1. Teil. Klage des K gegen die Sicherstellung und das Abschleppen des Motorrads
A. Zulässigkeit einer verwaltungsgerichtlichen Klage
I. Es müsste der Verwaltungsrechtsweg gemäß § 40 I VwGO gegeben sein. Eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit liegt vor, wenn die streitentscheidenden Vorschriften zum öffentlichen Recht gehören. Die Maßnahmen der Polizei, gegen die K sich wendet, sind auf das Polizeigesetz gestützt. Dieses ist öffentlich-rechtlicher Natur und begründet den öffentlich-rechtlichen Charakter der Streitigkeit. Somit handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, die nichtverfassungsrechtlicher Art und keinem anderen Gericht zugewiesen ist. Der Verwaltungsrechtsweg ist zulässig.
II. Es ist die Klageart zu bestimmen. Sie richtet sich nach dem Klagebegehren.
1. K wendet sich gegen die Sicherstellung des Motorrads. Die Sicherstellungsanordnung enthält das Gebot, das Motorrad herauszugeben und dessen Verwahrung durch die Behörde zu dulden. Darin liegt die hoheitliche Regelung eines Einzelfalls, die die Begriffsmerkmale eines Verwaltungsakts (§ 35, 1 VwVfG) erfüllt. Mit dieser Begründung lässt sich eine Anfechtungsklage i. S. des § 42 I VwGO bejahen.
2. Der BayVGH hat außerdem einen Klageantrag angenommen, der sich gegen das Abschleppen als Realakt richtet. Jedoch soll das Abschleppen die Verwahrung vorbereiten, die nach § 26 PolG die Folge der Sicherstellung ist und deshalb untrennbar mit der Sicherstellung verbunden ist. Gerade im vorliegenden Fall war die Sicherstellung von vornherein mit der Zielsetzung erfolgt, dem Betroffenen das Motorrad für die Zeit bis Montagmorgen zu entziehen. Es besteht deshalb kein Grund dafür, das Abschleppen zum Gegenstand eines eigenständigen Klageantrags zu machen. Ausreichend ist, die Klage gegen die Anordnung der Sicherstellung zu richten.
3. Eine Anfechtungsklage gegen die Sicherstellung wäre allerdings nicht mehr zulässig, wenn sich der VA der Sicherstellung erledigt hätte. Dann käme nur noch eine Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 I 4 VwGO in Betracht.
a) Die am 24. 8. ausgesprochene Sicherstellung hat sich, soweit sie ein Gebot zur Herausgabe des Motorrads und zur Duldung der Verwahrung enthielt, dadurch erledigt, dass dem K das Motorrad am 27. 8. wieder zurückgegeben worden ist. Denn danach hatte die Sicherstellung ihre rechtliche Bedeutung als Herausgabe- und Duldungsgebot verloren. In diesem Sinne hat der BayVGH ausgeführt: Hinsichtlich der Sicherstellungsanordnung ist eine Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. Zwar hat sich der Verwaltungsakt der Sicherstellung vom 24. August 2007 spätestens mit der Freigabe des Motorrads am 27. August 2007 erledigt. Es ist jedoch anerkannt, dass analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO eine Fortsetzungsfeststellungsklage erhoben werden kann, wenn sich der Verwaltungsakt – wie hier – erledigt hat und wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der nachträglichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts hat.
b) Nach überwiegender Rechtsprechung erledigt sich ein VA aber nicht, wenn er noch Grundlage für einen Kostenersatz sein kann (BVerwG NVwZ 2009, 122; OVG Koblenz NVwZ 1997, 1009; OVG Münster NWVBl 2007, 26). Er behält dann seinen Regelungsgehalt als Rechtsgrundlage für die Forderung auf Kostenersatz und kann insoweit aufgrund einer Anfechtungsklage aufgehoben werden. Diese Überlegung ist begrifflich überzeugender und entspricht auch stärker praktischen Erfordernissen. Danach ist im vorliegenden Fall eine (vollständige) Erledigung der Sicherstellungsanordnung nicht eingetreten, die Anfechtungsklage gegen die Sicherstellungsanordnung bleibt die richtige Klageart.
III. Die Anfechtungsklage erfüllt auch die weiteren Sachentscheidungsvoraussetzungen:
1. K ist klagebefugt (§ 42 II VwGO), da er geltend machen kann, durch die Sicherstellung in seinem Eigentumsrecht (Art. 14 GG) verletzt zu sein.
2. Ein Widerspruchsverfahren ist laut Sachverhalt im Lande L nicht mehr vorgesehen (§ 68 I 2 1. Satzteil VwGO).
3. Da bei der Anordnung der Sicherstellung keine schriftliche Rechtsbehelfsbelehrung erteilt wurde, lief nur die Jahresfrist für die Klage (§ 58 II VwGO), die nicht abgelaufen ist.
4. Richtiger Klagegegner ist das Land L als Träger der Polizei (§ 78 I Nr. 1 VwGO) oder - bei entsprechendem Landesrecht - das Polizeipräsidium als Behörde (§ 78 I Nr. 2 VwGO).
IV. Die Klage wäre aber auch zulässig, wenn mit dem BayVGH (oben II 3a) von einer Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 I 4 VwGO auszugehen wäre. Das dann zusätzlich zu prüfende Feststellungsinteresse (§ 113 I 4 VwGO) liegt vor.
1. Allerdings scheidet eine Wiederholungsgefahr zur Begründung des Feststellungsinteresses aus. Denn sie müsste gerade im Fall des Klägers bestehen, und K hat ausdrücklich erklärt, dass er künftig keine Geschwindigkeitsübertretungen mehr begehen will.
2. Der BayVGH bejaht das Feststellungsinteresse mit einem dem K zuerkannten Rehabilitationsinteresse, weil die Sicherstellung des Motorrads im vorliegenden Fall - anders als in sonstigen Abschleppfällen - eine diskriminierende Wirkung gehabt hat. Mit der Sicherstellung des Motorrads ist der Kläger von der Polizei der Gruppe der besonders gefährlichen „Hardcore-Raser“ zugerechnet worden… Im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG besteht bei sich regelmäßig kurzfristig erledigenden Polizeimaßnahmen ein Rehabilitationsinteresse schon dann, wenn ein besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff festzustellen ist (vgl. BVerfG NVwZ 1999, 290). Im vorliegenden Fall liegt in der Wegnahme des Fahrzeugs ein erheblicher und schwerer Eingriff in das Eigentumsrecht des Klägers (Art. 14 Abs. 1 GG). Daher besteht ein berechtigtes Interesse an der nachträglichen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der Sicherstellung. Der Kläger kann auch nicht darauf verwiesen werden, dass eine solche Überprüfung im Rahmen der gegen den Kostenbescheid gerichteten Anfechtungsklage inzident stattfinden kann. Weil in diesem Verfahren eine ausdrückliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Polizeimaßnahme nicht erfolgen kann, trägt diese Klagemöglichkeit dem Genugtuungsinteresse des Klägers nicht ausreichend Rechnung (vgl. BVerwG NJW 1997, 2534).
V. Die Klage ist somit als Anfechtungsklage oder, wenn mit dem BayVGH eine Erledigung der Sicherstellung angenommen wird, als Klage analog § 113 I 4 VwGO zulässig.
B. Für die Begründetheit der Anfechtungsklage ist gemäß § 113 I 1 VwGO erforderlich, dass die Sicherstellung rechtswidrig war (Gleiches gilt im Falle einer Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 I 4 VwGO.)
I. Als anwendbare Ermächtigung kommt § 25 Nr. 1 PolG des Landes L in Betracht. Diese Vorschrift darf aber nur dann herangezogen werden, wenn die Polizei zur Gefahrenabwehr (präventiv) und nicht, wie K geltend macht, zu Zwecken einer Bestrafung (repressiv) gehandelt hat.
Dazu BayVGH: Die Abgrenzung repressiver von präventiven Maßnahmen ist allerdings nicht immer einfach. Zum einen dienen auch Strafen und Bußgelder nicht allein der Ahndung begangenen Unrechts, sondern zugleich der spezialpräventiven Einwirkung auf den Täter und der generalpräventiven Abschreckung Dritter. Zum anderen kann auch eine der Gefahrenabwehr dienende Sicherstellung von dem Betroffenen als Strafe empfunden werden. Die Abgrenzung zwischen präventiven und repressiven Maßnahmen kann sich darum nur daran orientieren, ob objektiv betrachtet das Schwergewicht einer Maßnahme im präventiven oder im repressiven Bereich liegt (vgl. Geppert, Polizeiliche Sicherstellungen von Kraftfahrzeugen im Rahmen der Verkehrsüberwachung? DAR 1988, 12/13).
Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass die Sicherstellung des klägerischen Motorrads schwerpunktmäßig präventiven Charakter gehabt hat. Auch wenn der Entzug des Fahrzeugs nach den in der Weisung aufgestellten Grundsätzen ähnlich wie eine Strafe primär an vergangenes Fehlverhalten anknüpft, spricht schon der vergleichsweise kurze Entzug des Kraftrads eher gegen eine das Handlungsunrecht abgeltende Nebenstrafe. Die Entstehungsgeschichte der Grundsatzweisung des Polizeipräsidiums, ihr erkennbarer Hauptzweck und die gezielte Kontrolle der Motorradfahrer durch die Verkehrspolizei legen vielmehr die Annahme nahe, dass es hauptsächlich um die Entschärfung des Unfallschwerpunkts am Kesselberg ging. Der kurzzeitige Entzug des Motorrads sollte vorrangig eine erzieherische und abschreckende Wirkung haben, dadurch weitere Motorrad-Unfälle am Kesselberg verhindern und damit vorbeugend Gefahren für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer bekämpfen. Daher liegt im vorliegenden Fall wie bei vergleichbaren Sicherstellungen der Schwerpunkt der Maßnahme im präventiven Bereich (folgen Nachweise u. a. auf Rachor in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, RdNr. 743).
II. In formeller Hinsicht bestehen keine Bedenken gegen die Sicherstellung: Die Polizeibehörde, für die die Polizeibeamten gehandelt haben, war zuständig. K wurde zur Rede gestellt, mithin angehört. Die Sicherstellung konnte mündlich erfolgen und bedurfte keiner weiteren Begründung.
III. In materieller Hinsicht sind die Voraussetzungen des § 25 Nr. 1 PolG zu prüfen. Es müsste eine gegenwärtige Gefahr vorgelegen haben.
1. Hierfür kann an die Ausführungen des BayVGH oben unter I, vor II, angeknüpft werden. Danach konnte sich jederzeit die Gefahr verwirklichen, dass - wie in der Vergangenheit immer wieder - ein Unfall durch zu schnelles Fahren eintrat und dadurch Gefahren für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer heraufbeschworen wurden. Diese Gefahren gingen von jedem zu schnell fahrenden Motorradfahrer aus, somit auch von K im Zeitpunkt der Radarkontrolle, bei der die erhebliche Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit festgestellt wurde. Mit der vorstehend beschriebenen Begründung lässt sich eine gegenwärtige Gefahr bejahen. Dass die polizeilichen Maßnahmen diesem Zweck dienten und hierfür geeignet waren, konnte im Originalfall auch noch damit belegt werden, dass die polizeilichen Maßnahmen zu einem deutlichen Rückgang der Unfälle geführt hatten.
2. Gleichwohl hat der BayVGH eine durch die Wegnahme des Motorrads zu bekämpfende Gefahr verneint.
a) Zur Bekämpfung der im Allgemeinen von „Verkehrssündern“ ausgehenden Gefahr erneuter Verkehrsverstöße hat der Bundesgesetzgeber nicht nur rein repressive Sanktionen in Form von Bußgeldern und Fahrverboten (§§ 24, 25 StVG), sondern auch einen Katalog präventiver Maßnahmen in § 4 StVG vorgesehen. Durch das sog. Punktesystem, das bei wiederholten Verstößen zum Entzug der Fahrerlaubnis führen kann, durch das Angebot von sog. Aufbauseminaren und verkehrspsychologischen Beratungen wird vom Bundesgesetzgeber ein – wie dem Wortlaut des § 4 Abs. 1 Satz 1 StVG klar zu entnehmen ist – präventives System zum Schutz vor Gefahren, die von wiederholt gegen Verkehrsvorschriften verstoßenden Fahrzeugführern und -haltern ausgehen, bereitgestellt. Dieses Regelungssystem knüpft an die abstrakt bestehende Wiederholungsgefahr an, ohne dass die Gefahr im Einzelfall konkret belegt werden müsste oder widerlegt werden könnte…Es stellt eine geeignete und verhältnismäßige Regelung zur Bekämpfung der von „Verkehrssündern“ im Allgemeinen ausgehenden Wiederholungsgefahr dar.
b) Die Vorschrift des Art. 25 Nr. 1 PAG [= § 25 PolG des Landes L ] über die Sicherstellung von Sachen knüpft hingegen an eine konkrete und gegenwärtige Gefahr an, setzt also für eine Sicherstellung von Fahrzeugen eine im Einzelfall bestehende Gefahr eines in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang drohenden Verkehrsverstoßes voraus. An dieser konkreten Gefahr fehlt es im vorliegenden Fall. Eine solche Gefahr besteht nur dann, wenn nach der allgemeinen Lebenserfahrung aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in der nächsten Zeit eine Störung der öffentlichen Sicherheit zu erwarten ist (vgl. Schmidbauer/Steiner, a.a.O., RdNrn. 21 ff, 42 zu Art. 11 PAG). Eine solche Prognoseentscheidung im Einzelfall kann nicht – wie in der Weisung des Polizeipräsidiums vorgesehen – schematisch an die Höhe einer einmaligen oder zweimaligen Geschwindigkeitsübertretung geknüpft werden. Denn es gibt keinen Erfahrungssatz, dass ein von der Polizei ertappter „Verkehrssünder“ sich generell unbelehrbar zeigt und von dem ihm angedrohten Bußgeldern, Fahrverboten und Punkten unbeeindruckt bleibt.
c) Etwas anderes kann nur in Ausnahmefällen gelten. Ein solcher Ausnahmefall liegt etwa dann vor, wenn der Fahrzeugführer infolge von Alkohol- oder Drogenkonsum enthemmt ist (vgl. Schmidbauer/Steiner, a.a.O., RdNr. 44 zu Art. 25 PAG), wenn er weitere Verkehrsverstöße ausdrücklich ankündigt oder wenn er sich auf dem Weg zu einem unerlaubten Wettrennen befindet (…) Im vorliegenden Fall konnte von einem solchen Ausnahmefall nicht ausgegangen werden. Insbesondere hat sich K nicht völlig uneinsichtig gezeigt oder weitere Verkehrsverstöße angekündigt… Auch wenn der Kläger an diesem Tag bereits einmal wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 12 km/h mit einer Verwarnung von 25 Euro belegt worden ist, ist nichts dafür ersichtlich, dass ihm das für die Geschwindigkeitsübertretung am Kesselberg fällige Ordnungsgeld von 100 Euro, das Fahrverbot von einem Monat sowie die Eintragung von drei Punkten im Verkehrszentralregister völlig unbeeindruckt gelassen hätten. Auch wenn die B 11 zwischen dem Kochel- und dem Walchensee einen Unfallschwerpunkt darstellt und auch wenn an den Unfällen Motorradfahrer überproportional beteiligt sind, können diese allgemeinen Tatsachen im konkreten Fall zur Begründung einer Wiederholungsgefahr nichts beitragen. Denn bei dem Kläger war – wie bei jedem normalen Verkehrsteilnehmer – zu erwarten, dass er nicht in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Verkehrskontrolle erneut einen vorsätzlichen Verkehrsverstoß begehen würde.
3. Folglich fehlte es an einer durch die Sicherstellung des Motorrads des K zu bekämpfenden gegenwärtigen und konkreten Gefahr und damit an der für die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme erforderlichen Ermächtigungsgrundlage. Die Sicherstellung war rechtswidrig.
IV. Dagegen lässt sich allein aus einer Bezugnahme der Polizeibeamten auf die Grundsatzweisung des Polizeipräsidiums nicht entnehmen, dass ein Ermessensfehler in der Form des Ermessensnichtgebrauchs vorliegt. BayVGH: Da die Weisung…nur als Grundsatzweisung anzusehen ist, muss in Ermangelung weiterer Tatsachen davon ausgegangen werden, dass die Polizeibeamten die Weisung lediglich als ermessenslenkende Vorschrift verstanden und eine eigene Ermessensentscheidung getroffen haben. Es liegt daher kein Fall des Ermessensnichtgebrauchs vor.
V. Die Sicherstellung war rechtswidrig und verletzte K in seinem Eigentumsrecht an dem Motorrad. Die Anfechtungsklage ist begründet (ebenso wie nach BayVGH die Fortsetzungsfeststellungsklage) Damit steht zugleich fest, dass auch das Abschleppen des Motorrads und seine Verwahrung über das Wochenende rechtswidrig waren.
2. Teil Klage gegen den Leistungsbescheid
A. Auch diese Klage ist, weil der Leistungsbescheid ein VA ist, als Anfechtungsklage zulässig.
B. Begründet ist sie, wenn der Leistungsbescheid rechtswidrig ist und K in seinen Rechten verletzt.
I. Anwendbare Ermächtigungsgrundlage für den Leistungsbescheid ist § 28 PolG. Wenn dort bestimmt ist, dass die Kosten der Sicherstellung dem Verantwortlichen zur Last fallen, dürfen sie ihm auferlegt werden.
II. Auch bei dem Leistungsbescheid sind formelle Fehler nicht ersichtlich.
III. In materieller Hinsicht ist hier der - vor allem auch im Verwaltungsvollstreckungsrecht geltende - Grundsatz anzuwenden, dass Kosten für eine Maßnahme nur verlangt werden dürfen, wenn die Maßnahmen rechtmäßig waren. Maßnahmen waren hier die Sicherstellung und Verwahrung des Motorrads.
1. BayVGH: Es besteht Einigkeit darüber, dass die Kostenerhebung davon abhängt, dass die Polizeimaßnahme rechtmäßig gewesen ist (vgl. Schmidbauer/Steiner, a.a.O., RdNr. 28 zu Art. 76, Berner/Köhler, a.a.O., RdNr. 23 zu Art. 76). Diese Einschränkung der Kostenerhebung wurzelt im allgemeinen Rechtsstaatsprinzip…Danach werden Kosten nicht erhoben, die bei richtiger Sachbehandlung nicht angefallen wären. Da sich im vorliegenden Fall die Sicherstellung und die Abschleppmaßnahme als rechtswidrig erwiesen haben, ist folglich auch die Erhebung der dafür angefallenen Gebühren und Auslagen nicht zulässig.
2. Eine Ausnahme vom Erfordernis der vorangegangenen Rechtswidrigkeit besteht dann, wenn die vorangegangene Maßnahme bereits unanfechtbar war (BVerwGE 122, 293 Rdnr. 15). Im vorliegenden Fall war die Sicherstellung nicht unanfechtbar geworden.
3. Teilweise wird im Verwaltungsvollstreckungsrecht vertreten, es genüge, wenn der GrundVA rechtswirksam war; rechtmäßig brauche er nicht zu sein (OVG Lüneburg NVwZ-RR 2009, 747). Dadurch soll der Betroffene dazu angehalten werden, nicht nur den Kostenbescheid, sondern auch den vorangegangenen VA zur Überprüfung durch das Verwaltungsgericht zu stellen. Deshalb ist diese Auffassung nicht anzuwenden, wenn - wie im vorliegenden Fall - der GrundVA bzw. die Sicherstellung angefochten und aufgehoben wird. Die Aufhebung hat Rückwirkung und führt im vorliegenden Fall zu einem rückwirkenden Wegfall der Sicherstellung. Ohne Sicherstellung können aber keine Kosten verlangt werden. (Die gleiche Wirkung wie eine Aufhebung der Sicherstellung hätte die Feststellung gemäß § 113 I 2 VwGO, dass die - erledigte - Sicherstellung rechtswidrig war; so BVerwGE 116, 1, 4.)
IV. Somit ist der Leistungsbescheid rechtswidrig und verletzt K in seinem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG. Auch die Klage gegen den Leistungsbescheid ist begründet.
Im Fall des BayVGH hat dieser entschieden: Es wird festgestellt, dass die Sicherstellung und Verwahrung des klägerischen Motorrads rechtswidrig waren. Der Leistungsbescheid des Beklagten vom 27. August 2007 wird aufgehoben.
Zusammenfassung