Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

Anwendung des § 2 HaftpflG auf eine städtische Kanalisation. Enteignender und enteignungsgleicher Eingriff bei Überschwemmungsschäden

BGH Urteil vom 11. 3. 2004 (III ZR 274/03) BGHZ 158, 263 = DÖV 2004, 751 = NVwZ 2004, 1018 unter Einbeziehung von BGH Urteil vom 22. 4. 2004 (III ZR 108/03) DÖV 2004, 962 = DVBl 2004, 948

Fall (Starkregen und Katastrophenregen)

E ist Eigentümer eines Wohnhauses in der Stadt S. Die Stadt betreibt eine öffentliche Kanalisation auf der Grundlage einer Satzung und mit Anschluss- und Benutzungszwang. Um das Niederschlagswasser zunächst auffangen und kontrolliert weiterleiten zu können, hat die Stadt oberhalb des Hauses des E ein relativ großes, offenes Regenrückhaltebecken gebaut. Im weiteren Verlauf vor dem Grundstück des E wird das Wasser in einem Rohr geführt. Am 4. 7. kam es zu so starken Regenfällen, wie sie etwa nur aller zehn Jahre zu erwarten sind (Starkregen). Das Regenrückhaltebecken lief über und die Wassermassen ergossen sich von oben in das Haus des E, wo sie im Vorratskeller und in der Waschküche erheblichen Schaden anrichteten (1. Schaden). Am 3. 5. des folgenden Jahres kam es in S zu einem Unwetter mit Niederschlägen, wie sie nach Auskunft des Deutschen Wetterdienstes nur in mehr als 100 Jahren auftreten (Jahrhundertregen oder Katastrophenregen). Die Wassermassen schossen fontänenartig aus der Kanalisation, drangen von der Seite in das Haus des E ein und richteten Schäden im Partykeller an (2. Schaden). E verlangt wegen beider Schäden Ersatz von der Stadt S. Sind die Ansprüche begründet ? In welchem Rechtsweg wären sie geltend zu machen ?

A. Begründetheit der Ansprüche

I. Ein Anspruch aus verwaltungsrechtlichem Schuldverhältnis (dazu noch der Fall unten „Zivi bei Rot über die Kreuzung“) besteht nicht (er wird vom BGH nicht angesprochen). Zwar kann angenommen werden, dass das Grundstück des E an die städtische Kanalisation angeschlossen ist und dadurch ein verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis zwischen E und der Stadt begründet wurde. Jedoch beziehen sich die Pflichten der Stadt daraus nur auf eine ordnungsgemäße Entsorgung der auf dem Grundstück des E anfallenden Abwässer. Eine Verletzung dieser Pflicht ist nicht feststellbar. Sie wäre auch für die Schäden nicht kausal, weil das in das Haus des E gelangte Wasser nicht vom Grundstück des E stammt.

II. Eine für einen Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB, Art. 34 GG erforderliche schuldhafte Verletzung einer dem E gegenüber bestehende Amtspflicht durch einen Amtsträger der Stadt lässt sich dem Sachverhalt ebenfalls nicht entnehmen.

III. E könnte einen Anspruch aus § 2 I HaftpflG haben. Die dort normierte Gefährdungshaftung besteht in zwei Fällen, die in Satz 1 und Satz 2 näher aufgeführt sind. Weil der Schaden hier seinen Grund in den Auswirkungen des Wassers hatte, kommt Satz 1, die sog. Wirkungshaftung in Betracht. Danach ist der Inhaber einer Anlage zum Schadensersatz verpflichtet, wenn

1. Beim 1. Schaden fehlt es an den Auswirkungen einer Rohrleitungsanlage. Zwar ist der verrohrte Teil der Kanalisation eine Rohrleitungsanlage. Dazu gehört aber nicht mehr das Regenrückhaltebecken. BGHZ 158, 266: Das offene Regenrückhaltebecken, … das vom Berufungsgericht als „relativ groß“ bezeichnet wird…, unterbricht schon von seiner Größe her das übrige geschlossene Leitungssystem. Infolgedessen sind die von dem Becken zunächst aufgenommenen und schließlich seine Ränder überflutenden Wassermassen nicht im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 HaftpflG „von“ der verrohrten Leitungsanlage ausgegangen.

Somit scheidet für den 1. Schaden § 2 HaftpflG als Anspruchsgrundlage aus.

2. Demgegenüber stammt das Wasser, das den 2. Schaden verursacht hat, aus der Kanalisation, also aus einer Rohrleitungsanlage. Die Wirkungen des Wassers haben eine Sache, den Partykeller des E, beschädigt. Die Voraussetzungen des § 2 I 1 HaftpflG liegen vor. Jedoch schließt § 2 III Nr. 3 HaftpflG eine Haftung bei höherer Gewalt aus. Dazu legt BGH DÖV 2004, 962/3 zunächst dar, dass die Frage, unter welchen Voraussetzungen Niederschläge als höhere Gewalt gelten, bisher ungeklärt war, führt aber anschließend aus: Er beantwortet sie nunmehr dahin, dass bei einem ganz ungewöhnlichen und seltenen Regenereignis (Katastrophenregen), wie es mit einer Wiederkehrzeit von mehr als 100 Jahren hier vorliegt, der Einwand höherer Gewalt nicht ausgeschlossen ist. Die Überlastung des Kanalsystems in solchen Fällen ist bei wertender Betrachtungsweise nicht mehr den Risiken der Anlage, sondern dem von außen hinzutretenden „Drittereignis“ zuzurechnen.

Somit scheidet auch beim 2. Schaden ein Anspruch aus § 2 HaftpflG aus.

IV. Im Fall des 1. Schadens (Starkregen) kommt ein Anspruch aus enteignungsgleichem oder enteignendem Eingriff in Betracht.

1. Enteignungsgleicher und enteignender Eingriff sind ähnliche Anspruchsgrundlagen. Sie haben – entgegen ihrer Bezeichnung – keine Enteignung, sondern einen sonstigen, normativen oder faktischen Eingriff in das Eigentum zur Voraussetzung; sie werden mit dem Rechtsprinzip der Aufopferung begründet (Kemmler JA 2005, 158, 159), weil die auszugleichende Belastung sich als Sonderopfer darstellt. Sie unterscheiden sich darin, dass der Eingriff beim enteignungsgleichen Eingriff rechtswidrig, beim enteignenden Eingriff dagegen rechtmäßig ist; ferner muss beim enteignenden Eingriff eine stärkere Belastung vorliegen (dazu BGH nachfolgend unter b).

a) Voraussetzungen des enteignungsgleichen Eingriffs sind: Eigentum; hoheitliches Handeln (normativ oder faktisch); unmittelbare Beeinträchtigung des Eigentums; Rechtswidrigkeit der hoheitlichen Maßnahme.

b) Der enteignende Eingriff wird von BGHZ 158, 267 im vorliegenden Fall wie folgt beschrieben: Ansprüche aus enteignendem Eingriff kommen in Betracht, wenn an sich rechtmäßige hoheitliche Maßnahmen bei einem Betroffenen unmittelbar zu – meist atypischen und unvorhergesehenen – Nachteilen führen, die er aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen hinnehmen muss, die aber die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren übersteigen [Sonderopfer]…. Entschädigungsansprüche solcher Art hat der Senat etwa wegen Immissionen von hoher Hand zugebilligt, soweit diese unter privaten Nachbarn nach § 906 BGB nicht ohne Ausgleich hinzunehmen wären (Verkehrs- oder Fluglärmimmissionen: BGHZ 59, 378, 379;…129, 124, 125 f. s. auch BGHZ 140, 285, 298; Geruchsimmissionen: BGHZ 91, 20, 21 f.;…). Insofern ist der Anspruch aus enteignendem Eingriff das öffentlich-rechtliche Gegenstück zum zivilrechtlichen Ausgleichsanspruch unter Nachbarn nach § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB [so insbesondere auch BGH NJW 2005, 661; hierzu noch nach diesem Fall unter 2b]. Bei der Überschwemmung von Grundstücken hat der Senat eine Haftung der öffentlichen Hand aus enteignendem Eingriff bisher in Fällen angenommen, in denen der Schaden durch Hochwasserschutzmaßnahmen entstanden war (Erhöhung von Seedeichen: BGHZ 80, 111, 113 ff.…).

Infolgedessen sind Voraussetzungen für einen enteignenden Eingriff: Eigentum; hoheitliches Handeln (normativ oder faktisch); Rechtmäßigkeit der Maßnahme, i. d. R. aber atypische oder unvorhergesehene Folgen; Beeinträchtigung des Eigentums, die das Zumutbare überschreitet und sich als Sonderopfer erweist.

2. Im vorliegenden Fall bejaht der BGH einen Anspruch aus enteignendem Eingriff, S. 267/8: Die Beseitigung von Regen- und Abwasser stellt einen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge dar und ist damit der sogenannten schlicht-hoheitlichen Verwaltung zuzuordnen; das gilt auch für ein in das Kanalsystem eingegliedertes Regenrückhaltebecken. Durch dessen Überlauf ist der Schaden am Eigentum des Klägers adäquat verursacht worden. An der notwendigen Unmittelbarkeit des Eingriffs lässt sich unter diesen Umständen ebensowenig zweifeln… Die Teil-Überschwemmung des Hauses ist auch ein Nachteil, der unvorgesehen war und der das entschädigungsrechtlich Zumutbare übersteigt, so dass dadurch dem E ein Sonderopfer auferlegt wurde.

Die Rechtmäßigkeit des Eingriffs stellt der BGH allerdings nicht fest, vielmehr schließt er Fehler bei der Planung oder dem Betrieb des Beckens nicht aus (S. 267). Er lässt diese Frage offen und führt aus, die Stadt sei dem E jedenfalls aus dem Gesichtspunkt des enteignenden Eingriffs verantwortlich. Das lässt sich damit rechtfertigen, dass bei Bejahung der sonstigen Voraussetzungen für einen Anspruch wegen enteignenden Eingriffs, die im Falle rechtmäßigen Handelns zu einem Anspruch führen würden, eine Haftung bei rechtswidrigem Handeln erst recht eintreten muss, zumal die Anforderungen an einen enteignenden Eingriff höher sind (vgl. oben 1b: Übersteigen der Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren). Folglich lässt sich allgemein feststellen, dass, wenn die sonstigen Voraussetzungen für einen enteignenden Eingriff vorliegen, die Frage der Rechtmäßigkeit der Maßnahme offen bleiben darf.

Der Anspruch des E auf Ersatz seiner Schäden im Vorratskeller und der Waschküche ist begründet.

V. Im Hinblick auf den 2. Schaden greift dagegen ein Anspruch aus enteignungsgleichem oder enteignendem Eingriff nicht ein. Im Falle eines Jahrhundert- oder Katastrophenregens, mit dem die öffentliche Hand nicht zu rechnen braucht, werden ihr diese Folgen nicht zugerechnet. Vielmehr handelt es sich, wie oben III 2 festgestellt wurde, um höhere Gewalt und einen Unglücksfall (vgl. BGHZ 158, 269; DÖV 2004, 963). Auch eine andere Anspruchsgrundlage ist nicht ersichtlich. E hat deshalb keinen Anspruch auf Ersatz des Schadens an seinem Partykeller.

B. Rechtsweg

Für sämtliche geltend gemachten Ansprüche ist der Zivilrechtsweg zulässig:

Zusammenfassung