Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

Amtshaftung wegen schuldhafter Amtspflichtverletzung, § 839 BGB, Art. 34 GG. Schutzzweck der Amtspflicht bei Erteilung einer Genehmigung, rechtswidrige Genehmigung als Verlässlichkeitsgrundlage. Pflicht der Behörde, den Bürger vor Schaden zu bewahren

BGH Urteil vom 9. 10. 2003 (III ZR 414/02) NVwZ 2004, 638

Fall (Hochhaus an den Nachbarn gescheitert)

Architekt A erwarb im nicht beplanten Innenbereich der Stadt S ein Grundstück, um es mit einem Büro- und Wohnhaus zu bebauen. Bei Vorgesprächen erklärten Vertreter des Bau- und Planungsamtes der Stadt S, zu denen auch der zuständige Sachbearbeiter B gehörte, die Planung sei weit überdimensioniert und deshalb nicht genehmigungsfähig. Auch die Nachbarn kündigten ihren Widerstand gegen das Projekt an. A reichte einen geringfügig veränderten Bauantrag ein und erhielt am 31. 1. die Baugenehmigung. Anfang Februar nahm A einen hohen Bankkredit auf, der zunächst nur zu einem Teil ausbezahlt wurde. Noch im Februar erhob Nachbar N Widerspruch gegen die dem A erteilte Baugenehmigung. Sachbearbeiter B bei der Stadt S sah keinen Grund, das dem A mitzuteilen; da der Widerspruch kein aufschiebende Wirkung (§ 212a BauGB) hat, habe er jedenfalls zunächst keine Auswirkungen auf das Bauvorhaben. Im März rief A weitere Beträge des Darlehens ab und begann am 17. 4. mit den Bauarbeiten. Gleichzeitig stellte N beim Verwaltungsgericht einen Antrag nach § 80 V VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Das VG gab dem Antrag mit der Begründung statt, das Vorhaben des A füge sich wegen seiner Höhe und seiner Geschossflächenzahl (§ 34 I 1 BauGB) nicht in die Umgebung ein. Eine Beschwerde des A an das OVG blieb erfolglos. Daraufhin stoppte A das Vorhaben und nahm eine Umplanung vor, gegen die N aber wiederum das VG anrief und Erfolg hatte. Danach gab A das Vorhaben auf und verkaufte das Grundstück. Er verlangt von der Stadt S Ersatz für die ihm durch die Aufnahme und den Abruf des Darlehens entstandenen Zinsaufwendungen.

Vermerk für die Bearbeitung: Die Stadt S liegt im Lande L, wo es keine Vorschrift für eine Haftung der Bauaufsichtsbehörde gibt.

Anspruchsgrundlage kann ein Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB, Art. 34 GG sein.

I. Bei § 839 BGB, Art. 34 GG handelt es sich um eine einheitliche Anspruchsgrundlage, deren beide Elemente sich wie folgt zueinander verhalten (BGHZ 151, 200): Voraussetzungen und Rechtsfolge ergeben sich primär aus § 839, dieser ist die haftungsbegründende Norm. Art. 34 modifiziert § 839 in zweierlei Hinsicht: Er erweitert den Begriff „Beamter“ auf jeden, der ein öffentliches Amt ausübt, d. h. hoheitlich handelt. Ferner stellt er den an sich nach § 839 haftenden Beamten von der Haftung frei und richtet diese gegen den Staat oder die andere Anstellungskörperschaft des Handelnden (Art. 34 als haftungsverlagernde Norm = Veränderung der Passivlegitimation); insoweit führt Art. 34 GG für den Handelnden zu einer „befreienden Schuldübernahme“ (BGHZ 151, 200).

1. Erste Voraussetzung für die einheitliche Anspruchsgrundlage ist ein hoheitliches Handeln. Im vorliegenden Fall kann Anknüpfungspunkt für einen Ersatzanspruch die Erteilung der Baugenehmigung durch B sein. Diese erfolgte auf Grund der Vorschriften des BauGB und der Landes-BauO und damit öffentlich-rechtlich (hoheitlich).

2. B müsste eine Amtspflicht, die der Stadt S gegenüber A oblag, schuldhaft verletzt haben.

a) B hatte die Amtspflicht, über den Baugenehmigungsantrag des A rechtmäßig zu entscheiden; der Erlass einer rechtswidrigen Baugenehmigung bedeutet eine Amtspflichtverletzung. Ob die erteilte Baugenehmigung wirklich gegen § 34 BauGB verstieß, insbesondere was die Höhe des Gebäudes und die Geschossflächenzahl betraf, lässt sich nach dem Sachverhalt nicht beurteilen. Eine rechtskräftige verwaltungsgerichtliche Entscheidung in der Hauptsache wäre für das über den Anspruch aus § 839 BGB, Art. 34 GG entscheidendende Zivilgericht (Art. 34, 3 GG) bindend (dazu auch noch den im nächsten Heft zu behandelnden Fall BGH NJW 2005, 58); sie liegt hier aber nicht vor. Summarische und vorläufige Entscheidungen im Eilverfahren haben, wie der BGH auf S. 638 unter 1 ausführt, keine Bindungswirkung. Gleichwohl darf angesichts fehlender weiterer Anhaltspunkte im Sachverhalt den verwaltungsgerichtlichen Beschlüssen gefolgt und angenommen werden, dass sich das Bauvorhaben nicht in die nähere Umgebung eingefügt hätte und dass die Baugenehmigung deshalb gegen § 34 BauGB verstieß. Dafür spricht auch, dass diese Auffassung zunächst von der Stadtverwaltung selbst vertreten wurde und dass die von A vorgenommene geringfügige Änderung der Planung eine anderweitige Beurteilung nicht rechtfertigt. B hat somit seine Amtspflicht verletzt. Da nicht ersichtlich ist, dass B das nicht hätte erkennen können, ist auch von einem Verschulden auszugehen.

b) Die von B verletzte Amtspflicht bestand auch gegenüber A als Dritten. BGH S. 638 unter 1: Die Erteilung der solchermaßen rechtswidrigen Baugenehmigung stellte eine schuldhafte Amtspflichtverletzung der Amtsträger der Bekl. gegenüber dem Kl. dar. In der Rspr. des Senats ist seit langem anerkannt, dass die Amtspflicht, eine rechtswidrige Baugenehmigung nicht zu erteilen, der Bauaufsichtsbehörde auch und gerade gegenüber dem antragstellenden Bauherrn selbst obliegt (vgl. BGHZ 149, 50 [52] m. w. Nachw.).

c) Jedoch könnte sich eine Einschränkung aus dem Grundsatz ergeben, dass die Verhinderung des dem Dritten entstandenen Nachteils auch unter den Schutzzweck der verletzten Amtspflicht fallen muss. BGHZ 123, 198: In der neueren Rspr. des Senats wird zunehmend betont, dass beim Ausgleich staatlichen Unrechts jeweils auf den Schutzzweck der verletzten Amtspflicht…abzustellen ist (folgen Nachw.)… Diese Begrenzung der Ersatzpflicht auf Schadensfolgen, gegen welche die haftungsbegründende Norm Schutz gewähren soll, hat auch die Billigung des BVerfG gefunden (mit Nachw.) Bedeutung gewinnen kann diese Voraussetzung für den Inhalt der Amtspflicht, für den als Dritte geschützten Personenkreis oder für die unter die Rechtsfolge fallenden Schadensfolgen (BGHZ 123, 198: betrifft Inhalt und sachliche Begrenzung der Haftung). Sie bezieht sich auf die Voraussetzungen des § 839 I 1 und ist nicht erst beim Mitverschulden zu berücksichtigen (BGH S. 638 unter a).

Wichtiger Anwendungsfall ist, dass die Amtspflichten des TÜV bei der Kfz.-Prüfung nicht dem Schutz des Vermögens des Halters oder künftiger Erwerber des Fahrzeugs dienen (BGH NJW 2004, 3484), sondern vor allem dem Schutz von Leben und Gesundheit der möglicherweise durch einen Unfall geschädigten dritten Personen.

aa) Im vorliegenden Fall ist Anlass zu einer derartigen Prüfung, dass die Baugenehmigung auf Antrag und im Interesse des A erging und dass A in erster Linie selbst dafür verantwortlich war, dass sein Bauvorhaben den rechtlichen Anforderungen entsprach. Wenn A mit seiner Amtshaftungsklage geltend macht, die Baugenehmigung hätte abgelehnt werden müssen, beruft er sich auf einen Entscheidungsinhalt, der jedenfalls primär dem Schutz der Allgemeinheit und der Nachbarn gedient hätte. Andererseits dient eine rechtmäßige Entscheidung auch seinem Interesse. Um bei begünstigenden Verwaltungsakten zu verhindern, dass diese den Charakter einer die Verantwortlichkeit des Privaten entlastenden „Garantie“ (BGHZ 123, 199) erhalten, beschränkt der BGH die Haftung auf solche Folgen für den VA-Adressaten, für die die GenehmigungVertrauenstatbestand oder Verlässlichkeitsgrundlage war (BGHZ 123, 199; 134, 277, Mülheim-Kärlich; 149, 53; DVBl 2002, 1114/5; im vorliegenden Fall S. 638 unter 2).

bb) Als Umstände, die den VA als Verlässlichkeitsgrundlage entfallen lassen, kommen nach BGH (S. 638 unter a) neben objektiven Umständen (z. B. ein Vorbehalt im VA) auch subjektive Kenntnisse und sich aufdrängende Erkenntnismöglichkeiten des Empfängers in Betracht (BGHZ 134, 268 [283 f.]; 149, 50 [52 f.]). Derartige subjektive Kenntnisse und sich aufdrängende Erkenntnismöglichkeiten sind insbesondere dann zu bejahen, wenn der betreffende VA mit Mängeln behaftet ist, die seine entschädigungslose Rücknahme rechtfertigen (§ 48 II 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG): wenn der Betroffene den VA durch arglistige Täuschung, Drohung, Bestechung oder durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren, oder wenn er die Rechtswidrigkeit des VA kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (folgen Nachw.) Einer dieser Tatbestände liegt hier nicht vor.

cc) Der BGH prüft auf S. 639 unter b), ob die besondere Sachkunde des A als Architekt es ausschließt, dass dieser sich auf die Richtigkeit der Baugenehmigung verlassen durfte, verneint das aber unter Bezugnahme auf BGHZ 149, 50: Hier wie dort rechtfertigte es diese Sachkunde nicht, dem Kl. als antragstellenden Bauherrn das volle Risiko einer Fehlbeurteilung der planungsrechtliche Anforderungen, hier des § 34 BauGB, aufzubürden und die Bauaufsichtsbehörde insoweit von jeglicher Verantwortung zu entlasten. § 34 BauGB ist eine zentrale Bestimmung des Bauplanungsrechts. Die sachgemäße Handhabung dieser Vorschrift fällt daher in erster Linie in den Verantwortungsbereich der Bauaufsichtsbehörde. Das „Rechtsanwendungsrisiko“, das heißt hier die ordnungsgemäße Beurteilung des § 34 BauGB, wurde nicht bereits dadurch in vollem Umfang von der Behörde auf den Kl. verlagert, dass bei diesem als Architekten ebenfalls ein gewisses Maß an Sachkunde vorauszusetzen war. Der BGH verweist als Gegenbeispiel auf die Grenzabstände nach Bauordnungsrecht, die jeder Architekt von sich aus zu beachten hat. Demgegenüber sei bei der Handhabung der planungsrechtlichen Vorschrift des § 34 das schutzwürdige Vertrauen des A nicht so weit eingeschränkt, dass ein Totalverlust des Amtshaftungsanspruchs bereits auf der Tatbestandsebene stattfinden müsste.

dd) Auch die ursprünglich geäußerten Bedenken des Bauamts sowie der angekündigte Widerstand der Nachbarn mussten von A nicht als unüberwindliche Hindernisse betrachtet werden, die seinen Vertrauensschutz ausschlossen.

Somit war die Baugenehmigung für A eine Verlässlichkeitsgrundlage, der Schutzzweck der verletzten Amtspflicht steht einer Haftung nicht entgegen.

3. Der Schaden des A besteht gemäß § 249 I BGB darin, dass er ohne die am 31. 1. erteilte Baugenehmigung Anfang Februar keinen Kredit aufgenommen hätte und ihm jedenfalls keine Zinsaufwendungen entstanden wären (vgl. BGH S. 640 unter c). Eine anderweitige Ersatzmöglichkeit (§ 839 I 2) für A ist nicht erkennbar.

4. Allerdings hätte A mit der Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung, dementsprechend mit einem erfolgreichen Vorgehen der Nachbarn rechnen und sich auf diesen Fall einstellen müssen. Dass er das nicht getan hat, ist ihm als Mitverschulden i. S. des § 254 I BGB anzulasten. Im BGH-Fall wurde das Mitverschulden mit 25 % bewertet (S. 639 unter 2d).

Somit kann A 75 % des ihm seit Februar entstandenen Zinsaufwandes als Schadensersatz von der Stadt S verlangen.

II. Einen weitergehenden Anspruch könnte A wegen der Zinsaufwendungen haben, die Folge des Kreditabrufs im März waren.

1. Der BGH sieht eine weitere schuldhafte Amtspflichtverletzung des B gegenüber A darin, dass B nicht noch im Februar dem A Mitteilung von dem Widerspruch des N gemacht hat.

a) S. 639 unter 3b): Die Bediensteten des Bauaufsichtsamtes hatten eine allgemeine, sich zur Amtspflicht verdichtende Fürsorgepflicht, durch eine rechtzeitige Unterrichtung mögliche Schädigungen des Kl. zu verhindern… Diese Pflicht ergibt sich aus dem Grundsatz, das der Beamte nicht nur Vollstrecker staatlichen Willens, nicht nur Diener des Staates, sondern zugleich „Helfer des Bürgers“ sein soll (…). Insbesondere darf der Beamte nicht „sehenden Auges“ zulassen, dass der bei ihm vorsprechende Bürger Schäden erleidet, die der Beamte durch einen kurzen Hinweis, eine Belehrung mit wenigen Worten oder eine entsprechende Aufklärung zu vermeiden in der Lage ist (BGH NJW 1994, 2415 [2417] m. w. Nachw.).

b) Im vorliegenden Fall drohte A durch den von N eingelegten Rechtsbehelf und seine weitere gerichtliche Verfolgung ein Baustopp, der weitere Aufwendungen wertlos machen konnte, so wie es die Entwicklung später auch gezeigt hat, und damit ein weiterer, erheblicher Schaden. B hätte ihn durch eine einfache Mitteilung verhindern können. Dass der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hatte, ändert nichts daran, dass er in Verbindung mit der Möglichkeit, das VG nach § 80 V VwGO anzurufen, zur Verhinderung des Bauprojekts führen konnte. Folglich hat B durch das Unterlassen der Mitteilung eine ihm A gegenüber obliegende Amtspflicht schuldhaft verletzt.

2. Hätte A von dem Widerspruch erfahren, hätte er Gewissheit erlangt, dass N gegen das Bauvorhaben vorzugehen beabsichtigte. Angesichts der zuvor schon von den Vertretern der Stadt S geäußerten Bedenken kann davon ausgegangen werden, dass A zu der Einsicht gekommen wäre, dass dem Vorhaben nunmehr ein ernsthafter Widerstand drohte, dass er deshalb weitere Mittel aus dem Kredit nicht abgerufen hätte und ihm keine weiteren Zinslasten entstanden wären (BGH S. 640 unter d). Somit sind die weiteren, durch den Abruf des Kredits im März entstandenen Zinsbelastungen ein durch die Amtspflichtverletzung verursachter Schaden.

3. Insoweit ist A auch kein Mitverschulden vorzuwerfen (BGH S. 640 unter f). Somit kann A die durch den Abruf des Kredits im März entstandenen Finanzierungsaufwendungen in vollem Umfang von der Stadt S ersetzt verlangen.

Zusammenfassung

Zuvor: Prüfungsschema für den Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB, Art. 34 GG

(Reihenfolge kann umgestellt werden, insbesondere kann zuerst die Amtspflichtverletzung und erst danach die Drittgerichtetheit der verletzten Pflicht geprüft werden)

 

Zum behandelten Fall: