Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Versammlungsfreiheit, Art. 8 I GG; Begriff der Versammlung; Friedlichkeit. ► Beschränkungen der Versammlungsfreiheit, Art. 8 II GG. ► Verhältnis des allgemeinen Polizeirechts zum Versammlungsrecht. ► Verfassungsbeschwerde gegen Urteil im Ordnungswidrigkeitenrecht. ► Bedeutung des Bußgeldbescheids im gerichtlichen Verfahren nach Einspruch
BVerfG Beschluss vom 25. 1. 2011 (2 BvR 2015/09) NVwZ 2011, 422
Fall (Schweigende Provinzen und linke Freiräume)
In der im Lande L gelegenen Stadt S fand am 5. 5. eine angemeldete Demonstration in Form eines Aufzuges statt unter dem Motto „Keine schweigenden Provinzen - Linke Freiräume schaffen“. Die der rechten Szene angehörenden und in einer Nachbargemeinde wohnenden A und B und 30 weitere Personen erfuhren davon am Morgen des 5. 5. Sie kamen überein, an diesem Tage nach S zu fahren, um „Gesicht zu zeigen“ und den Linken zu beweisen, dass es auch noch rechtsgerichtete Gruppen in dieser Gegend gibt. Sie erschienen in S mit kurz geschorenen Haaren, Springerstiefeln und Bomberjacken und stellten sich links und rechts der angemeldeten Route auf. Über Fahnen, Flugblätter oder andere Kommunikationsmittel verfügten sie nicht. Als Polizeikräfte ihrer gewahr wurden, ordnete Einsatzleiter P eine Identitätsfeststellung und einen Fahndungsabgleich der zu der Gruppe gehörenden Personen an. Es ergab sich, dass drei von ihnen bei Gegendemonstrationen gegenüber linken Veranstaltungen mehrfach tätlich geworden waren. Daraufhin sprach P allen Teilnehmern dieser Gruppe gegenüber einen Platzverweis aus und forderte sie dreimal auf, sich zu entfernen. A und B befolgten diese Aufforderung zunächst nicht und entfernten sich erst, als die Polizei Verstärkung erhielt und Zwang androhte.
Die zuständige Polizeibehörde erließ gegen B einen Bußgeldbescheid über 175 EUR. Gegen diesen legte B Einspruch ein. Es kam zu einem Verfahren vor dem Amtsgericht in S. Dieses endete mit einem Urteil, in dem B wegen einer Ordnungswidrigkeit zu 75 EUR Geldbuße verurteilt wurde. Das Urteil wurde auf § 113 OWiG gestützt. Das Aufstellen von A, B und den anderen Mitgliedern der Gruppe am Straßenrand sei keine Versammlung gewesen und falle deshalb unter § 113 OWiG. Gegen den Platzverweis sei B nicht vorgegangen, so dass das AG von seiner Rechtswirksamkeit auszugehen habe. Die von B dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde wurde vom OLG zurückgewiesen, weil die gesetzlich geforderte Fortbildung des Rechts kein weiteres Verfahren erfordere. B hat gegen das Urteil des AG und gegen den Bußgeldbescheid der Polizei Verfassungsbeschwerde erhoben. Wie ist über die Verfassungsbeschwerde zu entscheiden ?
Bei der Bearbeitung ist davon auszugehen, dass im Lande L die Polizei zur Durchführung des Versammlungsrechts zuständig ist und dass folgende Vorschriften gelten:
§ 34 Abs. 1 Satz 1 PolG: Platzverweis. Die Polizei kann zur Abwehr einer Gefahr eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen.
§ 15 Abs. 1 VersG: Die zuständige Behörde kann die Versammlung verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist.
Abs. 3: Sie kann eine Versammlung auflösen, wenn… die Voraussetzungen zu einem Verbot nach Absatz 1 oder 2 gegeben sind.
§ 113 OWiG: Ordnungswidrig handelt, wer sich einer öffentlichen Ansammlung anschließt oder sich aus ihr nicht entfernt, obwohl ein Träger von Hoheitsbefugnissen die Menge dreimal rechtmäßig aufgefordert hat, auseinander zu gehen.
1. Teil. VfB gegenüber dem Urteil des Amtsgerichts
A. Zulässigkeit der VfB
I. Die VfB muss sich gegen einen Hoheitsakt richten (§ 90 I BVerfGG). Das Urteil des AG ist ein Hoheitsakt und kann Gegenstand einer VfB sein.
II. Der Beschwerdeführer muss die Verletzung eines Grundrechts geltend machen. B kann geltend machen, er habe sich an einer Versammlung beteiligt und werde durch das ihn wegen dieser Beteiligung zu einer Geldbuße verurteilende Urteil des AG in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) verletzt.
III. Die von § 90 II BVerfGG verlangte Erschöpfung des Rechtsweges liegt vor. B hat die Rechtsbeschwerde gegen das amtsgerichtliche Urteil (§§ 79 ff. OWiG) erhoben und ist damit erfolglos geblieben. Ein weiteres Rechtsmittel gibt es bei Ordnungswidrigkeiten nicht.
IV. Es kann davon ausgegangen werden, dass die VfB des B von diesem formgerecht (schriftlich, § 23 BVerfGG) und fristgerecht (innerhalb eines Monats nach dem Urteil, § 93 I 1 BVerfGG) erhoben wurde. Sie ist mithin zulässig.
B. Begründetheit der VfB
Die VfB ist begründet, wenn das Urteil des AG das Grundrecht des B aus Art. 8 GG verletzt.
I. Es müsste ein Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts erfolgt sein.
1. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit steht nur Deutschen zu (Art. 8 I). Mangels einer anderen Angabe im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass B Deutscher ist und unter den persönlichen Schutzbereich des Grundrechts fällt.
2. Der sachliche Schutzbereich ist eröffnet, wenn eine Versammlung vorliegt. BVerfG Abs.-Nr. 19: Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfGE 104, 92 [104]…). In etwas anderer Formulierung: Eine Versammlung ist eine Zusammenkunft mehrer Personen zu dem Zweck, an der öffentlichen Meinungsbildung durch Erörterung oder Kundgabe teilzunehmen.
A, B und die anderen Mitglieder der Gruppe sind in S auf einer bestimmten Straße und zu einer bestimmten Zeit zusammen gekommen. Fraglich ist, ob sie einen Versammlungszweck verfolgt haben oder ob es daran gefehlt hat, so dass eine bloße Ansammlung (vgl. § 113 OWiG) vorlag.
a) Gegenstand der öffentlichen Meinungsbildung sind die Themen, für die die als erste geplante und angemeldete, linke Demonstration sich einsetzen wollte. Es sind dies vor allem Ziele sozialer Art wie der Schutz von Minderheiten, zu denen Immigranten gehören. Die Gruppierung A/B als rechte steht dem ablehnend gegenüber und vertritt eher eine Politik eine Abgrenzung gegenüber Fremden.
b) Erörtern wollten A/B diese Fragen nicht. Es könnte aber eine Kundgabe vorliegen. Für die Polizei und das AG reichte das Verhalten von A/B hierfür nicht aus. Anders aber BVerfG Abs.-Nr. 19: Die Versammlungsfreiheit schützt Versammlungen und Aufzüge - im Unterschied zu bloßen Ansammlungen oder Volksbelustigungen - als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung. Dieser Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen. Daher gehören auch solche Zusammenkünfte dazu, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfGE 69, 315 [342 f.]; 87, 399 [406]). Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl. BVerfGE 69, 315 [345]).
BVerfG Abs.-Nr. 22: Das Amtsgericht hat bei der Prüfung des Versammlungscharakters der Zusammenkunft nicht berücksichtigt, dass diese inhaltlich auf das Versammlungsmotto der angemeldeten Demonstration bezogen war. Der Beschwerdeführer und die anderen Mitglieder der Gruppe wollten…mit der Zusammenkunft „Gesicht zeigen“ und sich gegen die Aussage des von der angemeldeten Demonstration ausgerufenen Mottos stellen. Die Anwesenheit der von auswärts angereisten Gruppe zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort war erkennbar geprägt von dem Willen der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Dies ergibt sich daraus, dass sich die Gruppe, die aufgrund der kurz geschorenen Haare und der szenetypischen Aufmachung vom objektiven Empfängerhorizont aus betrachtet als dem rechtsradikalen Spektrum angehörend identifizierbar war und als solche von den Polizeikräften auch identifiziert wurde, in zeitlicher und örtlicher Nähe zu der ausdrücklich linksgerichteten - der zweite Teil des Mottos lautete: „Linke Freiräume schaffen“ - Versammlung postierte, nämlich an einer Straße entlang der Demonstrationsroute außerhalb des Stadtkerns der Stadt S, kurz bevor sich die angemeldete Demonstration in Bewegung setzte.
BVerfG Abs.-Nr. 23: Ein kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch non-verbal, durch schlüssiges Verhalten wie beispielsweise durch einen Schweigemarsch, geäußert werden. Nach den tatsächlichen Feststellungen des AG wollte die Gruppe mit ihrer Zusammenkunft ein Gegenbild zu der von der angemeldeten Demonstration propagierten Lebenswirklichkeit entwerfen. Überdies lautete der erste Teil des Mottos der angemeldeten Demonstration „Keine schweigenden Provinzen“. Angesichts dieser Umstände hätte das AG sich damit auseinandersetzen müssen, dass der physischen Präsenz in einer die gegenteilige politische Ausrichtung zu erkennen gebenden Aufmachung gepaart mit dem Schweigen der Gruppe hier naheliegenderweise eine eigenständige Aussage zukommen kann. Sofern sich der von der Gruppe geleistete Beitrag zu der öffentlichen Meinungsbildung darin erschöpfte, Ablehnung gegenüber dem von der angemeldeten Demonstration proklamierten Versammlungsmotto zu bekunden, wäre dies unschädlich, da es auf die Wertigkeit der geäußerten Meinung nicht ankommt. Somit erfüllte das Verhalten von A, B und den anderen Mitgliedern der Gruppe die begrifflichen Voraussetzungen für eine Versammlung.
c) Die fehlende Anmeldung der (Gegen-) Versammlung steht ihrem Schutz nicht entgegen. BVerfG Abs.-Nr. 20: Der Schutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist (vgl. BVerfGE 69, 315 [351]; BVerfGK 4, 154 [158]; 11, 102 [108]).
d) Art. 8 GG schützt nur friedliche Versammlungen. Bei drei Mitgliedern der Gruppe war festgestellt worden, dass sie bei Gegendemonstrationen gegenüber linken Veranstaltungen mehrfach tätlich geworden waren. Das reicht für die Unfriedlichkeit der Versammlung aber nicht aus. BVerfG Abs.-Nr. 20: Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich nur bei kollektiver Unfriedlichkeit, mithin wenn sie im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf nimmt oder der Veranstalter und sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen (vgl. BVerfGE 69, 315 [361]). Diese Voraussetzungen waren bei der Gruppe A und B nicht gegeben.
Das Verhalten des B fiel somit unter den Schutzbereich des Art. 8 I GG.
3. Es müsste ein Eingriff in den Schutzbereich erfolgt sein.
a) Ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit lag zunächst in dem von P ausgesprochenen Platzverweis. Jedoch ist diese Maßnahme von B nicht mit der VfB angegriffen worden. Offensichtlich hat B sich durch den - inzwischen erledigten - Platzverweis weniger betroffen gefühlt als durch das nachfolgende und noch nicht erledigte Bußgeldverfahren.
b) Ein Eingriff in ein Freiheitsrecht liegt auch in einer Maßnahme, die eine belastende Rechtsfolge an das Gebrauchmachen von dem Freiheitsrecht knüpft. Deshalb liegt in der Verurteilung des B durch das AG zu 75 EUR Geldbuße wegen des Sich-nicht-Entfernens aus der - inzwischen als solcher erkannten - Versammlung ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit des B. BVerfG Abs.-Nr. 25: …ist das Urteil des Amtsgerichts als Eingriff in die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers zu beurteilen.
II. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.
1. Nach Art. 8 II GG kann die Versammlungsfreiheit für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund dieses Gesetzes beschränkt werden. Die Versammlung im vorliegenden Fall fand unter freiem Himmel statt. Gesetz können das VersG und das PolG sein. Die hier in Betracht kommenden § 15 VersG und § 34 PolG sind verfassungsmäßig, so dass Prüfungsgegenstand im vorliegenden Fall nicht ein Gesetz oder eine andere Rechtsnorm ist, sondern ein Einzelakt, bei dem das Gesetz angewendet worden ist.
2. Für die Rechtfertigung einer Grundrechtsbeschränkung im Einzelfall ist grundsätzlich erforderlich, dass das Gesetz zutreffend angewendet worden ist. Allerdings ist zu beachten, dass im vorliegenden Fall das Urteil eines (Fach-)Gerichts nachgeprüft wird und dass das BVerfG dabei nur eine eingeschränkte Prüfungskompetenz in Anspruch nimmt. Es prüft ein fachgerichtliches Urteil nur auf spezifische Verfassungsverletzungen hin nach. Dazu BVerfG NJW 2011, 1340 Abs.-Nr. 31: Nach den Grundsätzen der beschränkten verfassungsgerichtlichen Überprüfbarkeit fachgerichtlicher Entscheidungen …sind die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts Aufgabe der Fachgerichte und der Nachprüfung durch das BVerfG weitgehend entzogen. Das BVerfG überprüft - abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot - nur, ob die fachgerichtlichen Entscheidungen Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Das ist der Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung der einfachrechtlichen Normen die Tragweite des einschlägigen Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt….
a) Im vorliegenden Fall könnte eine - im Zusammenhang mit den Überlegungen oben 2b) relevante - grundsätzliche Verkennung des Schutzbereichs des Art. 8 I GG darin liegen, dass das AG eine bloße Ansammlung angenommen und eine Versammlung verneint hat. Jedoch lag darin lediglich eine etwas zu enge Auslegung des Versammlungsbegriffs und keine grundsätzliche Verkennung. Auch das BVerfG hat dem AG keine grundsätzliche Verkennung vorgeworfen, sondern die Frage der Versammlung als Grundlage für die eigene weitere Prüfung erörtert, dies in Abgrenzung zur gegenteiligen Auffassung des AG.
b) Eine spezifische Verfassungsverletzung auf der Rechtfertigungsebene liegt vor, wenn Vorschriften des einfachen Rechts herangezogen werden, die zur Beschränkung des Grundrechts von vornherein nicht geeignet sind. Denn damit wird die Tragweite des Grundrechts schwerwiegend verkürzt und grundsätzlich verkannt. Zieht im Falle des Art, 8 II GG das Fachgericht Vorschriften heran, die von vornherein nicht dazu geeignet sind, die Versammlungsfreiheit i. S. des Art. 8 II GG zu beschränken, liegt darin eine spezifische Verfassungsverletzung. Das trifft im vorliegenden Fall auf die Anwendung des § 113 OWiG durch das AG zu. § 113 OWiG bezieht sich nur auf eine Ansammlung und gerade nicht auf eine Versammlung. Bereits aus diesem Grund liegt in dem Urteil des AG eine Verletzung des Art. 8 GG.
c) Weiterhin könnte eine spezifische Verfassungsverletzung darin liegen, dass die Verurteilung des B damit begründet wurde, dass er sich nach dem Platzverweis und der dreimaligen Aufforderung nicht entfernt hatte.
aa) Entgegen der Auffassung des AG reicht hierfür die bloße Rechtswirksamkeit des Platzverweises nicht aus. Vielmehr muss dieser rechtmäßig sein, was das AG als Vorfrage zu prüfen hat. Das folgert das BVerfG aus der Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG, und zwar für die Fälle, in denen eine „Kette von Hoheitsakten“ vorliegt (hier: Platzverweis, Bußgeldbescheid der Polizei, Urteil des AG) und der vorangegangene Akt in einem anderen Rechtsweg zu prüfen ist als der Hauptakt (hier: das Bußgeld wird durch das ordentliche Gericht überprüft, die Rechtmäßigkeit des Platzverweises durch das VG ), so BVerfG NVwZ 2010, 1482. Also war die Rechtmäßigkeit des Platzverweises zu prüfen.
bb) Ein rechtmäßiger Platzverweis nach § 34 PolG setzt voraus, dass das PolG anwendbar ist. Das ist nicht der Fall, wenn eine Versammlung vorliegt. Denn bei Versammlungen ist das VersG vorrangig und grundsätzlich abschließend. BVerfG Abs.-Nr. 28: Versammlungsspezifische Maßnahmen der Gefahrenabwehr richten sich nach den hierfür speziell erlassenen Versammlungsgesetzen. Die dort geregelten, im Vergleich zu dem allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Verfügungen sind Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit. Dementsprechend gehen die Versammlungsgesetze als Spezialgesetze dem allgemeinen Polizeirecht vor, mit der Folge, dass auf letzteres gestützte Maßnahmen gegen eine Person, insbesondere in Form eines Platzverweises, ausscheiden, solange sich diese in einer Versammlung befindet und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen kann (vgl. BVerfGK 4, 154 [158]). Dieser Schutz endet erst mit der eindeutigen Auflösung der Versammlung oder dem eindeutigen Ausschluss des Teilnehmers von der Versammlung (vgl. BVerfGK 4, 154 [159]; 11, 102 [115 f.]).
B befand sich in einer Versammlung. Diese war nicht gemäß § 15 III VersG aufgelöst worden. Auch war B nicht von der Versammlung ausgeschlossen worden. Deshalb war ihm gegenüber sowie auch gegenüber den anderen Mitgliedern der Gruppe § 34 PolG nicht anwendbar. So BVerfG Abs.-Nr. 30: Den Feststellungen des AG ist nicht zu entnehmen, dass die Zusammenkunft den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechend aufgelöst oder der Beschwerdeführer hiervon ausgeschlossen wurde. Vielmehr hat sich das AG gerade auf den Standpunkt gestellt, dass eine solche Auflösungsverfügung entbehrlich gewesen sei, weil es sich bei der Zusammenkunft bereits nicht um eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG gehandelt habe. Da sich ein Rückgriff auf die Bestimmungen des allgemeinen Polizeirechts, insbesondere die Vorschriften zum Platzverweis, aus Rücksicht auf die Versammlungsfreiheit verbietet, kann das gegen den Beschwerdeführer verhängte Bußgeld nicht auf § 113 OWiG in Verbindung mit § 34 PolG gestützt werden. (Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass auch der Platzverweis das Grundrecht des B aus Art. 8 GG verletzt hat.)
d) Folglich liegt eine dem Gesetzesvorbehalt des Art. 8 II GG entsprechende Rechtfertigung des Eingriffs aus zwei Gründen nicht vor: weil § 113 OWiG keine Rechtsgrundlage für Beschränkungen der Versammlungsfreiheit ist und weil mangels Anwendbarkeit des § 34 PolG kein rechtmäßiger Platzverweis ausgesprochen worden war. Der in dem Urteil das AG liegende Eingriff in Art. 8 GG des B ist nicht gerechtfertigt. Dieses Grundrecht ist verletzt. Die VfB gegen das Urteil des AG ist begründet, so dass das Urteil aufzuheben ist (§ 95 II BVerfGG).
2. Teil. VfB gegen den Bußgeldbescheid der Polizei
I. Da der Bußgeldbescheid der Polizei auf dieselben Vorschriften gestützt war wie das diesen im Ergebnis bestätigende Urteil des AG, steht bereits fest, dass auch der Bußgeldbescheid Art. 8 GG des B verletzt hat.
II. Fraglich ist aber, ob eine VfB gegen den Bußgeldbescheid noch zulässig ist.
1. Wird gegen den Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt, so richtet sich das Verfahren nach §§ 67 ff. OWiG. Die Akten gelangen über die Verwaltungsbehörde und die Staatsanwaltschaft an das Amtsgericht. Nach § 72 III OWiG entscheidet das Amtsgericht darüber, ob der Betroffene freigesprochen, gegen ihn eine Geldbuße festgesetzt…oder das Verfahren eingestellt wird. „Das Gericht darf von der im Bußgeldbescheid getroffenen Entscheidung nicht zum Nachteil des Betroffenen abweichen.“ Daraus ergibt sich, dass der Bußgeldbescheid nach dem Einspruch nur noch eine ganz begrenzte Bedeutung hat: Er ist Prozessvoraussetzung für das nach folgende Verfahren und legt den Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens fest, ähnlich wie Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss im Strafverfahren (Bohnert, Kommentar zum Ordnungswidrigkeitenrecht, 2003, § 65 OWiG Rdnr. 16). Eine selbständige Belastung enthält er nicht mehr. Diese kann sich nur noch aus einem gerichtlichen Urteil ergeben.
2. Deshalb ist gegen den Bußgeldbescheid nach Ergehen eines Urteils eine VfB nicht mehr zulässig: entweder weil es einem Hoheitsakt fehlt, der ein Grundrecht verletzen kann, oder weil der Betroffene kein Rechtsschutzinteresse mehr für eine VfB hat (so BVerfG Abs.-Nr. 33).
Zusammenfassung