Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz
Der folgende Fall enthält die Nachprüfung eines Zivilurteils durch das BVerfG. Der im Zivilprozess Verurteilte ist Beschwerdeführer. In diesem Fall stehen das Persönlichkeitsrecht ohne Menschenwürdebezug und die Meinungsfreiheit einander gegenüber, so dass es zu einem normalen zweistufigen Aufbau mit Prüfung des Eingriffs in den Schutzbereich und dessen Rechtfertigung kommt.
►Meinungsfreiheit, Art. 5 I 1, II GG. ► Unterlassungsanspruch zum Schutz des Persönlichkeitsrechts. ► Verdeckte Tatsachenbehauptung. ► Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit
BVerfG (Kammer-) Beschluss vom 19. 2. 2004 (1 BvR 417/98) NJW 2004, 1942 = JuS 2004, 820
Fall (Erzbischof contra Journalist)
E ist Erzbischof von X. Am 18. 9. richtete Frau F ein Schreiben an das Erzbistum und teilte mit, ein ihr bekannter Gemeindepfarrer habe eine minderjährige Jugendliche zu sexuellen Kontakten genötigt, sie geschwängert, und nach derzeitigem Stand werde die Schwangerschaft in den nächsten Tagen abgebrochen. Nachdem E von mehreren Tagungen und Auslandsbesuchen zurückgekommen war, antwortete er der F, er habe das Schreiben mit großer Bestürzung gelesen und bitte um nähere Hinweise. F wandte sich an B, einen Journalisten, der sich schwerpunktmäßig mit Kirchenfragen befasst. B berichtete in mehreren Zeitungsartikeln und in einer Radiosendung über den Fall. Überschriften und Zwischentitel waren: „Fristenlösung. – Priester schwängerte Minderjährige. – Die katholische Kirche, deren Erzbistum unterrichtet war, wartete bis nach der Abtreibung. – Der schuldige Pfarrer ist nach wie vor im Amt.“ Nachdem weder das Bistum noch die eingeschaltete Staatsanwaltschaft tatsächliche Anhaltspunkte für das in dem Schreiben vom 18. 9. behauptete Geschehen finden konnten, erhob E gegen B Klage vor dem Landgericht und verlangte die Unterlassung der – wörtlich oder sinngemäß, auch verdeckt aufgestellten – Behauptung, das Erzbistum sei in der Lage gewesen, den Schwangerschaftsabbruch bei einer angeblich von einem Priester geschwängerten Minderjährigen zu verhindern oder den Priester aus seinem Amt zu entfernen. Nachdem das LG der Klage stattgegeben hatte, bestätigte das OLG die antragsgemäße Verurteilung des B und führte zur Begründung aus, die von E beanstandeten Behauptungen habe B verdeckt aufgestellt. Aus den Ausführungen des B würden die Leser bzw. Zuhörer schließen, die Identität der Jugendlichen und des Pfarrers sei E bekannt gewesen, so dass dieser die Möglichkeit gehabt habe, hiergegen vorzugehen; beides sei aber nicht zutreffend. Da eine Revision gegen das Urteil des OLG nicht möglich war, hat B hiergegen in zulässiger Weise Verfassungsbeschwerde erhoben. Wie wird das BVerfG entscheiden?
Die VfB ist begründet, wenn B durch das Urteil des OLG in seinem Grundrecht aus Art. 5 I 1 GG (freie Meinungsäußerung) verletzt ist.
I. Dann müssten Grundrechte im vorliegenden Fall anwendbar sein.
1. Das angegriffene Urteil des OLG ist innerhalb einer privatrechtlichen Streitigkeit zwischen E und B ergangen. Im Privatrecht sind die Grundrechte bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe zu berücksichtigen (mittelbare Drittwirkung; vgl. den vorangegangenen Fall).
2. Anspruchsgrundlage für den Unterlassungsanspruch des E sind §§ 1004 I 2 analog, 823 I BGB (vgl. BVerfG S. 1942 unter 2). Als verletztes Recht kommt das Persönlichkeitsrecht des E in Betracht. Die Voraussetzungen, unter denen eine einen Unterlassungsanspruch auslösende Verletzung des Persönlichkeitsrechts vorliegt, sind im Gesetz nicht bestimmt und klar enthalten. Auch ist zu prüfen, ob E die Berichte des B wegen der rechtlich geschützten Interessen des B zu dulden hat (§ 1004 II), was im Gesetz ebenfalls nicht eindeutig geregelt ist. Es bedarf deshalb der Auslegung der genannten Vorschriften, die unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten und bei denen deshalb auch die einschlägigen Grundrechte mit heranzuziehen sind. Somit ist – neben dem Persönlichkeitsrecht des E – auch Art. 5 I des B anzuwenden.
3. Die zur Beachtung dieser Grundsätze verpflichtete Rechtsprechung der Zivilgerichte (und anderer Gerichte) wird vom BVerfG nur auf spezifische Grundrechtsverletzungen hin geprüft, d. h. daraufhin, ob die Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind. Dabei hängt die Intensität der Kontrolle durch das BVerfG von der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung ab.
II. Für eine Verletzung des 5 I 1 GG im vorliegenden Fall muss ein Eingriff in dessen Schutzbereich vorliegen. Dabei kommt der Schutz der allgemeinen Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 hier ungeachtet dessen zur Anwendung, dass B sich im Schutzbereich der Presse- und Rundfunkfreiheit (Art. 5 I 2) bewegt hat. Art. 5 I 1 schützt die Äußerung von Meinungen ohne Rücksicht auf das Verbreitungsmedium, also auch bei der Verbreitung „durch Druck“ und „durch Funk“ (vgl. BVerfGE 85, 1, 11/2; dort S. 12 auch zu den Fällen, die unter Art. 5 I 2 fallen).
1. BVerfG S. 1942 unter 1: Die dem Bf. untersagten Äußerungen fallen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 GG, der neben Werturteilen auch die Äußerung von Tatsachen schützt, die der Meinungsbildung dienen können (vgl. BVerfGE 90, 1 [15]). Die ursprünglichen Medienberichte des Bf. fallen als Kundgabe von meinungsbezogenen Tatsachen und von Werturteilen ebenfalls in den Schutzbereich.
2. Die Verpflichtung zur Beachtung der Grundrechte richtet sich an die entscheidenden Gerichte. Indem diese zum Nachteil des B entschieden und ihm bestimmte Äußerungen verboten haben, liegt ein Eingriff in das Recht des B auf freie Meinungsäußerung vor. Angesichts der beruflichen Spezialisierung des B auf Kirchenfragen handelt es sich um einen intensiven Eingriff, so dass das BVerfG auch eine intensive Prüfung vornimmt.
III. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.
1. Nach Art. 5 II GG unterliegt die Meinungsfreiheit den Schranken, die sich aus den allgemeinen Gesetzen und dem Recht der persönlichen Ehre ergeben. §§ 1004 I analog, 823 BGB sind allgemeine Gesetze, die das Persönlichkeitsrecht und speziell die persönliche Ehre schützen, wobei beides auch Ausfluss der Grundrechte aus Art. 2 I, 1 I ist (dazu im vorangegangenen Fall unter B II 1). BVerfG S. 1942 unter 2: Als Schrankennormen haben die Ausgangsgerichte § 823 I und § 1004 I BGB angewandt und eine Beeinträchtigung der dort geschützten Ehre des Kl. bejaht. Dagegen ist von Verfassungs wegen nichts einzuwenden…
a) Eine Beeinträchtigung der Ehre des E liegt vor, wenn durch unrichtige Tatsachenbehauptungen das Ansehen des E in den Augen anderer Menschen oder der Öffentlichkeit beeinträchtigt wird. Das wäre im vorliegenden Fall zu bejahen, wenn B behauptet hätte, E habe den Fall, der im Schreiben vom 18. 9. angesprochen wurde, und insbesondere die dort erwähnten Personen gekannt und gleichwohl nichts unternommen. Jedenfalls in dieser ausdrücklichen Form hat B solche Behauptungen aber nicht aufgestellt.
b) Eine Ehrverletzung kann sich auch aus einer verdeckten Tatsachenbehauptung ergeben (ebenso wie eine „unechte“ = rhetorische Frage einer Tatsachenbehauptung gleich stehen kann: BGH NJW 2004, 1034 = JurTel 2004 Heft 9 S. 183). Dabei verlangt der BGH (BGHZ 78, 9, 14 f; NJW 2000, 656/7), dass bei der Annahme solcher verdeckter Aussagen eine besondere Zurückhaltung geboten ist. Eine im Zusammenspiel der offenen Aussagen enthaltene zusätzliche eigene Sachaussage des Autors muss die Grenzen des Denkanstoßes überschreiten und sich dem Leser als unabweisliche Schlussfolgerung nahe legen (BVerfG S. 1942 unter a). Die Auffassung des OLG, dass diese Voraussetzungen hier erfüllt sind, hat das BVerfG nicht beanstandet, so dass eine Beeinträchtigung der Ehre des E durch verdeckte Tatsachenbehauptungen des B zu bejahen ist.
2. Beschränkungen nach Art. 5 II wirken aber nicht einseitig zu Lasten der Meinungsfreiheit, sondern müssen der Bedeutung der Meinungsfreiheit Rechnung tragen (BVerfGE 7, 198, 208; Wechselwirkungslehre).
a) Grundsätzlich bedarf es einer Abwägung zwischen dem unter Art. 5 II fallenden Persönlichkeits- und Ehrenschutz mit der Meinungsfreiheit (vgl. auch BGH NJW 2004, 2008, 2010 zu einer Abwägung zwischen Testierfreiheit und Eheschließungsfreiheit). Dazu hat das BVerfG konkretisierende Grundsätze entwickelt, insbesondere dass Inhalt und Bedeutung der Meinungsäußerung zutreffend erfasst werden müssen (BVerfG S. 1942 unter a), und dass bei Wertungen, die einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung enthalten, eine Vermutung zu Gunsten der freien Rede spricht (BVerfGE 93, 266, 294/5, „Soldaten sind Mörder“). Für den vorliegenden Fall wird bedeutsam, dass bei der Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und Meinungsfreiheit es zu Lasten der letzteren geht, wenn tatsächliche Behauptungen aufgestellt werden, die unzutreffend sind. Denn unwahre nachteilige Behauptungen brauchen grundsätzlich nicht geduldet zu werden (BVerfG NJW 2000, 2414; 2003, 1856/7). Das gilt auch bei verdeckten Tatsachenbehauptungen. Im vorliegenden Fall entsprachen die verdeckt erhobenen Behauptungen des B nicht den Tatsachen. Somit kommt dem Persönlichkeitsrecht des E grundsätzlich Vorrang zu.
b) Sind demzufolge Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu Gunsten des Persönlichkeitsrechts vorzunehmen, müssen diese, wie das BVerfG in der vorliegenden Entscheidung klarstellt, dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechen. Danach muss ein zu einem bestimmten Zweck eingesetztes Mittel geeignet, erforderlich (notwendig) und angemessen (verhältnismäßig i. e. S.) sein.
(1) Mittel ist hier die Verurteilung des B zur Unterlassung, so wie sie von E gefordert wurde. Zweck ist der Schutz der persönlichen Ehre des E. Die Unterlassung der bisherigen Behauptungen des B ist zweifellos geeignet, weitere Beeinträchtigungen der Ehre des E zu verhindern.
(2) Das BVerfG verneint jedoch die Erforderlichkeit, wobei es auch die weite und ziemlich unbestimmte Fassung der Verurteilung beanstandet. S. 1943 unter aa) und bb): Die Verurteilung zur Unterlassung einer Äußerung muss im Interesse des Schutzes der Meinungsfreiheit auf das zum Rechtsgüterschutz unbedingt Erforderliche beschränkt werden. Um überschießende Wirkungen, insbesondere eine rechtlich nicht gebotene Zurückhaltung oder gar eine Einschüchterung bei weiteren Äußerungen auszuschließen, muss die Verurteilung klar erkennen lassen, welche Aussage der Grundrechtsträger unterlassen soll. Wird eine durch Auslegung anderer Äußerungen ermittelte „verdeckte“ Aussage untersagt, muss der Bekl. zweifelsfrei erkennen können, welche Teile der ursprünglichen Äußerung von dem Unterlassungsgebot erfasst sind. Andernfalls ist er dem Druck ausgesetzt, zur Vermeidung einer Vollstreckungsmaßnahme nach § 890 ZPO auch Äußerungen zu unterlassen, die unbedenklich sind.
Indem das OLG den B verurteilt hat, die vom Kläger E aufgeführten Aussagen auch „verdeckt“ nicht mehr zu erheben, entsteht bei diesem eine erhebliche Ungewissheit darüber, was er bei künftigen Berichten noch äußern darf. BVerfG: Welche konkreten Äußerungen aus diesen Berichten zu unterlassen sind, ist den Urteilen nicht, auch nicht unter Hinzuziehung der Gründe, zu entnehmen. Ein milderes Mittel wäre gewesen, dem B nicht „sinngemäße“ oder „verdeckte“ Behauptungen zu verbieten, sondern ihn zu verurteilen, diejenigen Teile einzelner Berichte nicht mehr zu verbreiten, aus denen sich die streitige verdeckte Tatsachenbehauptung ergibt.
Da die vom OLG vorgenommene Verurteilung bereits unter dem Aspekt der Erforderlichkeit gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstößt, hat das BVerfG die Angemessenheit nicht mehr geprüft (S. 1942 unter b). Es hat der VfB wegen Verletzung des Art. 5 I 1 stattgegeben und das Urteil des OLG aufgehoben, so dass das OLG erneut und unter Berücksichtigung der Ausführungen des BVerfG entscheiden muss.
Zusammenfassung