Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht. Verfassungsgerichtliche Kontrolle zivilgerichtlicher Urteile durch Urteilsverfassungsbeschwerde; spezifische Grundrechtsverletzung. Allgemeines Persönlichkeitsrecht; persönliche Ehre, Art. 2 I GG. Achtungsanspruch aus der Menschenwürde, Art. 1 I GG. Geldentschädigung wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts

BVerfG (Kammer-) Beschluss vom 4. 3. 2004 (1 BvR 2098/01) NJW 2004, 2371 unter Einbeziehung von BVerfG NJW 2004, 2008

Fall (Griechenhure)

Frau F, die griechischer Abstammung ist, und Frau B sind Nachbarinnen. Zwischen ihnen war es zu einer Auseinandersetzung gekommen. Am Abend desselben Tages sprach B, der Ehemann der Frau B, der bei dem Streit nicht dabei war, auf den Anrufbeantworter der F folgenden Text: „Hallo, du fette hässliche Griechenhure, wir werden dich fertig machen, du Griechenscheißstück, du Hurenbastard.“ Wegen dieser Äußerungen verklagte F den B vor dem Amts- und Landgericht auf Zahlung eines „Schmerzensgeldes“. Das LG, gegen dessen Urteil kein Rechtsmittel mehr möglich war, wies die Klage ab und stützte sich darauf, es habe sich um eine einmalige Überreaktion aus Anlass eines Nachbarstreits gehandelt. Die Äußerung sei niemandem anderes bekannt geworden. Frau B habe sich gleich am nächsten Morgen um die Wiederherstellung normaler Beziehungen zwischen den Parteien bemüht und eine Entschuldigung des B angeboten; F habe aber keine Entschuldigung verlangt. Aus diesen Umständen ergebe sich, dass die Äußerung des B nicht die für die Zuerkennung einer Entschädigung erforderliche Intensität aufweise. Gegen das Urteil des LG will F Verfassungsbeschwerde erheben. Mit Aussicht auf Erfolg ?

A. Die Zulässigkeit der VfB ergibt sich aus §§ 90 ff. BVerfGG:

1. Angreifbarer Hoheitsakt ist das Urteil des LG, so dass es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde handelt.

2. F kann geltend machen, in ihren Grundrechten aus Art. 2 I, 1 I GG verletzt zu sein, weil das Urteil ihr die beantragte Genugtuung für eine zugefügte Beleidigung versagt hat.

An dieser Stelle könnte die Frage aufgeworfen werden, ob die Grundrechte hier überhaupt anwendbar sind, denn andernfalls könnten sie nicht verletzt sein. Dann wäre die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung bereits an dieser Stelle zu behandeln. Da für die Zulässigkeit der VfB aber die Behauptung einer Grundrechtsverletzung genügt und im Ergebnis die Anwendbarkeit der Grundrechte außer Zweifel steht, wird auf diese Frage erst innerhalb der Begründetheit eingegangen, zumal sie dort auch den Einstieg in die weitere Prüfung erleichtert.

3. Ein Rechtsmittel ist nicht mehr möglich, so dass der Rechtsweg erschöpft ist.

4. F muss die Monatsfrist für die Erhebung der VfB einhalten und die VfB innerhalb der Frist auch begründen.

B. Begründetheit der VfB

I. F könnte durch das Urteil des LG in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG) verletzt sein. Da das Urteil einen Streit zwischen Privaten und damit die Anwendung des Privatrechts betrifft, ist zunächst zu prüfen, ob das Grundrecht des Art. 2 I überhaupt anwendbar und wie diese Anwendung vom BVerfG innerhalb eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu überprüfen ist.

1. Grundsätzlich sind nur die Staatsorgane an die Grundrechte gebunden (Art. 1 III GG), nicht dagegen Private. Privatpersonen können insbesondere über die Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen frei entscheiden und brauchen beispielsweise ihre möglichen Vertragspartner nicht nach Art. 3 I GG gleich zu behandeln. Allein dass ein Gericht Recht spricht, reicht, wenn es über die Rechtsbeziehungen Privater und deren Rechte und Pflichten untereinander urteilt, für eine Anwendung der Grundrechte i. S. des Art. 1 III nicht aus. Jedoch gilt die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht. BVerfG NJW 2004, 2009 unter 1: Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG verkörpert sich in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und der vor allem auch bei der Interpretation zivilrechtlicher Generalklauseln maßgebliche Bedeutung zukommt. Indem § 138 und § 242 BGB ganz allgemein auf die guten Sitten, die Verkehrssitte sowie Treu und Glauben verweisen, verlangen sie von den Gerichten eine Konkretisierung am Maßstab von Wertvorstellungen, die in erster Linie von den Grundsatzentscheidungen der Verfassung bestimmt werden (vgl. BVerfGE 7, 198 [206 f.]; 42, 143 [148]; 89, 214 [229 f.]). Wenn das BVerfG ausdrücklich nur die Generalklauseln hervorhebt, soll dadurch der Anwendungsbereich der Drittwirkung nicht auf diese begrenzt werden, wie sich aus „vor allem auch“ ergibt. Auch bei der Auslegung anderer, insbesondere sog. unbestimmter Rechtsbegriffe kann der Einfluss der Grundrechte zu beachten sein. Das gilt erst recht bei einer richterlichen Rechtsfortbildung, die praktisch an die Stelle einer Regelung des an die Grundrechte gebundenen Gesetzgebers (Art. 1 III) tritt.

2. Im vorliegenden Fall müsste bei dem Rechtsstreit der F gegen B eine Generalklausel oder ein unbestimmter Rechtsbegriff zur Anwendung kommen, bei deren Auslegung die Grundrechte zu berücksichtigen sind.

a) Der von F geltend gemachte Anspruch auf ein „Schmerzensgeld“ ergibt sich noch nicht aus § 253 II BGB, denn diese Vorschrift hat die Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung zur Voraussetzung, die im Fall der F nicht vorliegt. Hier handelt es sich um einen Anspruch auf Ersatz eines immateriellen Schadens wegen einer schweren und schuldhaften Verletzung des Persönlichkeitsrechts, für die keine Möglichkeit anderweitiger Genugtuung besteht. Dieser Anspruch wird auf einen Schutzauftrag aus Art. Art. 1 und 2 I GG gestützt (BGHZ 143, 218; BVerfG NJW 2004, 2372 unter a. Anspruchsgrundlage ist also § 823 I BGB i. V. mit dem Schutzauftrag aus Art. 1 I, 2 I GG.

b) Da bei dieser Anspruchsgrundlage eine schwere Persönlichkeitsverletzung zu prüfen ist, handelt es sich um die Anwendung einer Generalklausel bzw. eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Dass hierbei auch Grundrechte zu berücksichtigen sind, ist besonders naheliegend, weil der Anspruch aus den Grundrechten entwickelt wurde. Somit sind bei der Entscheidung über den Anspruch der F auch Grundrechte anzuwenden.

3. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass die Anwendung der Grundrechte vom BVerfG unbegrenzt zu überprüfen wäre. Vielmehr bleibt das Aufgabe der Fachgerichte, bei Anwendung der Grundrechte im Privatrecht also Aufgabe der Zivilgerichte. Nach st. Rspr. des BVerfG gilt (so BVerfG NJW 2004, 2009 unter 1; vgl. auch im vorliegenden Fall NJW 2004, 2371/2 unter 1), dass das BVerfG die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts grundsätzlich nicht nachzuprüfen hat. Ihm obliegt es lediglich, die Beachtung der grundrechtlichen Normen und Maßstäbe durch die ordentlichen Gerichte sicherzustellen. Daher kann es einer zivilgerichtlichen Entscheidung nicht schon dann entgegentreten, wenn es selbst bei der Beurteilung widerstreitender Grundrechtspositionen die Akzente anders gesetzt und daher anders entschieden hätte (vgl. BVerfGE 214 [230]). Die Schwelle eines Verstoßes gegen Verfassungsrecht, den das BVerfG zu korrigieren hat, ist vielmehr erst erreicht, wenn die Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind. (Eine solche spezifische Grundrechtsverletzung hat das BVerfG allerdings sowohl im vorliegenden Fall NJW 2004, 2371, wie noch darzulegen ist, bejaht, als auch im Fall NJW 2004, 2008 sowie in der Entscheidung NJW 2004, 1942.) Bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe lassen sich die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des BVerfG nicht starr und gleichbleibend ziehen; ihm muss ein gewisser Spielraum bleiben, der die Berücksichtigung der besonderen Lage des Einzelfalls ermöglicht. Von Bedeutung ist dabei namentlich die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung: Je mehr eine zivilgerichtliche Entscheidung grundrechtsgeschützte Voraussetzungen freiheitlicher Existenz und Betätigung verkürzt, desto eingehender muss die verfassungsgerichtliche Prüfung sein, ob eine solche Verkürzung verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist (vgl. BVerfGE 18, 85 [93]; 42, 163 [168]).

Diese Grundsätze gelten nicht nur für die Überprüfung von Zivilurteilen, sondern für alle Arten von Urteilsverfassungsbeschwerden, z. B. auch für die Überprüfung von Strafurteilen (BVerfGE 93, 292) und von verwaltungsgerichtlichen Urteilen (z. B. BVerwGE 94, 396). Weitere Beispiele dazu bilden noch der unten behandelte Fall „Gegen den Synagogenbau in Bochum“ sowie der Fall „Wunderheiler“ in JurTel 2005 Heft 3.

II. Folglich sind im Folgenden die zum Persönlichkeitsschutz entwickelten Grundsätze darzustellen, und es ist zu prüfen, ob das LG diese – entsprechend der Intensität der Beeinträchtigung – grundsätzlich verkannt hat.

1. BVerfG NJW 2004, 2372 unter a). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist als eigenständiges Grundrecht aus Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG entwickelt worden. Es gewährleistet die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen (vgl. BVerfGE 54, 148 [153]; 72, 155 [170]) und damit auch den Schutz der persönlichen Ehre (vgl. BVerfGE 54, 208 [217]; 93, 266 [290]).… Der Kern der Persönlichkeit deckt sich mit dem Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 I GG. Das BVerfG verpflichtet deshalb auf S. 2372 unter b) die Gerichte dazu, bei der Frage der Persönlichkeitsverletzung auch zu prüfen, ob die Äußerung den Achtungsanspruch berührt, der sich aus der Menschenwürde ergibt, oder nur eine Persönlichkeitsbeeinträchtigung geringerer Intensität darstellt. S. 2372 unter aa (1): Mit der Menschenwürde als oberstem Wert des Grundgesetzes kommt dem Menschen ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch zu… Dieser Anspruch ist insbesondere verletzt, wenn die Diffamierung einer Person Ausdruck ihrer Missachtung ist, etwa durch Leugnung oder Herabsetzung der persönlichen Eigenschaften und Merkmale, die das Wesen des Menschen ausmachen. Art. 1 I GG verpflichtet den Staat, alle Menschen gegen Angriffe auf die Menschenwürde zu schützen (…). Der Schutz der Menschenwürde ist absolut und erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Auch die Privatsphäre ist daher geschützt (vgl. BVerfG NJW 2004, 999).

2. BVerfG S. 2372 unter (2): Die Feststellung, ob der auf der Menschenwürde beruhende Achtungsanspruch durch eine Äußerung verletzt wird, setzt deren Deutung voraus. Zu berücksichtigen sind ihr Wortlaut und die Begleitumstände.

(a) Die auf dem Anrufbeantworter aufgezeichneten Worte stellen eine gehässige Schmähung dar. Sie würdigen die Bf. in mehrfacher Hinsicht herab: Als Frau durch die Bezeichnung als Prostituierte („Hure“), wegen ihrer Herkunft, die als ehrenrührig und verächtlich dargestellt wird („Griechenhure“, „Griechenscheißstück“), und in ihrer äußeren Erscheinung („fett“, „hässlich“)…

(b) Der Kontext einer Äußerung kann ergeben, dass die Worte nicht so gemeint waren und eventuell auch nicht so verstanden wurden… Ist eine Äußerung ihrem Wortlaut nach Ausdruck tiefer Verachtung, indiziert dies eine besondere Schwere der Verletzung. Die vom LG aufgeführten Begleitumstände reichen nicht, das Gewicht der Verletzung zu verringern. Dass es sich um eine möglicherweise einmalige Reaktion handelt, rechtfertigt keine mildere Beurteilung, weil eine schwere Persönlichkeitsverletzung keine wiederholten Angriffe voraussetzt. Auch ist der Persönlichkeitsschutz nicht davon abhängig, dass andere Personen Kenntnis von der verletzenden Äußerung erlangt haben. Nachbarschaftliche Beziehungen sind kein Milderungsgrund. Eine Entschuldigung kann nur dann entlastend berücksichtigt werden, wenn sie vom Schädiger ausgeht, was hier nicht der Fall ist. Somit handelt es sich um eine gehässige Schmähung, die den auf der Menschenwürde aufbauenden Achtungsanspruch auf schwere Weise verletzt.

Angesichts der festgestellten Verletzung der Menschenwürde der F kommt eine Abwägung mit dem Recht des B auf freie Meinungsäußerung nicht mehr in Betracht. Der Schutz der Menschenwürde ist absolut und nicht mehr abwägungsfähig (BVerfG NJW 2001, 61 ff.; Schmalz, Grundrechte, 4. Aufl. 2001, Rdnr. 452 m. w. N.; Folge ist, dass Art. 1 I GG nur einstufig zu prüfen ist). Selbst eine Heranziehung des Art. 5 I würde aber am Ergebnis nichts ändern, weil es sich bei der Äußerung des B um eine nicht mehr von Art. 5 I gerechtfertigte Schmähkritik handelt; vgl. auch Bölke NJW 2004, 2352.

3. Da das LG diese Erkenntnisse nicht gewonnen und zur Grundlage seines Urteils gemacht hat, hat es das Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde der F in einer Weise verkannt, die angesichts der intensiven Kränkung der F als spezifische Grundrechtsverletzung zu werten ist. F wird durch das Urteil in ihrem Grundrecht aus Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I verletzt. Das BVerfG hebt das landgerichtliche Urteil auf (§ 95 II BVerfGG) und verweist das Verfahren an das LG zurück. Welche immaterielle Entschädigung F von B verlangen kann, wird vom BVerfG nicht entschieden. Im vorliegenden Fall hatte das Amtsgericht als erste Instanz der F eine Entschädigung in Höhe von 1.000 € zugesprochen.

Zusammenfassung