Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

Berufsfreiheit; Beschränkung der Berufswahl, Art. 12 I GG. Grundrechtsverletzung durch Gesetzesauslegung. Verhältnismäßigkeit

BVerfG Beschluss vom 3. 6. 2004 (1802/02) NJW 2004, 2890

Fall (Wunderheiler)

Nach § 1 Heilpraktikergesetz (HeilprG) bedarf der Erlaubnis, wer die Heilkunde ausübt, ohne Arzt zu sein. Verstöße sind nach § 5 HeilprG strafbar. B betätigt sich als „Wunderheiler“. Eine Erlaubnis nach dem HeilprG hat er nicht; er hat lediglich ein Gewerbe unter der Bezeichnung „Heilende Hände“ angemeldet. Zu ihm kommen vor allem Schwerstkranke, bei denen eine schulmedizinische Behandlung keinen Erfolg mehr verspricht. Er behandelt sie – nachdem er ein Gebet gesprochen hat – durch Handauflegen. Zuvor überreicht er den Patienten ein Informationsblatt, das über das zu zahlende Honorar informiert und in dem darauf hingewiesen wird, dass das Handauflegen die ärztliche Behandlung nicht ersetzen könne und dass diese ggfs. fortgesetzt werden müsse. Die zuständige Behörde hielt diese Tätigkeit für unerlaubt und veranlasste ein Strafverfahren, in dem gegen B nach § 5 HeilprG eine Geldstrafe verhängt wurde. Nach Auffassung des Strafgerichts reicht es für eine Erlaubnispflicht nach § 1 HeilprG aus, dass durch die Tätigkeit der Eindruck entsteht, die Krankheit könne geheilt oder gelindert werden („Eindruckstheorie“, so OLG Frankfurt NJW 2000, 1807; BGH NJW 1978, 599). Nach Erschöpfung des Rechtswegs hat B in zulässiger Weise VfB erhoben. Mit Aussicht auf Erfolg ?

Eine VfB ist begründet, wenn der Beschwerdeführer in einem seiner Grundrechte verletzt ist. B könnte in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) verletzt sein.

I. Dann müsste ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts vorliegen.

1. Beruf ist jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit, die auf eine gewisse Dauer angelegt ist und der Schaffung oder Erhaltung der Lebensgrundlage dient (BVerfG DVBl 2004, 889; BVerfGE 102, 197, 212). Die Tätigkeit des B ist auf Dauer angelegt, dient dem Erwerb und dadurch der Erhaltung seiner wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Sie ist ein Beruf.

2. Durch die Bestrafung wegen Fehlens einer Erlaubnis wird dem B in hoheitlicher Form erklärt, dass diese berufliche Tätigkeit derzeit unzulässig ist. Darin liegt ein Eingriff in die Freiheit beruflicher Betätigung.

II. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.

1. Welche Anforderungen an die Rechtfertigung gelten, ergibt sich bei Art. 12 I aus der näheren Einordnung der Art des Eingriffs.

a) Zu unterscheiden sind Regelungen der Berufswahl und der Berufsausübung. In der Bestrafung des B liegt die Erklärung, dass B ohne Erlaubnis in diesem Beruf nicht tätig sein darf. Damit ist das Ob der beruflichen Betätigung betroffen, es wird in die Freiheit der Berufswahl eingegriffen.

b) Obwohl Art. 12 I 2 einen Gesetzesvorbehalt nur für die Berufsausübung enthält, ist anerkannt, dass auch die Berufswahl Schranken unterliegt (BVerfGE 7, 378 LS 5; 84, 148), dass also auch für Regelungen der Berufswahl ein Gesetzesvorbehalt gilt. Das Gebrauchmachen davon ist aber an relativ strenge Voraussetzungen geknüpft. BVerfG S. 2890 unter b): Eingriffe in die Freiheit der Berufswahl sind nach ständiger Rechtsprechung nur unter engen Voraussetzungen zum Schutze besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft (vgl. BVerfGE 93, 213 (235)). Zunächst bedarf es aber eines Gesetzes. Im vorliegenden Fall könnten §§ 1, 5 HeilprG das den Gesetzesvorbehalt ausfüllende Gesetz sein.

2. Dieses Gesetz müsste verfassungsmäßig sein. Es darf insbesondere nicht gegen Art. 12 I GG verstoßen. BVerfG S. 2890 unter a): Das Ziel des HeilprG, die Gesundheit der Bevölkerung durch einen Erlaubniszwang für Heilbehandler ohne Bestallung [= Bestallung zum Arzt] zu schützen, ist grundsätzlich mit Art. 12 I GG vereinbar (vgl. BVerfGE 78, 179 [192]). Bei Beschränkungen der Berufswahl wird zwischen objektiven und subjektiven Zulassungsvoraussetzungen unterschieden. Da die Zulassung nach § 1 HeilprG durch Nachweis der Sachkunde, also durch Erfüllung einer von persönlichen Fähigkeiten abhängigen Voraussetzung erlangt werden kann, handelt es sich um eine subjektive Zulassungsvoraussetzung. Diese ist zulässig, wenn sie Voraussetzung für die ordnungsgemäße Ausübung des Berufs ist oder dem Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaftsguts dient und im Übrigen verhältnismäßig ist. BVerfG: Bei der Gesundheit der Bevölkerung handelt es sich um ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut, zu dessen Schutz eine solche subjektive Berufszulassungsschranke nicht außer Verhältnis steht. Dass heilkundliche Tätigkeit grundsätzlich nicht erlaubnisfrei sein soll, hat im Hinblick auf das Schutzgut Gesundheit seinen Sinn.

Somit ist das HeilprG verfassungsmäßig.

3. Der Einfluss des Grundrechts muss aber auch bei der Auslegung und Anwendung des Gesetzes beachtet werden. Die Auslegung des Gesetzes darf zu keinem Inhalt führen, der, würde er vom Gesetzgeber so geregelt, das Grundrecht verletzen würde. – Es handelt sich um die bei Urteilsverfassungsbeschwerden erforderliche grundrechtsspezifische Verletzung im Unterschied zu einfachen Rechtsanwendungsfehlern, die das BVerfG im VfB-Verfahren nicht überprüft; vgl. dazu den in JurTel 2005 Heft 2 behandelten Fall „Griechenhure“.

a) Im vorliegenden Fall hat das Strafgericht die Tätigkeit des B als Ausübung der Heilkunde i. S. des § 1 HeilprG angesehen und dies mit der „Eindruckstheorie“ begründet. Danach übt nicht nur derjenige die Heilkunde aus, der wirklich zu heilen beabsichtigt, sondern auch bereits derjenige, der diesen Anschein erweckt. Diese Ausdehnung des § 1 HeilprG steht nur dann mit Art. 12 I GG in Einklang, wenn sie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wahrt. Dieses ist hier in einer relativ strengen Form anzuwenden, weil die ausdehnende Auslegung des § 1 HeilprG zu einer Beschränkung der Berufswahl des B und zu einer Geldstrafe geführt hat, also zu scharfen Eingriffen in die Grundrechte des B aus Art. 12 I, 2 I GG.

b) Folglich müsste die erweiternde Auslegung des § 1 HeilprG durch die „Eindruckstheorie“, die den B der Erlaubnispflicht unterworfen hat, geeignet, erforderlich und angemessen sein, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Alle drei Elemente der Verhältnismäßigkeit sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

(1) BVerfG S. 2890 unter aa): Die Erlaubnispflicht nach dem Heilpraktikergesetz ist im Fall des Bf. schon nicht geeignet, den mit ihr erstrebten Zweck des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung zu erreichen. Die Heilertätigkeit des Bf. beschränkt sich nach den fachgerichtlichen Feststellungen im Wesentlichen auf das Handauflegen. Ärztliche Fachkenntnisse sind hierfür nicht erforderlich, zumal der Bf. unabhängig von etwaigen Diagnosen einheitlich durch Handauflegen handelt… Die Heilpraktikererlaubnis soll die Patienten in ihrer Erwartung schützen, dass sie in Anwendung medizinischer Kenntnisse behandelt werden, und verhindern, dass eine notwendige medizinische Behandlung unterbleibt. Ein so genannter Wunderheiler, der spirituell wirkt und den religiösen Riten näher steht als der Medizin, weckt im Allgemeinen die Erwartung auf heilkundlichen Beistand schon gar nicht. Die Gefahr, notwendige ärztliche Hilfe zu versäumen, wird daher eher vergrößert, wenn geistiges Heilen als Teil der Berufsausübung von Heilpraktikern verstanden wird (vgl. BVerfG NJW-RR 2004, 705)… Je weiter sich das Erscheinungsbild des Heilers von einer medizinischen Behandlung entfernt, desto geringer wird das Gefährdungspotenzial, das im vorliegenden Zusammenhang allein geeignet ist, die Erlaubnispflicht nach dem Heilpraktikergesetz auszulösen.

(2) BVerfG S. 2891 unter bb): Ferner fehlt es auch an der Erforderlichkeit der Erlaubnispflicht – und der damit zusammenhängenden Strafdrohung – zum Schutz der Gesundheit. Erforderlich ist hier nur, dass den Patienten klar ist, dass B ihnen keine medizinische Hilfe gewährt. Einer Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten auf den Gebieten, die den Heilpraktiker kennzeichnen, bedarf es hierzu nicht… Es muss gewährleistet sein, dass der Bf. die Kranken zu Beginn des Besuchs ausdrücklich darauf hinweist, dass er eine ärztliche Behandlung nicht ersetzt. Hierfür hat der Bf. Sorge getragen…

(3) BVerfG S. 2891 unter c): Der Bf. hätte auf der Grundlage der fachgerichtlichen Rechtsauffassung seine Verurteilung nur abwenden können, indem er die für die Erlaubniserteilung nach dem Heilpraktikergesetz erforderliche Heilpraktikerprüfung abgelegt hätte. Diese Forderung ist jedoch unangemessen, weil eine derartige Prüfung mit der Tätigkeit, die der Bf. ausübt, kaum noch in einem erkennbaren Zusammenhang steht. Die in der Prüfung vorausgesetzten Kenntnisse kann der Bf. bei seiner Berufstätigkeit nicht verwerten.

Folglich verstößt die Auslegung der §§ 1, 5 HeilprG durch das Strafgericht gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und verletzt damit Art. 12 I GG in grundrechtsspezifischer Weise. BVerfG S. 2890 unter b): Die angegriffenen Entscheidungen haben Bedeutung und Tragweite von Art. 12 I GG verkannt, indem sie die Tätigkeit des Bf. als „Ausübung der Heilkunde“ im Sinne des HeilprG angesehen haben.

Die VfB ist begründet. Das BVerfG hebt das Strafurteil auf (§ 95 II BVerfGG).

Zusammenfassung