► Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) durch Auferlegung einer Geldzahlungspflicht. ► Betreuungsunterhalt nach § 1615 l BGB; Problem der Befristung (§ 1615 l II 3). ► Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung, insbesondere durch das Verwerfungsmonopol des BVerfG nach Art. 100 GG
BVerfG Beschluss vom 7. 11. 2005 (1 BvR 1178/05) NJW 2006, 1339
Fall (Verlängerte Unterhaltsleistung)
Frau A und Herr B sind die Eltern des Kindes K. Sie sind nicht verheiratet und leben auch nicht zusammen. Nach der Geburt des K verlangte und erhielt A von B Betreuungsunterhalt nach § 1615 l Absatz 2 BGB. Entsprechend der in § 1615 l Absatz 2 Satz 3 BGB getroffenen Regelung, wonach die Unterhaltsverpflichtung des Vaters gegenüber der Mutter drei Jahre nach der Geburt endet, stellte B nach Ablauf von drei Jahren die Zahlungen an A ein. A, die nach wie vor das Kind versorgt und erzieht und deshalb keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, klagte auf Weiterzahlung. Der Prozess gelangte an das Kammergericht (KG) Berlin, das zu dem Ergebnis kam, die Begrenzung des Anspruchs auf drei Jahre verstoße gegen Art. 6 V GG, wonach jede Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gesellschaft hat. Mit dieser Begründung legte es die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 1615 l II 3 gemäß Art. 100 GG dem BVerfG vor, das über den Vorlagebeschluss noch nicht entschieden hat. Für die Zwischenzeit erließ das KG am 7. 4. eine einstweilige Anordnung, wonach B an A vorläufig und befristet auf ein Jahr weiter Betreuungsunterhalt zu zahlen hat. Diese Entscheidung sei zulässig und geboten: Zwar stehe dem BVerfG gemäß Art. 100 GG das Verwerfungsmonopol gegenüber formellen Gesetzen zu. Solange eine Entscheidung aber nicht ergangen sei, verlange das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG) zu Gunsten der A, dass diese vorläufig den Unterhalt weiter erhalte, auf den sie angewiesen sei. Gegenüber dem Beschluss vom 7. 4. ist ein zivilprozessuales Rechtsmittel nicht mehr vorgesehen. B hat gegen den Beschluss vom 7. 4. form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde erhoben. Wie ist über diese zu entscheiden ?
A. Die VfB ist zulässig gemäß §§ 90 ff. BVerfGG: Angegriffener Hoheitsakt ist der Beschluss des KG vom 7. 4. Beschwerdeführer B kann geltend machen, dadurch in seinem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) verletzt zu sein. Der Rechtsweg ist erschöpft, da gegenüber dem Beschluss kein Rechtsmittel zur Verfügung steht. Die VfB wurde form- und fristgerecht erhoben.
B. Eine VfB ist begründet, wenn der Beschwerdeführer durch den angegriffenen Hoheitsakt in einem seiner Grundrechte verletzt wird. Ein spezielles Grundrecht greift zu Gunsten des B nicht ein. Es kommt deshalb das Auffanggrundrecht des Art. 2 I GG in Betracht.
I. Art. 2 I schützt – neben dem Persönlichkeitsrecht und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung – die allgemeine Handlungsfreiheit. Danach kann grundsätzlich „jeder tun und lassen was er will“. Diese Freiheit umfasst auch die Entscheidung über den Umgang mit dem eigenen Geld und Vermögen. BVerfG: Die Auferlegung von Unterhaltsverpflichtungen schränkt den Verpflichteten in seiner durch Art. 2 I GG geschützten Handlungsfreiheit ein (vgl. BVerfGE 57, 361 [378]).
Obwohl es hier letztlich um Ansprüche zwischen Privaten geht, löst das BVerfG nicht über die Grundsätze zur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht, sondern wendet das Grundrecht direkt auf den Beschluss des KG an. Das lässt sich damit rechtfertigen, dass das zentrale Problem in der Befugnis des Gerichts (KG) zu der vorgenommenen Rechtsfortbildung besteht und eine Rechtsfortbildung durch Verfassungsrecht, insbesondere die Grundrechte der Beteiligten, beschränkt wird. Grundrechte sind deshalb unmittelbar anwendbar.
Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 I liegt vor.
II. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein
1. Grundlage für die Rechtfertigung kann die in Art. 2 I enthaltene Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung sein. Sie wird weit verstanden als verfassungsmäßige Rechtsordnung, die sämtliche formell und materiell verfassungsmäßigen Rechtsnormen umfasst. Praktisch steht die allgemeine Handlungsfreiheit unter einem Gesetzesvorbehalt.
BVerfG: Abgesehen von einem absolut geschützten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist die allgemeine Handlungsfreiheit nur in den Schranken des zweiten Halbsatzes des Art. 2 I GG gewährleistet und steht damit insbesondere unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen (Rechts-)Ordnung (vgl. BVerfGE 6, 32 [37 f.]; 74, 129 [152]; 80, 137 [153]). Zu dieser verfassungsmäßigen Ordnung gehören die vom Normgeber gesetzten Rechtsnormen, mithin auch das Unterhaltsrecht, soweit es mit dem Grundgesetz in Einklang steht.
2. Der Eingriff in die Handlungsfreiheit des B ist somit gerechtfertigt, wenn sich die Belastung des B, die in der Pflicht zur Weiterzahlung des Unterhalts an A liegt, auf eine verfassungsmäßige Vorschrift des Unterhaltsrechts stützen lässt.
a) Eine ausdrückliche Anspruchsgrundlage für den von A verlangten und vom KG vorläufig zugesprochenen Unterhalt gibt es nicht, im Gegenteil: § 1615 l II 3 begrenzt die Unterhaltspflicht auf drei Jahre – von dem dort enthaltenen Ausnahmefall bei grober Unbilligkeit abgesehen – und schließt damit einen über drei Jahre hinaus gehenden Anspruch grundsätzlich aus.
b) Etwas anderes könnte sich aber daraus ergeben, dass das KG die Begrenzung für verfassungswidrig hält und eine solche Verfassungswidrigkeit auch möglich erscheint. Ob mit Rücksicht darauf ein normales Gericht angesichts des in Art. 100 GG dem BVerfG vorbehaltenen Verwerfungsmonopols die vorläufige Weiterzahlung von Unterhalt anordnen darf, ist durchaus zweifelhaft.
Grundsätzlich haben auch die normalen (Fach-)Gerichte bei hinreichendem Anlass die Befugnis zur (richterlichen) Rechtsfortbildung. Im vorliegenden Fall entsteht dadurch, dass das BVerfG noch nicht entschieden hat und auch nicht abzusehen ist, wann eine Entscheidung ergeht, ein regelungsbedürftiger Fall, der aber gesetzlich nicht geregelt ist. Es fragt sich, ob A zunächst ohne Anspruch bleiben und damit den Nachteil aus der noch nicht ergangenen Entscheidung des BVerfG tragen soll, oder ob dieser Nachteil – etwa mit Rücksicht auf den hohen Schutzzweck des Art. 6 V GG – zunächst von B zu tragen ist, indem dieser vorläufig zur Weiterzahlung des Unterhalts verpflichtet werden kann. Das KG hatte diese Frage im letzteren Sinne entschieden.
Es geht hier also um die Befugnis und die Grenzen zur richterlichen Rechtsfortbildung. Diese Grenzen werden vom BVerfG aber deutlich enger gezogen als vom KG: Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 644 ZPO erfordert – wie jede Regelung im vorläufigen Rechtsschutz – neben dem Anordnungsgrund einen Anordnungsanspruch. Die Anordnung bedarf einer materiell-rechtlichen Grundlage, deren Voraussetzungen glaubhaft zu machen sind. Vorliegend mangelt es an einer solchen materiell-rechtlichen Grundlage; wie das KG in seinem Vorlagebeschluss ausgeführt hat, steht der A für die Zeit ab dem 1. 4. 2005 kein Unterhaltsanspruch nach § 1615 l II BGB gegen den B zu. Indem es ungeachtet dessen den B im Wege der einstweiligen Anordnung zur Zahlung von Betreuungsunterhalt für die Zeit nach der Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes verpflichtet hat, hat es gegen das in Art. 100 GG verankerte Verwerfungsmonopol des BVerfG verstoßen, sich durch die Kreierung eines vom Gesetzgeber nicht geschaffenen Anspruchs aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und sich damit der Bindung an Gesetz und Recht i. S. von Art. 20 III GG (vgl. BVerfGE 96, 375 [394]) entzogen.
Folglich durfte das KG hier nicht von einem Anspruch der A, auch nicht von einem nur vorläufigen Anspruch ausgehen. Die Entscheidung des KG war nicht durch die verfassungsmäßige Rechtsordnung i. S. des Art. 2 I gedeckt. Der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des B lässt sich nicht rechtfertigen. Art. 2 I ist verletzt.
Das BVerfG hat der VfB des B stattgegeben.
Zusammenfassung