► Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen Gesetz; eigene, gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit im Falle der Ermächtigung zum Abschuss eines Passagierflugzeugs durch § 14 III Luftsicherheitsgesetz. ► Recht auf Leben, Art. 2 II 1 GG: Eingriff und Rechtfertigung (Art. 2 II 3 GG). ► Menschenwürdegarantie (Art. 1 I GG); Verletzung durch Behandlung von Menschen als Objekt des Staates
BVerfG Urteil vom 15. 2. 2006 (1 BvR 357/05) NJW 2006, 751
Fall (Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz)
Als Folge der Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 und weiterer Vorfälle wurden weltweit und auch in Deutschland umfangreiche Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, u. a. die Anschläge unter Verwendung von entführten Zivilflugzeugen verhindern oder ihre Folgen abmildern sollten. Auf Initiative der Bundesregierung beschloss der Bundestag das nach Beteiligung des Bundesrates in Kraft getretene „Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben“ (BGBl I 2005, 78). Dessen §§ 13 – 15 regeln die „Unterstützung und Amtshilfe durch die Streitkräfte“, wobei sich die zulässigen Maßnahmen aus § 14 LuftSiG ergeben.
§ 14 I bestimmt: Zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles dürfen die Streitkräfte im Luftraum Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben.
Nach § 14 II hat die Auswahl nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen.
§ 14 III: Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist.
Zuständig hierfür ist nach § 14 IV 1 der Bundesminister der Verteidigung oder das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung.
Beschwerdeführer B haben gegen die Vorschrift des § 14 III LuftSiG form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde (VfB) erhoben. Sie benutzen häufig Verkehrsflugzeuge und wollen verhindern, dass sie auf Grund dieser Vorschrift abgeschossen werden können. Wie ist über die VfB zu entscheiden ?
A. Zulässigkeit der VfB (§§ 90 ff. BVerfGG)
I. Die VfB richtet sich gegen eine gesetzliche Vorschrift. Ein Gesetz ist ein Hoheitsakt, der mit der VfB angegriffen werden kann.
II. B machen geltend, durch das Gesetz in ihrem Grundrecht auf Schutz des Lebens (Art. 2 II 1 GG) verletzt zu sein.
III. Eine Rechtswegerschöpfung ist nicht erforderlich, weil es gegenüber einem formellen Gesetz keinen fachgerichtlichen Rechtsweg gibt (vgl. § 93 III BVerfGG). Jedoch setzt eine unmittelbar gegen ein Gesetz gerichtete VfB voraus, dass der Bf. durch die angegriffene Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen ist (BVerfG S. 752 unter [78] m. w. Nachw.).
1. Die Voraussetzung der eigenen und gegenwärtigen Betroffenheit ist grundsätzlich erfüllt, wenn der Bf. darlegt, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit durch die auf den angegriffenen Vorschriften beruhenden Maßnahmen in seinen Grundrechten berührt wird (folgen Nachw.).
Die Bf. (so BVerfG S. 753 unter [79/80] haben glaubhaft dargelegt, dass sie aus privaten und beruflichen Gründen häufig zivile Luftfahrzeuge benutzen… Es ist deshalb hinreichend wahrscheinlich, dass sie durch die von ihnen angegriffene Vorschrift des § 14 III LuftSiG selbst und gegenwärtig in ihren Grundrechten betroffen werden. Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt im Sinne dieser Vorschrift bedeutet, wie sich auch aus dem Vergleich mit den in § 14 I LuftSiG aufgeführten Einsatzmaßnahmen…ergibt, ein Einwirken mit dem Ziel, das von der Einwirkung betroffene Luftfahrzeug erforderlichenfalls zum Absturz zu bringen.
Dass ein solcher Vorfall wie das Abschießen eines Flugzeugs, in dem sich die Bf. befinden, „hinreichend wahrscheinlich“ ist, ist allerdings nicht überzeugend. Vorzuziehen wäre deshalb eine Anwendung der „Je-desto-Formel“: Je tiefgreifender die Gefahr, desto geringer sind die Anforderungen. Wer in die Gefahr gerät, getötet zu werden, kann verlangen, dass bereits das geringste Risiko als Eingriff in ein Grundrecht rechtfertigungsbedürftig ist, und kann dessen Überprüfung durch VfB verlangen. Deshalb ist eine eigene und gegenwärtige Betroffenheit der Bf. zu bejahen.
2. BVerfG S. 753 unter [78]: Unmittelbare Betroffenheit ist gegeben, wenn die angegriffenen Bestimmungen, ohne eines weiteren Vollzugsaktes zu bedürfen, die Rechtsstellung des Bf. verändern (…). Das ist auch dann anzunehmen, wenn dieser gegen einen denkbaren Vollzugsakt nicht oder nicht in zumutbarer Weise vorgehen kann (…).
S. 753 unter [83]: Auch die unmittelbare Betroffenheit der Bf. ist unter diesen Umständen gegeben. Es kann ihnen nicht zugemutet werden, abzuwarten, bis sie Opfer einer Maßnahme nach § 14 III LuftSiG werden.
Somit ist die VfB der Bf. zulässig.
B. Begründetheit
Die VfB ist begründet, wenn die Bf. in einem Grundrecht verletzt sind.
I. In Betracht kommt das Grundrecht auf Leben (Art. 2 II 1 GG). BVerfG S. 753 unter [85]: Art. 2 II 1 GG gewährleistet das Recht auf Leben als Freiheitsrecht… Mit diesem Recht wird die biologisch-physische Existenz jedes Menschen vom Zeitpunkt ihres Entstehens an bis zum Eintritt des Todes unabhängig von den Lebensumständen des Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen Befindlichkeit, gegen staatliche Eingriffe geschützt. Verletzt ist dieses Recht entsprechend den für Freiheitsrechte geltenden Grundsätzen, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt und dieser nicht gerechtfertigt ist.
II. BVerfG S. 753 unter [87]: § 14 III LuftSiG greift in den Schutzbereich des durch Art. 2 II 1 GG garantierten Grundrechts auf Leben sowohl der Besatzung und der Passagiere des von einer Einsatzmaßnahme nach § 14 III LuftSiG betroffenen Luftfahrzeugs als auch derer ein, die dieses im Sinne dieser Vorschrift gegen das Leben von Menschen einsetzen wollen. Die Inanspruchnahme der Ermächtigung zur unmittelbaren Einwirkung mit Waffengewalt auf ein Luftfahrzeug nach § 14 III LuftSiG führt praktisch immer zu dessen Absturz. Dieser wiederum hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Tod, also die Vernichtung des Lebens aller seiner Insassen zur Folge.
III. Der Eingriff könnte aber gerechtfertigt sein. Eine Rechtfertigung ist über Art. 2 II 3 möglich. BVerfG S. 753 unter [85]: Obwohl das Leben innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert darstellt (…), steht auch dieses Recht nach Art. 2 II 3 GG unter Gesetzesvorbehalt. Auch in das Grundrecht auf Leben kann deshalb auf der Grundlage eines förmlichen Parlamentsgesetzes (…) eingegriffen werden. Voraussetzung dafür ist aber, dass das betreffende Gesetz in jeder Hinsicht den Anforderungen des Grundgesetzes entspricht.Das Gesetz, hier § 14 III LuftSiG, muss also formell und materiell verfassungsmäßig sein (ebenso BVerfG NJW 2005, 2289, 2291, Europ. Haftbefehl; diese Entscheidung im E-JurTel / Europarecht).
1. Zur formellen Seite gehören die Gesetzgebungskompetenz und das Gesetzgebungsverfahren.
a) Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich weder aus Art. 73 Nr. 1 (Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung) noch aus 73 Nr. 6 (Luftverkehr). BVerfG S. 754 [90]: Die Einordnung der Regelung in den Abschnitt „Unterstützung und Amtshilfe durch die Streitkräfte“ macht deutlich, dass es sich bei deren Einsatz…primär nicht um die Wahrnehmung einer eigenständigen Aufgabe des Bundes, sondern…um die Hilfe bei der Bewältigung einer den Ländern obliegenden Aufgabe [der Gefahrenabwehr] handelt. Diese Hilfe vollzieht sich…in den Bahnen einerseits des Art. 35 II 2 GG und andererseits des Art. 35 III GG.S. 754 unter [91]: Es handelt sich also um Ausführungsregelungen zum Streitkräfteeinsatz in den Konstellationen des Art. 35 II 2 und III GG. Aus diesen Vorschriften kann sich nach Auffassung des BVerfG eine Gesetzeskompetenz ergeben (anders Schenke NJW 2006, 737: bloße Verwaltungskompetenzen).
Den für Art. 35 II 2 erforderlichen besonders schweren Unglücksfall bejaht das BVerfG zwar (S. 754 unter [98]). Es verneint aber gleichwohl eine Anwendung dieser Vorschrift (S. 755 unter [105]), weil diese Vorschrift einen Kampfeinsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen nicht erlaubt. Da die Streitkräfte hier im Wege der Amtshilfe für die eigentlich zuständigen Gefahrabwehrbehörden der Länder tätig werden, können die von ihnen einsetzbaren Mittel nach BVerfG S. 755 [106] nicht von qualitativ anderer Art sein als diejenigen, die den Polizeikräften der Länder für die Erledigung ihrer Aufgaben originär zur Verfügung stehen.…Militärische Kampfmittel, beispielsweise die Bordwaffen eines Kampfflugzeugs, wie sie für Maßnahmen nach § 14 III LuftSiG benötigt werden, dürfen dagegen nicht zum Einsatz gebrachte werden.
Auch bei Art. 35 III 1 GG (überregionaler Katastrophennotstand) sind militärische Waffen nicht erlaubt (BVerfG S. 757 [115]). Außerdem ist nach Art. 35 III 1 nur die Bundesregierung als Kollegium zuständig, nicht, wie in § 14 IV LuftSiG vorgesehen, der Verteidigungsminister (BVerfG S. 756 [113/4]).
Somit ist § 14 III LuftSiG bereits wegen fehlender Gesetzeskompetenz des Bundes verfassungswidrig.
b) Ein Fehler im Gesetzgebungsverfahren lässt sich nach obigem Sachverhalt nicht feststellen. Im Originalfall war umstritten gewesen, ob nicht der Bundesrat dem Gesetz hätte zustimmen müssen. Eine solche Zustimmung war nicht erfolgt. Das BVerfG (S. 752 [73/4]) hat die dahingehende Rüge der Bf. als nicht hinreichend substanziiert und deshalb als unzulässig angesehen. Schenke NJW 2006, 736 weist aber zutreffend darauf hin, dass das BVerfG diese Frage von sich aus hätte prüfen müssen, weil im Falle einer ordnungsgemäß geltend gemachten Grundrechtsverletzung die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage zum Prüfprogramm des BVerfG gehört.
Als Zwischenergebnis ist festzustellen, dass § 14 III LuftSiG formell nicht verfassungsgemäß ist und bereits deshalb Art. 2 II 1 GG verletzt.
2. In materieller Hinsicht ist im Normalfall einer Grundrechtsprüfung die Verhältnismäßigkeit zu prüfen, durch die Eingriffe in ein Freiheitsrecht in Grenzen gehalten werden. Wegen der besonderen Eigenart des im vorliegenden Fall zugelassenen Eingriffs entnimmt das BVerfG eine Grenze hierfür aber dem Art. 1 I GG.
a) S. 757 [119 ff.]: Das durch Art. 2 II 1 GG gewährleistete Grundrecht auf Leben steht gem. Art. 2 II 3 GG unter dem Vorbehalt des Gesetzes. Das einschränkende Gesetz muss aber seinerseits im Lichte dieses Grundrechts und der damit eng verknüpften Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG gesehen werden. Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert… Dem Staat ist es…einerseits untersagt, durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Andererseits ist er auch gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht gebietet es dem Staat und seinen Organen, sich schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen An- und Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren (vgl. BVerfGE 39, 1[42]…). Ihren Grund hat auch diese Schutzpflicht in Art. 1 I 2 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet (…).
b) Art. 1 I GG schützt den einzelnen Menschen nicht nur vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder durch den Staat selbst (…). Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden (…), schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen (vgl. BVerfGE 27, 1 [6]; 45, 187 [228]; 96, 375 [399]). Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt…
In der durch § 14 III LuftSiG gestatteten Maßnahme sieht das BVerfG (S. 758 [122 ff.]) eine Behandlung der Insassen des Flugzeugs als Objekte. In dieser Extremsituation…sind Passagiere und Besatzung typischerweise in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Täter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 III LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. Die Ausweglosigkeit und Unentrinnbarkeit, welche die Lage der als Opfer betroffenen Flugzeuginsassen kennzeichnen, bestehen auch gegenüber denen, die den Abschuss des Luftfahrzeugs anordnen und durchführen. Flugzeugbesatzung und -passagiere können diesem Handeln des Staates auf Grund der von ihnen in keiner Weise beherrschbaren Gegebenheiten nicht ausweichen, sondern sind ihm wehr- und hilflos ausgeliefert mit der Folge, dass sie zusammen mit dem Luftfahrzeug gezielt abgeschossen und infolgedessen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getötet werden. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten.
c) BVerfG S. 759 unter [132] geht noch auf das – naheliegende – Argument ein, diejenigen, die sich als Unbeteiligte an Bord einer Luftfahrzeugs aufhalten, das i. S. des § 14 III LuftSiG gegen das Leben anderer Menschen eingesetzt werden soll, seien ohnehin dem Tode geweiht… Jedoch vermag dieses Argument der mit einer Einsatzmaßnahme nach dieser Vorschrift im Regelfall verbundenen Tötung unschuldiger Menschen in einer für sie ausweglosen Lage nicht den Charakter eines Verstoßes gegen den Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen. Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz. Wer dies leugnet oder in Frage stellt, verwehrt denjenigen, die sich wie die Opfer einer Flugzeugentführung in einer für sie alternativlosen Notsituation befinden, gerade die Achtung, die ihnen um ihrer menschlichen Würde gebührt.
d) Nach BVerfG S. 759/760 unter [137 - 139] lässt sich § 14 III LuftSiG auch nicht mit der staatlichen Schutzpflicht zu Gunsten derjenigen rechtfertigen, gegen deren Leben das i. S. von § 14 III LuftSiG als Tatwaffe missbrauchte Luftfahrzeug eingesetzt werden soll.
aa) Dem Staat und seinen Organen kommt bei der Erfüllung derartiger Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu (mit Nachw.). Anders als die Grundrechte in ihrer Funktion als subjektive Abwehrrechte sind die sich aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte ergebenden staatlichen Schutzpflichten grundsätzlich unbestimmt (vgl. BVerfGE 96,56 [64]). Wie die staatlichen Organe solchen Schutzpflichten nachkommen, ist von ihnen prinzipiell in eigener Verantwortung zu entscheiden (…). Das gilt auch für die Pflicht zum Schutz zum Schutz des menschlichen Lebens.
bb) Zwar kann sich gerade mit Blick auf dieses Schutzgut in besonders gelagerten Fällen, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen ist, die Möglichkeit der Auswahl der Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen (vgl. BVerfGE 46, 160 [164 f.]). Der Annahme eines solchen Ausnahmefalles steht im vorliegenden Fall aber entgegen, dass auch die in dem Luftfahrzeug festgehaltenen Opfer Anspruch auf den staatlichen Schutz ihres Lebens haben. Nicht nur, dass ihnen dieser Schutz seitens des Staates verwehrt wird, der Staat greift vielmehr selbst in das Leben dieser Schutzlosen ein. Der Staat ist folglich nicht berechtigt, einseitig das Leben bestimmter Personen in der Weise zu schützen, dass er dafür andere Personen tötet, auch nicht, wenn die zu schützende Gruppe zahlenmäßig größer ist (Schenke NJW 2006, 738: kein „rein an quantitativen Gesichtspunkten orientierter Lebensschutz“).
e) Die Missachtung der Würde der betroffenen Flugzeuginsassen verstärkt sich noch durch die Gefahr, dass ein Abschussbefehl ohne endgültige Aufklärung des wirklichen Geschehens im Flugzeug erteilt wird. BVerfG S. 758 unter [125 - 127]: Nach den Erkenntnissen, die der Senat auf Grund der im Verfahren abgegebenen schriftlichen Stellungnahmen und der Äußerungen in der mündliche Verhandlung gewonnen hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anordnung und Durchführung einer solchen Maßnahme stets mit der dafür erforderlichen Gewissheit festgestellt werden können. Die Vereinigung Cockpit hatte darauf hingewiesen, dass die Zeit für die Aufklärung und Entscheidung äußerst knapp bemessen sei. Damit ein solcher Einsatz wirkungsvoll sei, müsse deshalb von vornherein in Kauf genommen werden, dass die Maßnahme möglicherweise gar nicht erforderlich sei. Es werde mit anderen Worten häufig wohl mit Übermaß reagiert werden müssen. Darin liegt zugleich eine Verletzung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit.
Somit ist § 14 III LuftSiG wegen einer Verletzung des Gebots zur Achtung der Menschenwürde und wegen Unverhältnismäßigkeit materiell verfassungswidrig und nicht als Eingriff in Art. 2 II 1 gerechtfertigt.
3. Anders zu entscheiden ist, soweit sich § 14 III LuftSiG gegen ein unbemanntes Luftfahrzeug oder ausschließlich gegen Personen richtet, die das Luftfahrzeug als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen auf der Erde einsetzen wollen (BVerfG S. 760 [140 ff.]). (Insoweit ist der Fall vergleichbar mit dem polizeilichen Todesschuss gegen Geiselnehmer, soweit dieser das einzige Mittel zur Rettung des Lebens der Geisel ist.)
a) Wer, wie diejenigen, die ein Luftfahrzeug als Waffe zur Vernichtung menschlichen Lebens missbrauchen wollen, Rechtsgüter anderer rechtswidrig angreift, wird nicht als bloßes Objekt staatlichen Handelns in seiner Subjektqualität grundsätzlich in Frage gestellt, wenn der Staat sich gegen den rechtswidrigen Angriff zur Wehr setzt und ihn in Erfüllung seiner Schutzpflicht gegenüber denen, deren Leben ausgelöscht werden soll, abzuwehren versucht. Es entspricht im Gegenteil gerade der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird. Er wird daher in seinem Recht auf Achtung der auch ihm eigenen menschlichen Würde nicht beeinträchtigt.
b) In solchem Fall ist die Maßnahme auch verhältnismäßig (BVerfG S. 760/1 unter [146 - 153]), insbesondere ist sie verhältnismäßig im engeren Sinn (angemessen): Der Abschuss eines solchen Luftfahrzeugs stellt nach dem Ergebnis der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des damit verbundenen Grundrechtseingriffs und dem Gewicht der zu schützenden Rechtsgüter (…) eine angemessene, den Betroffenen zumutbare Abwehrmaßnahme dar, wenn Gewissheit über die tatbestandlichen Voraussetzungen besteht. Diese lassen sich in solchem Fall weit leichter feststellen, weil die allein von einer Maßnahme bedrohten und das Flugzeug steuernden Personen, wenn sie entgegen dem äußeren Anschein nicht die Absicht einer Terrormaßnahme haben, dies durch entsprechendes Verhalten, etwa durch Landen oder Abdrehen der Maschine, deutlich machen und dadurch einen Angriff auf das Flugzeug abwenden können (BVerfG S. 760 unter [142]).
c) Da sich aber das Fehlen der Gesetzgebungskompetenz (oben B III 1a) auch auf den hier unter 3. behandelten Fall bezieht, in dem die Regelung nicht gegen die Würde des Menschen verstößt und auch nicht unverhältnismäßig ist, liegt gleichwohl auch insoweit eine Verletzung des Art. 2 II 1 GG vor.
Ergebnis, vgl. BVerfG S. 761 unter [155]: Die Regelung ist in vollem Umfang verfassungswidrig und infolgedessen gem. § 95 III 1 BVerfGG nichtig. Die VfB ist begründet.
Zusammenfassung