Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz
► Allgemeiner Gleichheitssatz, Art. 3 I GG. ► Anforderungen des Gleichheitssatzes an Steuergesetze allgemein und speziell an die Erbschaftssteuer
BVerfG Beschluss vom 7. 11. 2006 (1 BvL 10/02) NJW 2007, 573 mit Anm. Meincke S. 586
Fall (Gleichheitswidrige Erbschaftssteuer)
Das geltende Erbschaftssteuergesetz unterwirft in § 19 den Erwerb von Todes wegen einem für Vermögen aller Art geltenden einheitlichen Steuertarif, der drei nach Verwandtschaftsgraden abgestufte Steuerklassen enthält. Dabei bedarf es einer Bewertung der angefallenen Vermögenswerte. Regelfall ist der „gemeine Wert“, auch Verkaufs- oder Verkehrswert; es ist der bei einer Veräußerung zu erzielende Erlös. Er gilt beispielsweise für zum Nachlass gehörende Ansprüche auf Geldzahlung (z. B. Guthaben auf Bankkonten). Für weite Bereiche gelten aber Abweichungen: (1) Beim Betriebsvermögen können die Steuerbilanzwerte übernommen werden, die i. d. R. niedriger sind als der Verkehrswert. (2) Beim Grundvermögen kommt ein Ertragswertverfahren zur Anwendung, das i. d. R. zu einem Wert in Höhe von nur 50 % des Verkehrswerts führt. (3) Bei Vermögen aus Land- und Forstwirtschaft wird für die betrieblichen Grundstücke ein Ertragswertverfahren zugelassen, dessen Anwendung den maßgeblichen Wert bis auf 10 % des Verkehrswertes vermindert. Grund der abweichenden Bewertungen ist, dass es sich hierbei nicht um zur Veräußerung bestimmte Gegenstände handelt, die deshalb nicht als verkäufliche „Handelsware“ bewertet werden dürfen. Vielmehr müssten diese begünstigt werden, um zu verhindern, dass Betriebsvermögen, Wohnhäuser und landwirtschaftliche Betriebsflächen wegen einer hohen Belastung mit Erbschaftssteuer veräußert werden müssen.
Zu der Entscheidung des BVerfG kam es auf Grund eines Vorlagebeschlusses des Bundesfinanzhofs, dem folgender Ausgangsfall zugrunde lag: Erblasserin E hatte ihre Nichte N zur Erbin eingesetzt. E hatte noch zu Lebzeiten eine Eigentumswohnung gekauft und übergeben erhalten. Den Kaufpreis hatte sie gezahlt. Es war auch schon die Auflassung erklärt worden. Die Eintragung der E im Grundbuch erfolgte aber erst kurz nach ihrem Tod. Nach Auffassung des Finanzamtes hatte N nicht eine Wohnung erworben, sondern lediglich einen Anspruch auf Verschaffung des Eigentums, den es mit dem Betrag des Kaufpreises bewertete, wodurch es zu einer hohen Erbschaftssteuerbelastung der N kam. Das von N mittels Klage angerufene Finanzgericht folgte dagegen der Auffassung der N, wonach sie ein Anwartschaftsrecht an der Wohnung erworben habe, das wie das Grundvermögen selbst zu einem niedrigeren Wert zu bewerten sei.
Der BFH hielt die auf unterschiedlichen Bewertungsverfahren beruhende Besteuerung durch das ErbStG für nicht vereinbar mit dem Gleichheitssatz und legte diese Frage nach Art. 100 I GG in zulässiger Weise dem BVerfG vor. Wie wird das BVerfG entscheiden ?
Das BVerfG hat zu prüfen, ob die Regelungen des Erbschaftssteuergesetzes sowie die teilweise ergänzend anwendbaren Vorschriften des Bewertungsgesetzes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG verstoßen.
I. Das BVerfG stellt unter Rdnr. 93 folgende allgemeine Formel voran: Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 112, 268 [279]; st. Rspr.).
1. Diese Formel macht deutlich, dass der Gleichheitssatz nicht nur Grenzen für eine Ungleichbehandlung zieht, sondern auch (ausnahmsweise) für eine Gleichbehandlung. Welcher Aspekt in Betracht kommt, sollte vor der weiteren Prüfung festgelegt werden. Im vorliegenden Fall enthält das Bewertungsrecht eine ungleiche Behandlung der Fälle (1) - (3) sowohl untereinander als auch im Vergleich zum Regelfall. Dagegen unterstellt § 19 ErbStG alle, auch die unterschiedlich bewerteten Vermögensgegenstände dem gleichen Tarif, enthält also eine - möglicherweise bedenkliche - Gleichbehandlung. Der Tenor des Beschlusses (S. 573 a. E.: „…mit einheitlichen Steuersätzen belastet“) und die Ausführungen Rdnr. 197 („§ 19 I ErbStG…bestimmt einheitliche Steuersätze…, obwohl…“) sprechen dafür, dass das BVerfG die durch § 19 I ErbStG erfolgte Gleichbehandlung beanstandet. Letztlich sind aber Grund für die Entscheidung die unterschiedlichen Bewertungsverfahren. Dem Beschluss liegt deshalb ausnahmsweise eine Betrachtung sowohl unter dem Gesichtspunkt der Ungleich- als auch der Gleichbehandlung zu Grunde.
2. Im Übrigen folgt die Prüfung des Art. 3 I nicht der obigen Formel; denn es gibt keine verbindlichen Regeln dafür, was wesentlich gleich und was wesentlich ungleich ist. Vielmehr wird grundsätzlich die gesetzgeberische Regelung daraufhin überprüft, ob für die vorgenommene Ungleichbehandlung oder Gleichbehandlung ein hinreichender sachlicher Grund besteht. Welche Anforderungen an den hinreichenden sachlichen Grund zu stellen sind, ist unterschiedlich je nach Regelungsgegenstand. Dabei reichen die Anforderungen (Rdnr. 93) vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse…
3. Auf besonderen Sachgebieten hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung die allgemeinen Grundsätze konkretisiert. Dazu gehört seit jeher das Steuerecht, für das der Gleichheitssatz eine besondere Bedeutung hat. Dementsprechend bezieht sich das BVerfG im vorliegenden Fall zunächst auf diese Grundsätze (nachfolgend II), konkretisiert dieser weiter im Hinblick auf das Erbschaftssteuerrecht (III) und wendet sie dann auf die Regelungen im ErbStG und im Bewertungsgesetz an (nachfolgend IV).
II. BVerfG Rdnr. 94: Im Bereich des Steuerrechts hat der Gesetzgeber einen weitreichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstandes als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes (…). Diese grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte tatbestandlich zu bestimmen, an die das Gesetz dieselben Rechtsfolgen knüpft und die es so als rechtlich gleich qualifiziert, wird für den Bereich des Steuerrechts vor allem durch zwei eng miteinander verbundene Leitlinien begrenzt: durch die Ausrichtung der Steuerlast an den Prinzipien
(vgl. BVerfGE 105, 73 [125]; 107, 27 [46 f.]).
1. Zur finanziellen Leistungsfähigkeit Rdnr. 95: Das danach …gebotene Gleichmaß verwirklicht sich in dem Belastungserfolg, den die Anwendung der Steuergesetze beim einzelnen Steuerpflichtigen bewirkt…
Allerdings weist das BVerfG unter Rdnr. 96 sogleich darauf hin, dass Steuergesetze in der Regel Massenvorgänge des Wirtschaftslebens betreffen. Sie müssen, um praktikabel zu sein, Sachverhalte, an die sie dieselben steuerrechtlichen Folgen knüpfen, typisieren und damit in weitem Umfang die Besonderheiten nicht nur des einzelnen Falles, sondern gegebenenfalls auch ganzer Gruppen vernachlässigen. Die wirtschaftlich ungleiche Wirkung auf die Steuerzahler darf allerdings ein gewisses Maß nicht übersteigen…
2.Zur Folgerichtigkeit Rdnr. 97: Bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes hat der Gesetzgeber die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne dieser Belastungsgleichheit umzusetzen. Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes (…).
3 Die genannten Grundsätze hindern den Gesetzgeber nicht daran (so Rdnr. 98), auch außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsziele zu verfolgen [bedeutsam im Hinblick auf ökologische Ziele von Abgaben, aber auch für die bei der Erbschaftssteuer mit den Ermäßigungen bei der Bewertung verfolgten Schutzziele]… Der Gesetzgeber darf nicht nur durch Ge- und Verbote, sondern ebenso durch mittelbare Verhaltenssteuerung auf Wirtschaft und Gesellschaft gestaltend Einfluss nehmen. Rdnr. 99: Zwar bleibt er auch hier an den Gleichheitssatz gebunden. Das bedeutet aber nur, dass er seine Leistungen nicht nach unsachlichen Gesichtspunkten, also nicht willkürlich verteilen darf.
III. Bei der Erbschaftssteuer setzt der Gesetzgeber die von ihm gegenüber den Erben wegen dessen finanzieller Leistungsfähigkeit getroffene Belastungsentscheidung nur dann folgerichtig um, wenn er zwischen zwei Schritten (Ebenen) unterscheidet und die von ihm gewünschten ungleichen und gleichen Belastungen durch die Erbschaftssteuer der sachlich richtigen Ebene zuordnet.
1. BVerfG Rdnr. 103: Die gleichmäßige Belastung der Steuerpflichtigen hängt davon ab, dass für die einzelnen zu einer Erbschaft gehörenden wirtschaftlichen Einheiten und Wirtschaftsgüter Bemessungsgrundlagen gefunden werden, die deren Werte…realitätsgerecht abbilden…
Rdnr. 104: Eine diesem Gebot genügende Erbschaftsbesteuerung ist wegen der beschriebenen Belastungsentscheidung des Gesetzgebers nur dann gewährleistet, wenn sich das Gesetz auf der Bewertungsebene am gemeinen Wert als dem maßgeblichen Bewertungsziel orientiert. Denn die durch den Vermögenszuwachs beim Erwerber entstandene finanzielle Leistungsfähigkeit besteht darin, dass er auf Grund des Vermögenstransfers über Geld oder Wirtschaftsgüter mit einem Geldwert verfügt. Letzterer kann durch den Verkauf des Wirtschaftsguts realisiert werden. Die durch den Erwerb eines nicht in Geld bestehenden Wirtschaftsguts vermittelte finanzielle Leistungsfähigkeit wird daher durch den bei einer Veräußerung unter objektivierten Bedingungen erzielbaren Preis, mithin durch den gemeinen Wert i. S. des § 9 II BewG, bemessen. Nur dieser bildet den durch den Substanzerwerb vermittelten Zuwachs an Leistungsfähigkeit zutreffend ab und ermöglicht eine gleichheitsgerechte Ausgestaltung der Belastungsentscheidung.
Rdnr. 107: Zur Verfolgung außerfiskalischer Förderungs- und Lenkungsziele im Erbschaftssteuerrecht ist die Bewertungsebene daher aus verfassungsrechtlichen Gründen bereits vom Ansatz her ungeeignet. Ein regulierendes Eingreifen des Gesetzgebers mittels Differenzierungen beim Bewertungsmaßstab für bestimmte Vermögensgegenstände scheidet als gleichheitswidrig aus.
2. BVerfG Rdnr. 111: Aufbauend auf Werten, die nach diesen Vorgaben…ermittelt worden sind, ist es dem Gesetzgeber auch im Erbschaftssteuerecht unbenommen, in einem zweiten Schritt bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage steuerliche Lenkungsziele zu verwirklichen. Mittels Belastungs- und Verschonungsregelungen…kann er bei Vorliegen ausreichender Rechtfertigungsgründe die Bemessungsgrundlage zielgenau modifizieren.
3. BVerfG Rdnr. 112: Schließlich kann der Gesetzgeber im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen auch Differenzierungen beim Steuersatz vorsehen. Auch hierbei können Lenkungs- und Förderziele verfolgt werden.
IV. Das geltende Erbschaftssteuerecht genügt diesen Anforderungen nicht.
1. Der Gesetzgeber hat Verschonungsregeln bereits auf der Bewertungsebene vorgesehen. So sollen sowohl Betriebsvermögen als auch Grundvermögen und insbesondere Betriebsgrundstücke bei der Land- und Forstwirtschaft günstiger gestellt werden. Das ist nach den Ausführungen oben III 1 und 2 nicht zulässig.
2. Das führt auch zu einem Verstoß gegen den Grundsatz, dass sich die Bewertung nach dem gemeinen Wert, dem Verkaufswert richten muss (oben III 1).
BVerfG Rdnr. 117: Die zum Betriebsvermögen gehörenden Wirtschaftsgüter werden mit ihrem Steuerbilanzwert angesetzt, der nur in Ausnahmefällen mit dem jeweiligen Teilwert (§ 10 S. 2 BewG) übereinstimmt. So können durch bilanzpolitische Maßnahmen wie zum Beispiel die Wahl von degressiver oder linearer Abschreibung, Sofortabschreibungen oder erhöhten Absetzungen und Sonderabschreibungen sowie auch durch spätere Wertsteigerungen so genannte stille Reserven - also (vereinfacht ausgedrückt) Differenzen zwischen dem Verkehrswert eines Wirtschaftsgutes und seinem niedrigeren Buchwert - gebildet werden, die bei der Bewertung des Betriebsvermögens nicht berücksichtigt werden. Geldschulden sind hingegen mit dem in der Regel dem Nennbetrag entsprechenden Rückzahlungsbetrag anzusetzen.
Diese Überlegungen werden vom BVerfG unter Rdnr. 118 ff. noch eingehend vertieft. Unter Rdnr. 136 ff. finden sich die entsprechenden Ausführungen zur Bewertung des Grundvermögens und unter Rdnr. 188 ff. für Grundstücke der Land- und Forstwirtschaft.
V. Ergebnis ist, dass die Bewertungen auf der Bewertungsebene nicht dem Gleichheitssatz des Art. 3 I entsprechen. Die darauf aufbauende Besteuerung durch § 19 I ErbStG bedeutet deshalb ebenfalls einen Verstoß gegen dieses Grundrecht.
Im Anschluss an seine st. Rspr. stellt das BVerfG zunächst fest, dass § 19 I ErbSt „mit Art. 3 I GG unvereinbar“ ist (Tenor 1. auf S. 573). Es erklärt das ErbStG aber nicht für nichtig, weil dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen (Rdnr. 199). Zur Beseitigung dieses Zustandes entweder durch Aufhebung des ErbStG oder dessen Neufassung hat das BVerfG dem Bundesgesetzgeber eine Frist bis zum 31. 12. 2008 gesetzt (Tenor 2. auf S. 574). Bis zu einer Neuregelung, spätestens aber bis Ende 2008, gilt das bisherige Recht weiter. Im Ausgangsfall des Erbfalles E/N wird der BFH, an den das Verfahren jetzt wieder zurückfällt, den Rechtsstreit aussetzen, um diesen Fall später nach dem verfassungsmäßigen neuen Recht beurteilen zu können (vgl. BVerfG Rdnr. 86).
Zusammenfassung