Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Rechtsstaatliche Grenzen der Rückwirkung von Gesetzen, Art. 20 III GG. Echte und unechte Rückwirkung. Besonderheiten im Steuerrecht. Vertrauensschutz und Gewährleistungsfunktion der Rechtsordnung. Beendigung des Vertrauensschutzes durch Beschlüsse im Gesetzgebungsverfahren

BVerfG Beschluss vom 10. 10. 2012 (1 BvL 6/07) NJW 2013, 145

Fall
(Nachträgliche Gewerbesteuer)

Die G-GmbH ist an der A-GmbH mit einem Anteil von weniger als 10 % beteiligt („Streubesitz- oder Minderheitsbeteiligung“). Gegen Ende des Jahres 2011 fasste die Gesellschafterversammlung der A-GmbH zwei Beschlüsse, wonach mit der Gewinnverteilung nicht bis zum Abschluss des Jahres gewartet werden sollte, sondern - wie nicht unüblich ist - bereits eine Vorabausschüttung des für 2011 erwarteten Gewinnes erfolgen sollte. Nach dem ersten, am 1.12. gefassten Beschluss erhielt G 200.000 Euro Gewinnanteil, nach dem zweiten Beschluss vom 15. 12. eine weitere Gewinnbeteiligung von 100.000 Euro. Die Beträge wurden dem Konto der G jeweils drei Tage später gutgeschrieben.

Bis zum Jahre 2011 wurden derartige Erträge nur bei der ausschüttenden Gesellschaft der Gewerbesteuer unterworfen und waren beim Empfänger steuerfrei. Im August 2011 brachte die Bundesregierung ein Änderungsgesetz zum Gewerbesteuergesetz ein, das andere Fragen behandelte und die Steuerfreiheit aufrecht erhielt. Nach dem entsprechenden Gesetzesbeschluss des Bundestages rief der Bundesrat den Vermittlungsausschuss an. Der Vermittlungsausschuss schlug mit Beschluss vom 11. 12. 2011 die Einfügung eines § 8 Nr. 5 in das GewStG vor, nach dem Kapitaleinkünfte beim Empfänger mit Wirkung vom 1. 1. 2011 als Gewerbeertrag zu versteuern sind. Begründet wurde das damit, es bestehe ein Bedarf nach einem steuerlichen Systemwechsel und an einer Erhöhung des Steueraufkommens. Der Bundestag stimmte dem Vermittlungsvorschlag am 18. 12. zu. Das Gesetz mit dem neuen § 8 Nr. 5 GewStG wurde am 22. 12. 2011 im Bundesgesetzblatt verkündet.

Die G-GmbH geht davon aus, dass sie die aufgrund der Gesellschafterbeschlüsse vom 1. 12. und 15. 12. 2011 erhaltenen Beträge nach § 8 Nr. 5 GewStG als Gewerbeertrag versteuern muss, und bittet um eine gutachtliche Stellungnahme zu der Frage, ob diese Regelung mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Vorbemerkung: Im Sachverhalt wurden im Verhältnis zur Originalentscheidung die steuerrechtlichen Regelungen vereinfacht und die Vorgänge zeitlich verlegt. Diese Änderungen werden in der folgenden Lösung und teilweise auch in den Originalzitaten zugrunde gelegt.

Zur Aufgabenstellung: Für eine Prüfung, ob § 8 Nr. 5 GewStG unabhängig vom Zeitpunkt des Inkrafttretens, also auch für die Zukunft, verfassungsmäßig ist, bietet der Sachverhalt keinen Anlass. Zu prüfen ist aber, ob es mit der Verfassung vereinbar ist, dass die bereits im Jahre 2011 vorgenommenen Vorabausschüttungen der Gewerbesteuer unterworfen werden, so wie § 8 Nr. 5 GewStG es im Fall der G-GmbH anordnet. Diese Regelung könnte als verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung eines belastenden Gesetzes unwirksam sein.

I. Die hierfür maßgeblichen Grundsätze ergeben sich aus der Rechtsprechung des BVerfG, das diese dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) und den jeweils betroffenen Grundrechten, letztlich Art. 2 I GG, entnimmt. Sie werden vom BVerfG zunächst wie folgt zusammengefasst.

1. [58]: Das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze beruht auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (vgl. BVerfGE 45, 142, 167 f.). Es schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte (BVerfGE 101, 239, 262). Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des Grundgesetzes, unter deren Schutz Sachverhalte „ins Werk gesetzt“ worden sind (vgl. BVerfGE 45, 142, 167 f.;… 97, 67 78 f.). Die Grundrechte wie auch das Rechtsstaatsprinzip garantieren im Zusammenwirken die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und damit als eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde Einzelne in ihrer Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an ihr Verhalten oder an sie betreffende Umstände ohne Weiteres im Nachhinein belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt ihres rechtserheblichen Verhaltens galten (…).

2. Für die Rechtsanwendung ist zwischen der echten Rückwirkung (auch: Rückbewirkung von Rechtsfolgen) und der unechten Rückwirkung (auch: tatbestandliche Rückanknüpfung) zu unterscheiden.

a) [59]:  Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift (vgl. BVerfGE 101, 239, 263; 123, 186, 257). Dies ist insbesondere der Fall, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“; vgl. BVerfGE 127, 1, 17). Normen mit echter Rückwirkung sind grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig (vgl. BVerfGE 13, 261, 271; 101, 239 263). Erst mit der Verkündung, das heißt mit der Ausgabe des ersten Stücks des Verkündungsblattes, ist eine Norm rechtlich existent. Bis zu diesem Zeitpunkt…müssen von einem Gesetz Betroffene grundsätzlich darauf vertrauen können, dass ihre auf geltendes Recht gegründete Rechtsposition nicht durch eine zeitlich rückwirkende Änderung der gesetzlichen Rechtsfolgenanordnung nachteilig verändert wird (…).

Allerdings gibt es Ausnahmen. Eine echte Rückwirkung ist zulässig,

(1) wenn die Belastung nur geringfügig ist (BVerfGE 95, 87);

(2) wenn Betroffene mit einer rückwirkenden Regelung rechnen mussten, etwa weil die Regelung durch höherrangiges Recht wie EU-Recht oder durch eine verbindliche Entscheidung des BVerfG „vorprogrammiert“ ist; zum Wegfall des Vertrauensschutzes während des Gesetzgebungsverfahrens noch unten III;

(3) wenn eine unklare oder verfassungswidrige Rechtslage rückwirkend bereinigt wird (BVerwGE 89, 57, 61/2);

(4) wenn eine ungültige Norm durch eine gültige ersetzt wird (BVerfGE 13, 272; 72, 260);

(5) unter strengen Voraussetzungen auch aus überwiegenden Gründen des gemeinen Wohls (BVerfGE 97, 67).

b) BVerfG [60]: Eine unechte Rückwirkung liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet (vgl. BVerfGE 101, 239, 263; 123, 186, 257), so wenn belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden („tatbestandliche Rückanknüpfung“; vgl. BVerfGE… 127, 1, 17). Sie ist grundsätzlich zulässig. Allerdings können sich aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Grenzen der Zulässigkeit ergeben. Diese Grenzen sind erst überschritten, wenn die vom Gesetzgeber angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen (vgl. BVerfGE 95, 64, 86; 101, 239, 263; 122, 374, 394 f.; st. Rspr.).

II. Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall sind Modifikationen vorzunehmen, die sich aus den Besonderheiten des Steuerrechts ergeben.

1. Für die Abgrenzung der echten von der unechten Rückwirkung ist dem Umstand Rechnung zu trage, dass jedenfalls bei Ertragssteuern wie der Einkommen-, Körperschafts- und Gewerbesteuer die Steuer erst mit Ablauf des Besteuerungs- bzw. Veranlagungszeitraums, d. h. am Jahresende, endgültig entsteht. Änderungen vor dem Ende des Veranlagungszeitraums haben deshalb keine echte Rückwirkung. BVerfG [61]: Im Steuerrecht liegt eine echte Rückwirkung nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert (…). [Zu ergänzen ist: oder wenn er eine Steuer nachträglich einführt.] Für den Bereich des Einkommensteuerrechts bedeutet dies, dass die Änderung von Normen mit Wirkung für den laufenden Veranlagungszeitraum der Kategorie der unechten Rückwirkung zuzuordnen ist; denn nach § 38 AO i. V. mit § 36 Abs. 1 EStG entsteht die Einkommensteuer erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums, das heißt des Kalenderjahres (§ 25 Abs. 1 EStG…). Entsprechendes gilt für das Gewerbesteuerrecht im Hinblick auf den regelmäßig mit dem Kalenderjahr endenden Erhebungszeitraum (§§ 14, 18 GewStG). Somit handelt es sich im vorliegenden Fall um eine unechte Rückwirkung. Das Inkraftsetzen des § 8 Nr. 5 GewStG auf den 1. 1. 2011 erstreckt sich auf den noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt der Gewerbesteuerveranlagung für 2011 und entwertet die zunächst ohne Steuerpflicht entgegengenommenen Gewinnausschüttungen für 2011, soweit sie nunmehr der Steuerpflicht unterworfen werden. Bei § 8 Nr. 5 GewStG entfällt eine Rückwirkung erst, wenn er auf Erträge zur Anwendung kommt, die nach der Verkündung des Gesetzes am 22. 12. zufließen.

2. Da aber, wie der Fall der G-GmbH zeigt, auch schon während des Veranlagungszeitraums Maßnahmen getroffen sein können, auf deren Fortbestand Personen vertraut haben, gelten für eine derartige unechte Rückwirkung durch Regelungen des Steuerrechts strengere Anforderungen.

a) BVerfG [62]: Sofern eine Steuerrechtsnorm nach diesen Grundsätzen über den Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum unechte Rückwirkung entfaltet, gelten für deren Vereinbarkeit mit der Verfassung im Verhältnis zu sonstigen Fällen unechter Rückwirkung gesteigerte Anforderungen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass rückwirkende Regelungen innerhalb eines Veranlagungs- oder Erhebungszeitraums, die der unechten Rückwirkung zugeordnet werden, in vielerlei Hinsicht den Fällen echter Rückwirkung nahe stehen.

b) Freilich ist auch in diesem Fall eine unechte Rückwirkung nicht grundsätzlich unzulässig (…). Die Gewährung vollständigen Schutzes zu Gunsten des Fortbestehens der bisherigen Rechtslage würde andernfalls den dem Gemeinwohl verpflichteten Gesetzgeber in wichtigen Bereichen lähmen und den Konflikt zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung im Hinblick auf einen Wandel der Lebensverhältnisse in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen (…). Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz geht insbesondere nicht so weit, vor jeder Enttäuschung zu bewahren (…). [63]: Der Gesetzgeber muss aber, soweit er für künftige Rechtsfolgen an zurückliegende Sachverhalte innerhalb des nicht abgeschlossenen Veranlagungs- oder Erhebungszeitraums anknüpft, dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz in hinreichendem Maß Rechnung tragen. Die Interessen der Allgemeinheit, die mit der Regelung verfolgt werden, und das Vertrauen der Einzelnen auf die Fortgeltung der Rechtslage sind abzuwägen (vgl. BVerfGE 30, 392, 404; 50, 386, 395;…114, 258, 300). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein (…).

3. Somit ist zwar auch bei Änderungen im laufenden Veranlagungszeitraum eine unechte Rückwirkung zulässig, jedoch bedarf es einer Abwägung der widerstreitenden Interessen. Hierfür sind zunächst die Interessen der betroffenen Gewerbesteuerpflichtigen - wie der G-GmbH - aufzuzeigen und zu gewichten.

a) Ein gewichtiges Interesse eines Beziehers von Kapitalerträgen, der wie die A-GmbH einer nachträglichen Besteuerung unterworfen wird, könnte sein, dass er im Vertrauen auf eine Nicht-Besteuerung Dispositionen in seinen Geschäftsbeziehungen zu der den Gewinn erwirtschaftenden Gesellschaft getroffen hat. Solche Dispositionen nimmt das BVerfG in den von § 8 Nr. 5 GewStG erfassten Fällen aber nicht an. [70]: Ausschüttungen oder - wie im Ausgangsfall - Vorabausschüttungen von Erträgen aus einer Beteiligung im Sinne des § 8 Nr. 5 GewStG…sind bei Streubesitzbeteiligungen, um die es hier allein geht (vgl. § 8 Nr. 5 GewStG), typischerweise nicht Ausfluss einer Dispositionsentscheidung des Minderheitsgesellschafters, die besonderen Vertrauensschutz verdient. Der gewerbesteuerpflichtige Minderheitsgesellschafter trifft in diesen Fällen im Allgemeinen keine von ihm maßgeblich verantwortete Dispositionsentscheidung über die Gewinnausschüttung, die Vertrauensschutz begründen könnte. Sein Einfluss in der Gesellschafterversammlung dürfte allenfalls gering sein. Er wird die Entscheidung der Gesellschafterversammlung über das Ob und Wie einer Ausschüttung oder Vorabausschüttung daher regelmäßig lediglich hinnehmen. Zudem ist die Entscheidung über eine Gewinnausschüttung per se keine Maßnahme, die - wie etwa eine Investitionsentscheidung - im Vertrauen auf den längerfristigen Bestand einer Rechtslage erfolgt.

b) Aber bereits das Vertrauen auf das Fortbestehen einer Rechtslage wird vom BVerfG über die Gewährleistungsfunktion der Rechtsordnung geschützt. [71]: Berechtigtes Vertrauen für den die Ausschüttung entgegennehmenden Minderheitsgesellschafter besteht danach vorrangig im Hinblick auf die Gewährleistungsfunktion der Rechtsordnung (vgl. BVerfGE 127, 31, 57 f.). Steuerpflichtige müssen grundsätzlich darauf vertrauen dürfen, dass die zum Zeitpunkt des tatsächlichen Abschlusses eines steuerrelevanten Geschäftsvorgangs geltende Steuerrechtslage nicht ohne hinreichend gewichtigen Rechtfertigungsgrund rückwirkend geändert wird. Andernfalls wäre das Vertrauen in die Rechtssicherheit und Rechtsbeständigkeit der Rechtsordnung als Garanten einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung ernsthaft gefährdet (vgl. BVerfGE 109, 133, 180; 126, 369, 393; 127, 1, 16). Die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, genießt zwar…keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (…). Das diesen Grundsatz rechtfertigende Anliegen, die notwendige Flexibilität der Rechtsordnung zu wahren, zielt indes auf künftige Rechtsänderungen und relativiert nicht ohne Weiteres die Verlässlichkeit der Rechtsordnung innerhalb eines Veranlagungs- oder Erhebungszeitraums.

4. Dieses grundsätzlich berechtigte Vertrauen des Gewerbesteuerpflichtigen in den Fortbestand des damals geltenden Gewerbesteuerrechts muss aber zurücktreten, soweit die Rückwirkung vom Gesetzgeber auf vorrangige öffentliche Interessen oder Interessen Dritter gestützt werden kann. Begründet hat der Gesetzgeber die Rückwirkung durch § 8 Nr. 5 GewStG mit einem Bedarf nach einem steuerlichen Systemwechsel und nach einer Erhöhung des Steueraufkommens.

a) BVerfG [89 - 92]: Besondere Gründe, welche die nachträgliche Belastung…beschlossener und ausgezahlter Vorabausschüttungen mit einer höheren Gewerbesteuer rechtfertigen könnten, sind nicht erkennbar. Die allgemeinen Ziele der Umgestaltung des Steuerrechts und der Erhöhung des Steueraufkommens rechtfertigen die rückwirkende Steuerbelastung nicht (vgl. BVerfGE 127, 1,26; 127, 31, 59).

b) Das BVerfG erörtert noch, ob ein seinerzeit vorgenommener Systemwechsel im Körperschaftsteuerrecht eine Umgestaltung auch des Gewerbesteuerrechts hätte rechtfertigen können. Jedoch war die damals geltende Rechtslage keineswegs offensichtlich so ungerecht oder auch nur im Hinblick auf das Gewerbesteuerrecht so systemwidrig, dass eine rückwirkende Änderung durch den Gesetzgeber als unabweisbar hätte erscheinen müssen… Die neue Hinzurechnungsvorschrift des § 8 Nr. 5 GewStG war daher keine überfällige Fehlerkorrektur, mit der Steuerpflichtige ohne Weiteres hätten rechnen müssen…

5. BVerfG [93]: Liegen somit keine Gründe vor, welche die Rückwirkung der Regelung für…Vorabausschüttungen rechtfertigen könnten, erübrigt sich die Prüfung, ob eine darauf gestützte Rückwirkungsanordnung verhältnismäßig wäre.

6. Somit verstieß der rückwirkende Erlass des § 8 Nr. 5 GewStG auf den 1. 1. 2011 gegen den rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutz und führte zur Verfassungswidrigkeit einer so weitgehenden Rückwirkung. Die mit Gesellschafterbeschluss vom 1. 12. beschlossene und drei Tage später vollzogene Vorabausschüttung über 200.000 Euro darf nicht nachträglich der Gewerbesteuer unterworfen werden.

III. Eine Änderung könnte durch - der Verkündung des Gesetzes vorausgehende - Beschlüsse im Gesetzgebungsverfahren eingetreten sein und sich auf die am 15. 12. beschlossene weitere Gewinnausschüttung auswirken.

1. BVerfG [73]: Mit der Einbringung eines Gesetzentwurfs im Bundestag durch ein initiativberechtigtes Organ werden geplante Gesetzesänderungen öffentlich. Ab diesem Zeitpunkt sind mögliche zukünftige Gesetzesänderungen in konkreten Umrissen allgemein vorhersehbar. Deshalb können Steuerpflichtige regelmäßig nicht mehr darauf vertrauen, das gegenwärtig geltende Recht werde auch in Zukunft, insbesondere im Folgejahr, unverändert fortbestehen; es ist ihnen vielmehr grundsätzlich möglich, ihre wirtschaftlichen Dispositionen durch entsprechende Anpassungsklauseln auf mögliche zukünftige Änderungen einzustellen (vgl. BVerfGE 127, 31,50). Im vorliegenden Fall enthielt aber der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf den § 8 Nr. 5 GewStG noch nicht, konnte also das Vertrauen auf das Fortbestehen der Gewerbesteuerfreiheit nicht beseitigen.

2. [74]: Jedenfalls ab dem endgültigen Beschluss des Deutschen Bundestages über einen Gesetzentwurf müssen die Betroffenen nach st. Rspr. des BVerfG mit der Verkündung und dem Inkrafttreten der Neuregelung rechnen, weshalb es ihnen von diesem Zeitpunkt an zuzumuten ist, ihr Verhalten auf die beschlossene Gesetzeslage einzurichten. Der Gesetzgeber kann deshalb berechtigt sein, den zeitlichen Anwendungsbereich einer Norm sogar im Sinne einer echten Rückwirkung auch auf den Zeitraum von dem Gesetzesbeschluss bis zur Verkündung zu erstrecken (vgl. BVerfGE 13, 26, 273;…127, 31, 58). Im vorliegenden Fall datiert der Beschluss des Bundestages aber vom 18. 12., also zeitlich erst nach dem zweiten Gewinnausschüttungsbeschluss vom 15. 12.

3. Im vorliegenden Fall kommt es somit darauf an, ob schon der Beschluss des Vermittlungsausschusses vom 11. 12. eine Bedeutung hatte, die sich auf den Gewinnausschüttungsbeschluss vom 15. 12. ausgewirkt hat.

a) BVerfG [76, 77]: Hinsichtlich ihrer das Vertrauen in den Fortbestand der geltenden Rechtslage beeinträchtigenden Wirkung entspricht die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses nicht nur derjenigen der Einbringung eines Gesetzentwurfs im Bundestag durch ein initiativberechtigtes Organ, sondern geht sogar noch darüber hinaus. Die Annahme eines solchen Vermittlungsvorschlags durch den Bundestag ist regelmäßig erheblich wahrscheinlicher als die Verwirklichungschancen eines Gesetzentwurfs zu Beginn der parlamentarischen Beratungen, weil der Vermittlungsvorschlag am Ende des parlamentarischen Entscheidungsfindungsprozesses einschließlich der Kompromissbemühungen des Vermittlungsausschusses steht und deren Ergebnis markiert…. Mit dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2011 ist die Zerstörung schutzwürdigen Vertrauens hier jedenfalls eingetreten. Dies folgt aus der besagten hohen Wahrscheinlichkeit der Annahme des Vermittlungsvorschlags… Offenbar soll es keine Rolle spielen, dass die steuerpflichtigen Bürger von einem solchen Beschluss des Vermittlungsausschusses in aller Regel keine Kenntnis erhalten.

b) BVerfG [79]: Der Wegfall schutzwürdigen Vertrauens bereits durch den Vorschlag des Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2011 führt dazu, dass Vorabausschüttungsbeschlüsse, die nach dem 11. Dezember 2011 gefasst worden sind, keinen verfassungsrechtlichen Schutz vor der Hinzurechnung der Vorabausschüttung zum Gewerbeertrag nach dem später in das Gewerbesteuergesetz eingefügten § 8 Nr. 5 GewStG genießen.

4. BVerfG [85]: Fehlt es für die Zeit nach dem 11. Dezember 2011 an schutzwürdigem Vertrauen in das Fortbestehen der Steuerrechtslage…, bedarf die Zulässigkeit der Rückwirkung keiner Abwägung mehr unter den Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit und insbesondere der Zumutbarkeit.

5. Folglich war die unechte Rückwirkung für den Zeitraum ab dem 11. 12. 2011 zulässig. Die Gewinnausschüttung vom 15. 12. in Höhe von 100.000 Euro unterliegt der Gewerbesteuer.

IV. Der Tenor des BVerfG-Beschlusses lautet (an obigen Sachverhalt angepasst):

§ 8 Nr. 5 des Gewerbesteuergesetzes…verstößt gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes aus Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes und ist nichtig, soweit er § 8 Nummer 5 des Gewerbesteuergesetzes auf Dividendenvorabausschüttungen für anwendbar erklärt, die von der ausschüttenden Gesellschaft vor dem 12. Dezember 2011 verbindlich beschlossen wurden und der mit weniger als 10% an der ausschüttenden Gesellschaft beteiligten Körperschaft vor diesem Zeitpunkt zugeflossen sind.

§ 8 Nr. 5 des Gewerbesteuergesetzes…ist mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit er § 8 Nummer 5 des Gewerbesteuergesetzes auf Dividendenvorabausschüttungen für anwendbar erklärt, die nach dem 11. Dezember 2011 zugeflossen sind.


Zusammenfassung