Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz
► Anforderungen an die gesetzliche Regelung der Zwangsmedikation eines nach § 63 StGB Untergebrachten. ► Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 II 1 GG. ► Eingriff gegen den Willen des Grundrechtsträgers; Rechtfertigung, Art. 2 II 3 GG
BVerfG Beschluss vom 20. 2. 2013 (2 BvR 228/12) NJW 2013, 2337
Fall (Psychopillen wider Willen)
B war von einem Gericht im Lande L vom Vorwurf der schweren räuberischen Erpressung wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen worden; statt dessen wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB). Seitdem befindet sich B in der psychiatrischen Klinik K. Nach der Diagnose der Klinik leidet B an einer paranoiden Schizophrenie. Sie zeige sich in eigen- und fremdschädigenden Fehlhandlungen wie Zerstörung von Gegenständen, Übergriffe auf Personal/Mitpatienten, Verstopfung von Wasserleitungen, unberechtigte Anzeigen. Im Rahmen eines Behandlungsplans erhielt B eine medikamentöse Behandlung mit Neuroleptika, die zu einer deutlichen psychischen Stabilisierung führte. Nach einiger Zeit lehnte B aber deren weitere Einnahme ab und begründete das damit, sie führe zu negativen Persönlichkeitsveränderungen. Seine Besserung sei keine Folge der Medikamente, sondern sei auf seine intensive Beschäftigung mit Hare Krishna und ihren heiligen Schriften zurückzuführen. Nachdem sich der Zustand des B wieder verschlechtert hatte, ordnete der behandelnde Arzt in Übereinstimmung mit der Klinikleitung und nach Zustimmung des Betreuers des B eine zwangsweise Verabreichung der Medikamente an. Die übereinstimmende Meinung ging dahin, dass B krankheitsbedingt nicht einsichtsfähig sei und dass nur durch die Fortsetzung der Behandlung eine Besserung des wieder verschlechterten Zustandes des B zu erreichen sei. Nachdem B dies mitgeteilt worden war, hielt dieser seine Ablehnung aufrecht, nahm die Behandlung aber aus Furcht vor Zwangsmaßnahmen hin. Zugleich wandte er sich, ordnungsgemäß durch einen Verfahrenspfleger vertreten, an das Amtsgericht und beantragte die Feststellung, dass die Maßnahmen nur mit gerichtlicher Zustimmung zulässig seien. Nach Ablehnung dieses Antrags entschied das zuständige OLG mit nicht mehr anfechtbarem Beschluss, dass die Maßnahmen ohne gerichtliche Genehmigung zulässig und auch insgesamt rechtmäßig seien; das ergebe sich aus dem Gesetz des Landes L über Hilfen und die Unterbringung bei psychischen Krankheiten (PsychKG).
Das PsychKG des Landes L enthält folgende Vorschriften:
§ 21. (1) Der Patient hat Anspruch auf die notwendige Behandlung. Sie schließt die erforderlichen Untersuchungen sowie sozialtherapeutische, psychotherapeutische, heilpädagogische, beschäftigungs- und arbeitstherapeutische Maßnahmen ein. Die Behandlung erfolgt nach einem Behandlungsplan.
(2) Der Behandlungsplan ist mit dem Patienten zu erörtern. Der Patient ist über die erforderlichen diagnostischen Verfahren und die Behandlung umfassend aufzuklären.
§ 22. (1) Zu allen nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst erforderlichen Behandlungsmaßnahmen ist grundsätzlich das Einverständnis des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters einzuholen. Liegt eine Zustimmung des Patienten, eine Einwilligung eines Betreuers oder bei Minderjährigen des Sorgeberechtigten nicht vor, so dürfen die Behandlung und die dafür notwendigen Untersuchungen nur durchgeführt werden, wenn durch den Aufschub das Leben oder die Gesundheit des Patienten erheblich gefährdet wird.
(2) Ärztliche Eingriffe und Behandlungsverfahren, die mit einem operativen Eingriff oder einer erheblichen Gefahr für Leben oder Gesundheit verbunden sind, sind nur nach rechtswirksamer Einwilligung des Patienten oder, falls er die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und der Einwilligung nicht beurteilen kann, des gesetzlichen Vertreters erlaubt.
(3) Eine Ernährung gegen den Willen des Patienten ist nur zulässig, wenn sie erforderlich ist, um eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Patienten abzuwenden.
(4) Sämtliche Maßnahmen dürfen die Würde des Patienten nicht verletzen und nur auf Anordnung und unter unmittelbarer Leitung und Verantwortung eines Arztes durchgeführt werden.
§ 23. Sind Maßnahmen, die der Patient zu dulden hat, oder Anordnungen nach diesem Gesetz anders nicht durchsetzbar, dürfen die Bediensteten des Krankenhauses nach Ankündigung unmittelbaren Zwang gegen den Patienten anwenden.
§ 33. Alle medizinischen Maßnahmen und belastenden Vollzugsmaßnahmen sind zu dokumentieren.
B hat gegen die Zwangsbehandlung und den Beschluss des OLG in zulässiger Weise Verfassungsbeschwerde erhoben. Er trägt vor, § 22 sei keine ausreichende Ermächtigung für eine Zwangsbehandlung, da es an einer klaren Regelung der Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung fehle. Auch werde dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht Rechnung getragen. Bei den verfahrensmäßigen Anforderungen reiche nicht aus, dass die Maßnahmen ihm anzukündigen seien; man müsse sie auch mit ihm in einer Weise besprechen, bei der er ernst genommen werde. Die Klinik hält es demgegenüber für ausreichend, dass die Maßnahme nach ärztlichem Urteil für die Gesundung des Patienten unbedingt erforderlich sind und dass der Betreuer seine Einwilligung erteilt hat.
Ist die Verfassungsbeschwerde begründet?
Die Begründetheit der VfB könnte sich aus einer Verletzung des Grundrechts des B auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) ergeben.
I. Dann müsste ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts erfolgt sein. Als Eingriffsakt kommen die Maßnahmen der K-Klinik und der sie für rechtmäßig erklärende und damit billigende Beschluss des OLG in Betracht.
1. Eine Zwangsbehandlung mit Medikamenten bedeutet eine Veränderung des natürlichen körperlichen Zustandes des Behandelten und damit einen Eingriff in die Unversehrtheit des Körpers.
BVerfG [49]: Die Zwangsbehandlung eines Untergebrachten greift, unabhängig davon, ob sie mit körperlichem Zwang durchgesetzt wird, in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein, das die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers und damit auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht schützt (BVerfGE 128, 282, 300; 129, 269, 280; zur Unabhängigkeit des Eingriffscharakters von der Einsichtsfähigkeit des Betroffenen BVerfGE 128, 282, 301). Der Schutz gegen eine staatliche Zwangsbehandlung gehört zum traditionellen Gehalt des Art. 2 II 1 (BVerfGE 128, 300).
2. Der Eingriffscharakter entfällt nicht dadurch, dass die Maßnahme zu Heilungszwecken vorgenommen wird; eine schädigende Absicht ist nicht erforderlich (BVerfGE 128, 300).
3. BVerfG [50]: Die Eingriffsqualität entfällt nicht bereits dann, wenn der Betroffene der abgelehnten Behandlung keinen physischen Widerstand entgegensetzt (vgl. BVerfGE 128, 282, 300 f.; 129, 269, 280). Eine Zwangsbehandlung im Sinne einer medizinischen Behandlung, die gegen den natürlichen Willen des Betroffenen erfolgt, liegt unabhängig davon vor, ob eine gewaltsame Durchsetzung der Maßnahme erforderlich wird oder der Betroffene sich, etwa weil er die Aussichtslosigkeit eines körperlichen Widerstandes erkennt, ungeachtet fortbestehender Ablehnung in die Maßnahme fügt und damit die Anwendung körperlicher Gewalt entbehrlich macht…
4. [51]: Auch die Einwilligung eines Betreuers nimmt der Maßnahme nicht den Eingriffscharakter. Sie lässt den Eingriff unberührt, der darin liegt, dass die Maßnahme gegen den natürlichen Willen des Betroffenen erfolgt (vgl. BVerfGE 10, 302, 309).
Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 II 1 GG des B liegt somit vor.
II. Der Eingriff kann aber gerechtfertigt sein (Art. 2 II 3 GG). Dazu bedarf es einer gesetzlichen Regelung, die als Eingriffsgrundlage in Betracht kommt.
BVerfG [52 - 54}: Die Zwangsbehandlung eines Untergebrachten kann ungeachtet der besonderen Schwere des darin liegenden Eingriffs gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 128, 282, 304 ff.; 129, 269, 280 ff.). Sie ist jedoch, wie jeder andere Grundrechtseingriff, nur auf der Grundlage eines Gesetzes zulässig, das die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Eingriffs bestimmt (BVerfGE 128, 282, 317).
Das Erfordernis einer verfassungskonformen gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseingriffe besteht auch dann, wenn für den jeweils betrachteten Eingriff gute oder sogar zwingende sachliche Gründe sprechen mögen (…). Der verfassungsrechtliche Grundsatz, dass in Grundrechte nur auf der Grundlage eines Gesetzes eingegriffen werden darf (Vorbehalt des Gesetzes), hat gerade den Sinn, die primäre Zuständigkeit für die Bewertung von Grundrechtsbeschränkungen als wohlbegründet oder ungerechtfertigt zu bestimmen. Er stellt sicher, dass die Grenzen zwischen zulässigem und unzulässigem Grundrechtsgebrauch, zwischen zulässiger und unzulässiger Grundrechtseinschränkung nicht fallweise nach eigener Einschätzung von beliebigen Behörden oder Gerichten, sondern primär - in der Form eines allgemeinen Gesetzes - durch den Gesetzgeber gezogen werden.
Bei Eingriffen in die Rechte des Art. 2 II 1 GG bedeutet das: Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Eingriffs müssen hinreichend klar und bestimmt geregelt sein. Für aktuell und potentiell betroffene Untergebrachte und für die zur Normanwendung in erster Linie berufenen Entscheidungsträger der Unterbringungseinrichtung, die einer klaren, Rechtssicherheit vermittelnden Eingriffsgrundlage auch im eigenen Interesse bedürfen, müssen die wesentlichen Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels aus dem Gesetz erkennbar sein; sowohl in materieller als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht bedarf es einer über abstrakte Verhältnismäßigkeitsanforderungen hinausgehenden Konkretisierung dieser Voraussetzungen (vgl. BVerfGE 128, 282, 318 ff; 129, 269, 283).
Rechtsgrundlage im vorliegenden Fall können § 22 PsychKG und ergänzend die anderen im Sachverhalt wiedergegebenen Vorschriften des PsychKG sein. Dann müssten diese Vorschriften verfassungsmäßig sein und insbesondere den vorstehend aufgeführten Anforderungen entsprechen.
1. Die Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers ergibt sich aus Art. 70 I GG. Eine Bundeszuständigkeit für die Unterbringung und Behandlung psychisch Kranker besteht nicht. Art. 74 I Nr. 19 GG beschränkt sich auf gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten, zu denen normale psychische Krankheiten wie Schizophrenie nicht gehören.
2. Wichtigste Frage für die Zulassung einer Zwangsbehandlung ist, unter welchen Voraussetzungen die Behandlung ohne Einwilligung des Patienten erfolgen darf, insbesondere wann die Einwilligung des Patienten durch eine des Betreuers ersetzt wird.
a) Dazu könnte dem § 22 Abs. 1 PsychKG folgender Regelungsgehalt entnommen werden: Zunächst müssen Maßnahmen ärztlich indiziert sein (Abs. 1 S. 1). Außerdem ist die Einwilligung des Patienten erforderlich, aber nur grundsätzlich (Abs. 1 S. 1). Bereits § 22 Abs. 1 S. 1 stellt die Einwilligung durch den Betreuer neben die des Patienten. Nach Abs. 1 S. 2 bestehen strenge Voraussetzungen (letzter Satzteil), wenn weder eine Zustimmung des Patienten noch eine Einwilligung eines Betreuers vorliegt. Danach liegt der Umkehrschluss nahe, dass bei Maßnahmen, die nicht unter Abs. 1 S. 2 fallen, die Einwilligung des Betreuers die des Patienten ersetzt, und zwar ohne dass für die Einwilligung des Betreuers Voraussetzungen aufgestellt werden. Dafür spricht auch Abs. 2. Denn (nur) dort wird für die Ersetzung der Einwilligung des Patienten durch den Betreuer die Voraussetzung aufgestellt, dass der Patient die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und der Einwilligung nicht beurteilen kann. Also braucht im Normalfall des § 22 Abs. 1 S. 1 eine solche Voraussetzung nicht vorzuliegen.
aa) Die damit geschaffene die Möglichkeit, dass in Fällen wie dem des B die Einwilligung des Betreuers voraussetzungslos die Einwilligung des Patienten ersetzt, verletzt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten über seinen Körper. Für eine so weitgehende Regelung besteht auch kein Grund. Grund für eine Ersetzung der Einwilligung des Patienten kann nur dessen fehlende Einsichtsfähigkeit sein (BVerfGE 128, 305 ff.). Dass diese Voraussetzung im Gesetz nur im Falle des § 22 II und nicht für andere Fälle enthalten ist, sieht das BVerfG als ersten Grund für einen Verstoß gegen Art. 2 II 1 GG an.
BVerfG [59]: Weder diese Bestimmung [§ 22] noch andere, ergänzend heranzuziehende Vorschriften des Gesetze, beschränken die medizinische Zwangsbehandlung des Untergebrachten zur Erreichung des Vollzugsziels, wie verfassungsrechtlich geboten (vgl. BVerfGE 128, 282, 307 f.; 129, 269, 281 f.), auf den Fall seiner krankheitsbedingt fehlenden Einsichtsfähigkeit.
bb) [60]: Dass § 22 Abs. 1 Satz 1 PsychKG auf die Regeln der ärztlichen Kunst verweist, ändert daran nichts. Unabhängig von der Frage, ob dieser Verweis überhaupt hinreichend deutlich eine umfassende Bindung an die Regeln der ärztlichen Kunst statuiert, liegt in einer solchen Bindung keine hinreichend deutliche gesetzliche Begrenzung der Möglichkeit der Zwangsbehandlung auf Fälle der fehlenden Einsichtsfähigkeit. Der Umstand, dass § 22 PsychKG nur in Absatz 2 für Behandlungsmaßnahmen, die mit einem operativen Eingriff oder einer erheblichen Gefahr für Leben oder Gesundheit des Untergebrachten verbunden sind, die eingriffsrechtfertigende Wirkung der Einwilligung des Patienten daran knüpft, dass dieser die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und der Einwilligung beurteilen kann, legt die Schlussfolgerung nahe, dass Eingriffe unterhalb der genannten Schwelle unabhängig von der Frage einer krankheitsbedingten Selbstbestimmungsunfähigkeit zugelassen sein sollen.
cc) Allein die Einwilligung des Betreuers - neben der ärztlichen Indikation - kann die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung nicht rechtfertigen. Vielmehr bedarf die an die Stelle der Einwilligung des Patienten tretende Einwilligung des Betreuers ihrerseits einer Rechtfertigung. Das BVerfG stellt die Frage, ob sich aus der in § 1896 BGB für die Bestellung eines Betreuers aufgestellten Voraussetzung, dass der Betreute psychisch krank oder körperlich, geistig oder seelisch behindert ist, schließen lässt, dass dem Betreuten notwendigerweise die Einsichtsfähigkeit fehlt. Das ist jedoch zu verneinen. Gegen diesen Schluss spricht bereits, dass die Voraussetzungen des § 1896 BGB weiter gefasst sind und deshalb nicht notwendig eine Unfähigkeit zur Selbstbestimmung voraussetzen. BVerfG [63): Die Vorschriften des Betreuungsrechts (§§ 1896 ff. BGB) sehen die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung nicht ausdrücklich vor. Zwar ist ein Betreuer kraft seiner gesetzlichen Vertretungsmacht (§ 1902 BGB) grundsätzlich auch befugt, anstelle eines nicht einsichts- oder steuerungsfähigen Betreuten in medizinische Heilbehandlungen einzuwilligen (vgl. BGHZ 145, 297, 306 f.)… Jedoch folgt aus der gesetzlichen Vertretungsmacht, die es dem Betreuer ermöglicht, in eine medizinische Behandlung des Betreuten mit rechtfertigender Wirkung einzuwilligen, nicht zugleich die Befugnis, den einer medizinischen Maßnahme entgegenstehenden Willen des Betreuten durch Zwang zu überwinden beziehungsweise eine Zwangsbehandlung seitens dritter Personen durch Einwilligung zu legitimieren, da die §§ 1901, 1902 BGB für sich genommen keine hinreichende Bestimmung von Inhalt, Zweck, Gegenstand und Ausmaß der vom Betreuten unter Zwang zu duldenden Behandlung ermöglichen (…).
b) Möglicherweise kann dem oben a) gezogenen Umkehrschluss entgegen gehalten werden, dass der Gesetzgeber vernünftigerweise dem Betreuer nicht die Befugnis zu einer Einwilligung ohne Rücksicht auf die Einsichtsfähigkeit des Patienten hat geben wollen. Jedoch würde eine Auslegung des § 22 PsychKG dahin, dass stets mangelnde Einsichtsfähigkeit des Patienten Voraussetzung für eine Zwangsbehandlung ist, dem oben II aufgestellten Gebot widersprechen, wonach die Voraussetzungen für den Eingriff hinreichend klar und bestimmt geregelt sein müssen. Deshalb scheidet auch eine verfassungskonforme Auslegung aus. BVerfG [69]: Der Mangel der gesetzlichen Regelung kann nicht durch verfassungskonforme Auslegung behoben werden, weil damit den hohen Bestimmtheitsanforderungen, die an die gesetzliche Regelung der Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung zu stellen sind (…), nicht genügt wäre.
c) Somit enthält § 22 PsychKG für die nicht unter Abs. 1 S. 2, Abs. 2 und Abs. 3 fallenden Fälle keine verfassungsmäßigen Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung. Der gleichwohl durch das Gesetz im Normalfall wie dem des B zugelassene Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ohne Einwilligung des Betroffenen ist nicht gerechtfertigt und verletzt Art. 2 II 1 GG.
3. § 22 PsychKG könnte außerdem gegen das bei Eingriffen in ein Grundrecht stets zu wahrende Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßen.
a) Hierfür müsste durch die Zwangsbehandlung ein legitimer Zweck verfolgt werden. Zwecke könnten sein, den Patienten zu heilen oder eine Verschlechterung seiner psychischen Erkrankung zu verhindern oder die Allgemeinheit und Dritte vor ihm zu schützen. Möglicherweise verfolgt das Gesetz sämtliche dieser Zwecke je nach Lage des Falles. Angesichts dessen reicht es nach Auffassung des BVerfG nicht aus, einen oder mehrere Zwecke dem Gesetz im Wege der Auslegung zu entnehmen. Vielmehr ist der Gesetzgeber wegen des schwerwiegenden Eingriffs in das gewichtige Gut der körperlichen Unversehrtheit verpflichtet, den oder die mit der Zwangsbehandlung legitimer Weise zu verfolgenden Zwecke ausdrücklich zu normieren.
BVerfG [64]: Den aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abzuleitenden Anforderungen…ist nicht genügt. Es fehlt sowohl an der abschließenden Bestimmung des Zwecks oder der Zwecke, die den Eingriff rechtfertigen sollen, und damit an der Ausscheidung von Zwecken, die einen Eingriff prinzipiell nicht zu rechtfertigen geeignet sind…, als auch sonst an einer ausreichenden Konkretisierung der materiellen und verfahrensmäßigen Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben.
b) Fehlt es an einem zu verfolgenden Zweck, lässt sich nicht prüfen, ob die Zwangsbehandlung ein zur Verfolgung dieses Zweckes notwendiges und angemessenes Mittel ist. Unabhängig davon entnimmt das BVerfG dem Verhältnismäßigkeitsprinzip das Gebot, neben den Voraussetzungen für eine Maßnahme weitere Einschränkungen vorzusehen (z. B. was die Erfolgsaussichten der Behandlung und ihre zeitliche Dauer betrifft, vgl. BVerfGE 128, 309), und vermisst diese. [65]: § 22 Abs. 1 PsychKG statuiert in dem eingriffsermächtigenden Satz 1 keine zureichenden inhaltlichen Verhältnismäßigkeitsanforderungen, sondern verlangt nur, dass zu allen nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst erforderlichen Behandlungsmaßnahmen grundsätzlich das Einverständnis des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters einzuholen ist. Dies reicht nicht aus (vgl. BVerfGE 129, 269, 281). Materiell beschränkende Regelungen für eine gemäß dieser Vorschrift mit Einwilligung des Betreuers oder sonstigen gesetzlichen Vertreters erfolgende Zwangsbehandlung finden sich in den Absätzen 1 und 2 des § 22 PsychKG auch sonst nicht…. Lediglich in § 22 Abs. 3 und Abs. 4 PsychKG finden sich weitere die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in materieller Hinsicht betreffende Anforderungen, nämlich eine Sonderregelung für den Fall der Zwangsernährung…und das Verbot der Verletzung der Würde des Patienten (Abs. 4). Damit ist dem Erfordernis, die materiellen Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung…gesetzlich zu konkretisieren (vgl. BVerfGE 128, 282, 317 f.; 129, 269, 282 f.), nicht Genüge getan.
Folglich verstößt § 22 PsychKG auch gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.
4. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entnimmt das BVerfG auch Anforderungen an das Verfahren bei Zwangsbehandlungen, die im Gesetz geregelt sein müssen.
a) [67] Ausreichend ist die gesetzliche Regelung allerdings, soweit es um das Erfordernis der Anordnung und Überwachung von Zwangsbehandlungen durch einen Arzt (vgl. BVerfGE 128, 282, 313, 320; 129, 269, 283) geht. Nach § 22 Abs. 4 PsychKG sind sämtliche Maßnahmen nur auf Anordnung und unter unmittelbarer Leitung und Verantwortung eines Arztes zulässig.
b) [68]: Das Gesetz enthält auch die erforderliche (…) Regelung der Pflicht zur Dokumentation aller Zwangsbehandlungsmaßnahmen. § 33 PsychKG sieht vor, dass alle medizinischen Maßnahmen und belastenden Vollzugsmaßnahmen zu dokumentieren sind.
c) Das BVerfG hatte bereits in E 128 auf S. 309 aus dem Gebot, dass eine Zwangsbehandlung nur das letzte Mittel sein darf, geschlossen, dass der Zwangsbehandlung, soweit der Betroffene gesprächsfähig ist, der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch vorausgegangen sein muss, seine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erreichen. Die danach erforderliche Verpflichtung der Klinik hierzu fehlt im PsychKG. BVerfG [69]: § 22 Abs. 1 Satz 1 PsychKG fordert nur, dass zu allen…Behandlungsmaßnahmen grundsätzlich das Einverständnis des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters eingeholt wird. Allerdings ist nach § 21 Abs. 2 Satz 1 PsychKG der Behandlungsplan mit dem Patienten zu erörtern, und nach Satz 2 der Vorschrift ist der Patient über die erforderlichen diagnostischen Verfahren und die Behandlung umfassend aufzuklären. Es ist aber dem § 21 Abs. 2 PsychKG nicht zu entnehmen, dass die gebotene Erörterung und Aufklärung auf eine vertrauensbasierte freiwillige, insbesondere nicht bloß auf eine anderenfalls drohende Gewaltanwendung gegründete Zustimmung des Betroffenen gerichtet sein muss. Mit einer bloßen Erörterungs- und Aufklärungspflicht wäre es auch vereinbar, anstelle geduldiger Bemühung um den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses den Betroffenen - zeitsparend - von vornherein vor die Alternative zwischen Hinnahme der geplanten Behandlung und Anwendung unmittelbaren Zwangs zu stellen. Ein solches Vorgehen genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen aber…gerade nicht.
d) [70]: Weiter fehlt es an einer zureichenden Regelung des, jedenfalls für planmäßige Behandlungsmaßnahmen bestehenden, Erfordernisses einer hinreichend konkretisierten Ankündigung (vgl. BVerfGE 128, 282, 311 ff.; 129, 269, 283)…. Eine ausreichende Regelung der Ankündigung liegt nicht bereits in der vorgesehenen Erörterungs- und Aufklärungspflicht (§ 21 Abs. 2 PsychKG). Diese zielt auf die Schaffung der informatorischen Grundlagen für eine den Eingriffscharakter der Maßnahme ausschließende Zustimmung. Das Ankündigungserfordernis betrifft demgegenüber Maßnahmen, für die eine solche Zustimmung gerade nicht vorliegt, und zielt auf die Ermöglichung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG, vgl. BVerfGE 128, 282, 311). Eine vorherige Ankündigung ist…nur in § 23 PsychKG für die Anwendung unmittelbaren Zwangs vorgesehen. Mit einer Regelung, die eine Androhung allein für die Anwendung physischen Zwangs vorschreibt, sind jedoch die Fälle, für die das Ankündigungserfordernis von Verfassungs wegen besteht, nicht ausreichend erfasst (…). Eine Zwangsbehandlung im hier maßgebenden Sinne liegt nicht erst dann vor, wenn die Behandlung im Wege des unmittelbaren Zwangs gegen Widerstand durchgesetzt wird. Entsprechendes gilt für die Bestimmungen, die die Erstellung eines Behandlungsplans und dessen Erörterung mit dem Patienten vorsehen (§ 21 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 1 PsychKG).
5. Ergebnis: § 22 PsychKG verstößt gegen das Verbot einer Zwangsbehandlung ohne Aufstellung klarer Voraussetzungen, zu denen die krankheitsbedingt fehlende Einsichtsfähigkeit des Patienten gehört, ferner gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie gegen die Verfahrensanforderungen, dass mit dem Patienten zuvor in vertrauensvoller Weise zu verhandeln ist und dass eine Zwangsbehandlung hinreichend konkret anzukündigen ist. § 22 kann deshalb den in einer Zwangsbehandlung liegenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nicht rechtfertigen, so dass der Eingriff gegen Art. 2 II 1 GG verstößt. Infolgedessen ist § 22 verfassungswidrig und nichtig. Die darauf gestützten Maßnahmen gegenüber B sind ebenfalls nicht gerechtfertigt und verletzen das Grundrecht des B aus Art. 2 II 1 GG. Die Verfassungsbeschwerde des B ist begründet.
III. Entsprechend § 95 BVerfGG hat das BVerfG
1. § 22 PsychKG für nichtig erklärt (§ 95 III 2). (Im Originalfall handelte es sich um das sächsische PsychKG, nachdem in E 128, 282 das rheinland-pfälzische und in E 129, 269 das baden-württembergische Gesetz jeweils aus im wesentlichen gleichen Gründen für verfassungswidrig erklärt worden waren.)
2. Es hat den Beschluss des OLG (und den vorangegangenen des LG) aufgehoben und die Sache zurückverwiesen (§ 95 II).
3. Es hat allerdings in keinem der Fälle davon Gebrauch gemacht, entsprechend § 95 I 1 festzustellen, dass die Zwangsbehandlung durch das Krankenhaus ebenfalls - und in erster Linie - Art. 2 II 1 GG des jeweiligen Beschwerdeführers verletzt (obwohl im Fall BVerfGE 128, 282 ausdrücklich ein dahingehender Antrag gestellt war, vgl. S. 282 unten c).
Zusammenfassung