Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Urteilsverfassungsbeschwerde gegen Entscheidung eines Zivilgerichts. ► Öffentliche Versammlung auf fremdem Grundstück; Art. 8 GG.► Grundrechtsanwendung im Privatrecht; mittelbare Drittwirkung. ► Haus- und Betretensverbot durch Eigentümer, §§ 1004, 903 BGB; Art. 14 GG. ► BGB-Vorschriften als Beschränkung eines Grundrechts. ► Verhältnismäßigkeit; Abwägung zwischen Versammlungsfreiheit und Eigentumsschutz
BVerfG Beschluss vom 18. 7. 2015 (1 BvQ 25/15) NJW 2015, 2485
Fall (Bierdosen-Flashmob)
A beabsichtigt, am 20. Juli für die Zeit von 18:15 Uhr bis 18:30 Uhr eine stationäre öffentliche Versammlung auf dem Nibelungenplatz in S durchzuführen. Der Platz ist zentral in der Stadt am südlichen Ende der Fußgängerzone gelegen und von Cafés, Geschäften, Arztpraxen, einem Supermarkt und einem Kino umrandet. Er ist für den Publikumsverkehr geöffnet und wird von einem privaten Sicherheitsdienst überwacht. Mit der Versammlung unter dem Motto „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“ soll auf den Rückzug des Staates durch den Einsatz privater Sicherheitsdienste sowie auf eine zunehmende Beschränkung von Freiheitsrechten, insbesondere auch durch Alkoholverbote in der Öffentlichkeit, aufmerksam gemacht werden. Jeder Versammlungsteilnehmer soll auf das Kommando „Für die Freiheit - trinkt AUS!“ eine Dose Bier öffnen und diese schnellstmöglich leer trinken. Daran anschließen sollen sich ein Redebeitrag des A und eine kurze Diskussion der Versammlungsteilnehmer. Nach Anmeldung der Veranstaltung bei der Versammlungsbehörde hatte diese keine Einwände.
Der Nibelungenplatz steht im Eigentum der G-GmbH, deren Gesellschafter in S und Umgebung ansässige Unternehmer und Privatleute sind. Der Geschäftsführer der G nahm Kontakt mit A auf, sprach für den 20. 7. ein Hausverbot aus und untersagte A das Betreten des Nibelungenplatzes. Zur Begründung verwies er darauf, dass eine solche Veranstaltung zu nicht hinnehmbaren Störungen führe, zumal die G für den Platz ein generelles Alkoholverbot ausgesprochen habe. Auch sei es möglich, eine solche Veranstaltung auf einem in der Nähe gelegenen öffentlichen Platz durchzuführen.
A und G wandten sich an das Amtsgericht S. A beantragte, durch einstweilige Verfügung das Haus- und Betretensverbot für die Dauer der Versammlung auszusetzen. G beantragte, den Antrag abzuweisen und dem A zu untersagen, für die geplante Veranstaltung auf Facebook zu werben. Nachdem das Amtsgericht am 13. 7. zu Ungunsten des A entschieden hatte, erhob dieser Beschwerde, über die das Landgericht S am 16. 7. durch Beschluss letztverbindlich entschied. Es lehnte den Antrag des A ab und gab dem Antrag der G statt. Begründet wurde dies im Wesentlichen mit der drohenden Vermüllung des Platzes und der Gefahr einer Vielzahl betrunkener Versammlungsteilnehmer; daher überwiege das Eigentumsrecht der G. A hatte im Verfahren vor dem LG zugesichert, selbst sowie mittels Ordnern einer Vermüllung des Platzes und dem Auftreten alkoholisierter Versammlungsteilnehmer entgegenzuwirken. Auch hatte er zugesagt, die Werbung für die Veranstaltung so zu beschränken, dass an der Versammlung nur eine überschaubare Zahl von - derzeit 140 - angemeldeten Personen teilnehmen würden.
Gegen den Beschluss des Landgerichts hat A a m 18. 7. beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde erhoben. Wie ist über die Verfassungsbeschwerde zu entscheiden? Dabei ist zu unterstellen, dass das BVerfG noch am 19. 7. eine Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde trifft und eine Ausschöpfung des Rechtsweges durch ein Hauptsacheverfahren nicht erforderlich ist.
Vorbemerkung zu der Fallbearbeitung: Im Originalfall handelte es sich um eine einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG. Da diese im Wesentlichen auf einer Folgenabwägung beruht, wurde der Fall hier auf eine Verfassungsbeschwerde umgestellt. Dabei werden Ausführungen aus dem Beschluss des BVerfG als Gründe für die Entscheidung über eine VfB verwendet, ergänzt durch die Besprechungen dieses Falles von Smets NVwZ 2016, 35 ff. und Schulenberg DÖV 2016, 55 ff.
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (VfB)
I. Die VfB muss sich gegen einen Hoheitsakt richten (§ 90 I BVerfGG). Der von A angegriffene Beschluss des LG vom 16. 7. hat die gleiche Wirkung wie ein Urteil. Das Urteil eines Gerichts ist ein mit der VfB angreifbarer Hoheitsakt, da auch die Gerichte öffentliche Gewalt i. S. der § 90 I BVerfGG, Art. 93 I Nr. 4 a GG ausüben. Somit ist der Beschluss des LG der Hoheitsakt, gegen den sich die VfB richtet. Die VfB gegen eine gerichtliche Entscheidung wird als Urteilsverfassungsbeschwerde bezeichnet. Demgegenüber wäre das Haus- und Betretensverbot der privaten G-GmbH kein mit einer VfB angreifbarer Hoheitsakt.
II. Der Beschwerdeführer muss geltend machen, in einem Grundrecht verletzt zu sein (§ 90 I BVerfGG). Dass auch Gerichte Grundrechte verletzen können, ergibt sich aus Art. 1 III GG, wenn dort bestimmt ist, dass Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden sind.
1. A kann sich auf die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) berufen, weil die von ihm geplante Veranstaltung eine durch dieses Grundrecht geschützte Versammlung sein könnte. Der Beschluss des LG hat es abgelehnt, das Haus- und Betretensverbot der G auszusetzen, was zur Folge hat, dass A die Versammlung nicht auf dem Nibelungenplatz durchführen kann. Darin kann eine Verletzung des Rechts auf Versammlungsfreiheit liegen. Darüber hinaus hat das LG dem A eine bestimmte Art der Werbung untersagt; auch das könnte ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die Versammlungsfreiheit sein.
2. Allerdings könnte es für eine Grundrechtsverletzung nicht ausreichen, auf die von dem Beschluss ausgehenden Rechtswirkungen abzustellen.
a) Hierfür ist daran anzuknüpfen, dass der Beschluss in einem Rechtsstreit zwischen A und G, also zwischen zwei Privatrechtssubjekten ergangen ist. Private wie die G-GmbH sind grundsätzlich nicht an die Grundrechte gebunden (vgl. Art. 1 III GG), sondern ihre Rechtsbeziehungen richten sich nach Privatrecht, das insbesondere durch Vertragsfreiheit und den Schutz durch absolute Rechte gekennzeichnet ist. Würde sich im vorliegenden Fall die Versammlungsfreiheit des A durchsetzen, würde dadurch nicht der Staat bzw. das für ihn handelnde LG beschränkt, sondern die Beschränkung träfe die G und ihr Recht aus dem Eigentum (§ 903 BGB).
b) Allerdings braucht die Frage, ob gegenüber G das Grundrecht des A auf Versammlungsfreiheit zur Anwendung kommt, noch nicht hier, bei der Zulässigkeit behandelt zu werden, sondern kann der Begründetheitsprüfung vorbehalten bleiben (dort B I . Denn für das Geltendmachen einer Grundrechtsverletzung ist ausreichend, dass sich der Beschwerdeführer auf ein Grundrecht beruft und eine Verletzung möglich ist (ähnlich wie bei § 42 II VwGO). Im vorliegenden Fall ist nicht von vornherein auszuschließen, dass der der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Nibelungenplatz auch für Versammlungen zur Verfügung steht und dass deshalb Art. 8 GG Anwendung findet, jedenfalls für solche Versammlungen wie die von A geplante. A macht folglich eine Verletzung des Art. 8 GG geltend.
III. Nach § 90 II 1 BVerfGG muss der Beschwerdeführer den Rechtsweg ausgeschöpft haben. A hat gegenüber dem Beschluss des AG das LG angerufen, das letztinstanzlich entschieden hat. Im einstweiligen Verfügungsverfahren stand kein weiterer Rechtsweg zur Verfügung. Das Hauptsacheverfahren braucht laut Aufgabenstellung nicht durchgeführt zu werden.
IV. Es kann davon ausgegangen werden, dass A die formellen Voraussetzungen für die Erhebung der VfB beachtet hat (§ 23 BVerfGG: Schriftform; § 92 BVerfGG: Begründung). Die Monatsfrist (§ 93 I BVerfGG) wurde eingehalten. Folglich ist die VfB zulässig.
B. Begründet ist die VfB, wenn A in dem Grundrecht aus Art. 8 I GG verletzt ist.
I. Hierfür müsste das Grundrecht des Art. 8 GG auf den vorliegenden Fall anwendbar sein. Nach Art. 1 III GG gelten die Grundrechte zwischen Staat (Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung) und Bürgern (natürlichen Personen) sowie juristischen Personen nach Maßgabe des Art. 19 III GG. Demgegenüber gelten die Grundrechte zwischen Privatpersonen grundsätzlich nicht unmittelbar, sondern zwischen ihnen gilt, wie bereits unter A II 2 a) ausgeführt, Privatrecht.
1. In Fällen wie dem vorliegenden lässt sich eine unmittelbare Grundrechtswirkung noch nicht damit begründen, dass das LG, also ein staatliches Gericht entschieden hat und sich die VfB gegen dessen Beschluss richtet. Zwar sind nach Art. 1 III GG auch die Gerichte an die Grundrechte gebunden. Diese Bindung betrifft aber zunächst nur deren eigenes Verfahren, beispielsweise dass sie den Parteien rechtliches Gehör gewähren und im Verfahren deren Persönlichkeitsrechte nicht verletzen. Im vorliegenden Fall geht es nicht um das Verfahren des LG, sondern um den Inhalt des Beschlusses, wonach A die Versammlung auf dem Nibelungenplatz wegen des Verbots der G nicht durchführen darf.
2. Art. 8 GG kann deshalb nur zur Anwendung kommen, wenn das Grundrecht eine Wirkung gegenüber G hat.
a) Für die hier einschlägige Fallgruppe der Versammlungen auf Grundstücken im Eigentum Privater hat BVerfGE 128, 226 im Falle einer Demonstration in einem Terminal des Frankfurter Flughafens darauf abgestellt, dass die Fraport-AG als Betreiberin des Flughafens sich zu 52 %, also mehrheitlich, im Besitz der öffentlichen Hand (Land Hessen, Stadt Frankfurt) befindet. Diese Mehrheitsbeteiligung wurde als ausreichend angesehen, um ein staatliches Handeln i. S. des Art. 1 III GG anzunehmen. BVerfGE 128, 226 [48] Sobald der Staat eine Aufgabe an sich zieht, ist er bei deren Wahrnehmung an die Grundrechte gebunden, unabhängig davon, in welcher Rechtsform er handelt. Dies gilt auch, wenn er für seine Aufgabenwahrnehmung auf das Zivilrecht zurückgreift. Außerdem wurde als Grund für die Anwendung des Art. 8 GG herangezogen, dass die Fraport-AG das Terminal mit der Zulassung von Geschäften und Gaststätten für einen allgemeinen Verkehr eröffnet hat.
Im vorliegenden Fall ist die öffentliche Hand nicht an der G-GmbH beteiligt. Gesellschafter sind Unternehmer und Privatleute. Folglich lässt sich eine unmittelbare Anwendung des Art. 8 GG über Art. 1 III GG nicht begründen.
b) Im Privatrecht kommen die Grundrechte über die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte zur Anwendung.
aa) Voraussetzung ist, dass Privatrecht die Rechtssphären der Privatrechtssubjekte nicht abschließend gegeneinander abgrenzt, sondern dass eine Auslegung oder Konkretisierung des Privatrechts erfolgen muss, was insbesondere bei Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen der Fall ist. Die grundrechtlich geschützten Güter und Interessen fließen in die Auslegung und Anwendung des Privatrechts ein, sind Elemente innerhalb der Interessen- und Güterabwägung und erhalten damit gegenüber den Privaten eine mittelbare Wirkung. (Grundlegend BVerfGE 7, 198, Lüth, LS 2; BVerfGE 73, 261, 269: Im Privatrecht „wirkt der Rechtsgehalt der Grundrechte über das Medium der das einzelne Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften, insbesondere der Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Begriffe, ein, die im Sinne dieses Rechtsgehalts ausgelegt werden müssen“; ferner BVerfGE 89, 1, 13; 89, 214, 229; NJW 2008, 39, Esra.) Beispiel ist die Ausfüllung des Begriffs „sonstiges Recht“ i. S. des § 823 I BGB durch das Persönlichkeitsrecht der Art. 1, 2 I GG. Es handelt sich um einen Anwendungsfall der verfassungskonformen Auslegung des Privatrechts.
bb) Das BVerfG im vorliegenden Fall nimmt ausdrücklich und mehrfach auf die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung Bezug, so [5] und [6]. Es wendet sie aber nicht in dem Sinne an, wie sie oben aa) dargestellt und bisher verstanden wurde. Es fehlt jede Bezugnahme auf das Privatrecht (Smets NVwZ 2016, 36: „keinerlei Anbindung über privatrechtliche Normen“). Es werden weder unbestimmte Rechtsbegriffe noch eine Generalklausel des Privatrechts herangezogen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass eine Anspruchsgrundlage des A gegen G, deren Ausfüllung durch die Versammlungsfreiheit möglich wäre, vorhanden ist. § 903, 1 BGB mit der Formulierung „soweit nicht das Gesetz entgegen steht“ ist hierfür nicht geeignet, weil kein Gesetz vorhanden ist, das A ein Recht auf eine Versammlung auf dem Grundstück der G einräumen und dem Gebrauchmachen der G von ihrem Eigentumsrecht entgegen stehen könnte. Die Sozialpflichtigkeit nach Art. 14 II GG ist keine privatrechtliche Vorschrift und wäre auch allein, ohne eine gesetzliche Konkretisierung, keine Grundlage für eine Belastung der G. Das BVerfG bezieht zwar das privatrechtliche Eigentum der G ein. Das ist aber ein der Versammlungsfreiheit entgegenstehendes Recht und keines, das eine privatrechtliche Position des A grundrechtlich verstärkt. Somit lässt sich eine Anwendbarkeit des Art. 8 GG nicht über die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung als verfassungskonforme Auslegung einer Vorschrift des Privatrechts begründen.
c) Die Anwendbarkeit des Art. 8 GG bei einer Versammlung auf einem Grundstück im Eigentum eines Privaten könnte mit der Funktion des Grundstücks begründet werden. Diese Funktion lässt sich unter zwei Aspekten erfassen, die die Voraussetzungen für eine Anwendung des Art. 8 GG bilden (dies im Anschluss an BVerfGE 128, 226, Frankfurter Flughafen).
(1) Auf dem Grundstück muss mit Zustimmung des Eigentümers ein öffentlicher Verkehr eröffnet worden sein. BVerfG [5] Die Versammlungsfreiheit verbürgt die Durchführung von Versammlungen dort, wo ein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet ist (BVerfGE 128, 226, 251). Wenn heute die Kommunikationsfunktion der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze zunehmend durch weitere Foren wie Einkaufszentren, Ladenpassagen oder…Plätze als Orte des Verweilens, der Begegnung, des Flanierens, des Konsums und der Freizeitgestaltung ergänzt wird, kann die Versammlungsfreiheit für die Verkehrsflächen solcher Einrichtungen nicht ausgenommen werden. Der Nibelungenplatz ist ein solcher Ort: Er steht zwar im Eigentum eines Privaten, ist zugleich aber für den Publikumsverkehr offen und schafft…einen Raum des Flanierens, des Verweilens und der Begegnung, der dem Leitbild des öffentlichen Forums entspricht (vgl. hierzu BVerfGE 128, 226, 253 f.).
(2) Der private Grundstückseigentümer muss durch die Privatisierung einer normalerweise öffentlichen Leistung oder Einrichtung eine Funktionsnachfolge des Staates angetreten haben (Smets NVwZ 2016, 35). Normalerweise sind Plätze wie der Nibelungenplatz solche der Gemeinde und sind nach Straßenrecht zur öffentlichen Sache gewidmet. In den letzten Jahrzehnten sind mehr und mehr öffentliche Aufgaben und Einrichtungen privatisiert worden. Diese Privatisierung zieht - und das dürfte die wichtigste Aussage des BVerfG-Beschlusses sein - einige damit verbundene Pflichten wie die Pflicht zur Gewährung von Versammlungsfreiheit mit sich. BVerfG [5,6] Wenn heute die Kommunikationsfunktion der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze zunehmend durch…von privaten Investoren geschaffene und betriebene Plätze…ergänzt wird, kann die Versammlungsfreiheit für die Verkehrsflächen solcher Einrichtungen nicht ausgenommen werden… Durch eine Funktionsnachfolge können Private genauso wie der Staat durch die Grundrechte in Pflicht genommen werden, insbesondere, wenn sie in tatsächlicher Hinsicht in eine vergleichbare Pflichten- oder Garantenstellung hineinwachsen wie traditionell der Staat (vgl. BVerfGE 128, 226, 248). Je nach Gewährleistungsinhalt und Fallgestaltung kann die mittelbare Grundrechtsbindung Privater einer Grundrechtsbindung des Staates nahe oder auch gleich kommen. Für den Schutz der Kommunikation kommt das insbesondere dann in Betracht, wenn private Unternehmen die Bereitstellung schon der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen und damit in Funktionen eintreten, die früher in der Praxis allein dem Staat zugewiesen waren (vgl. BVerfGE 128, 226, 249 f.). Für G bedeutet das, dass sie als private Betreiberin eines tatsächlich öffentlichen Platzes in Funktionsnachfolge für die öffentliche Hand Pflichten übernommen hat, zu denen die Beachtung der Versammlungsfreiheit gehört.
d) In den vorstehenden Ausführungen hat das BVerfG zwar an die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung angeknüpft („mittelbare Grundrechtsbindung Privater“), es hat aber bei der Anwendung des Grundrechts von dessen Einbindung in das Privatrecht abgesehen und unter den genannten Voraussetzungen die unmittelbare Grundrechtsbindung auf Private ausgedehnt. Da insbesondere die Argumentation unter (2) überzeugt, ist dem zu folgen und die Anwendbarkeit des Art. 8 GG im vorliegenden Fall zu bejahen.
II. Für die Verletzung des Art. 8 I GG ist Voraussetzung, dass ein Eingriff in den Schutzbereich erfolgt.
1. Der Schutzbereich des Art. 8 I GG hat die folgenden Voraussetzungen.
a) Es muss sich um eine Versammlung handeln. Eine Versammlung ist das Zusammenkommen einer Mehrzahl von Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (BVerfGE 104, 92 [104]; 111, 147 [154 f.]). A will mit anderen Personen zusammenkommen, um auf den Rückzug des Staates durch den Einsatz privater Sicherheitsdienste sowie auf eine zunehmende Beschränkung von Freiheitsrechten, insbesondere auch durch Alkoholverbote in der Öffentlichkeit, aufmerksam zu machen. Dieser Zweck zielt auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung über das bezeichnete Thema.
b) Eine Versammlung ist an eine bestimmte Örtlichkeit gebunden, so dass sie an diesem Ort zulässig sein muss. Grundsätzlich darf der Ort der Versammlung vom Veranstalter bestimmt werden. BVerfG [5] Die Versammlungsfreiheit verschafft zwar kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten. Insbesondere gewährt sie dem Bürger keinen Zutritt zu Orten, die der Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird. Demgegenüber verbürgt die Versammlungsfreiheit die Durchführung von Versammlungen dort, wo ein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet ist (BVerfGE 128, 226, 251). Dass das im vorliegenden Fall zu bejahen ist, wurde bereits oben I 2 c (1) festgestellt.
(Der Verweis auf oben (1) zeigt, dass bei einem derartigen Fall die zu Art. 1 III GG gehörende Anwendbarkeitsfrage und die Schutzbereichsprüfung bei Art. 8 GG sich eng berühren. So behandelt Schulenberg DÖV 2016, 55 die Frage der Anwendbarkeit des Art. 8 GG als Problem des Schutzbereichs, indem er die Frage stellt, ob eine Versammlung auf privatem Gelände unter den Schutzbereich des Art. 8 GG fällt.)
c) Wenn G geltend macht, die Veranstaltung könnte auch an einem anderen Platz stattfinden, beruft sie sich darauf, eine Versammlung auf einem privaten Grundstück sei subsidiär gegenüber der auf einem öffentlichen Platz. Das ist aber nicht der Fall, BVerfG [9] A kann nicht entgegengehalten werden, die Versammlung könne ebenso gut an anderer Stelle stattfinden. Hervorzuheben ist insoweit, dass Art. 8 Abs. 1 GG das Recht gewährleistet, selbst zu bestimmen, wann und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll. Damit beinhaltet die Versammlungsfreiheit auch ein Selbstbestimmungsrecht über den Ort der Veranstaltung. Die Bürgerinnen und Bürger sollen selbst entscheiden können, wo sie ihr Anliegen - gegebenenfalls, aber nicht notwendig auch mit Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen - am wirksamsten zur Geltung bringen können… (hierzu auch Schulenberg DÖV 2016, 58/9).
Die von A geplante Veranstaltung fällt unter den Schutzbereich des Art. 8 GG.
2. Weiterhin müsste ein Eingriff vorliegen.
a) Fraglich ist der Eingriffsakt. Die Belastung des A ergibt sich aus dem Haus- und Betretensverbot der G. Allerdings ist dieses kein Hoheitsakt. Hoheitsakt ist der mit der VfB angegriffene Beschluss des LG. BVerfGE 128, 226 [62] fasst beide Aspekte zusammen und bezeichnet als Eingriffsakt das durch die angegriffene Entscheidung bestätigte Verbot (oder: die das Verbot bestätigende Entscheidung).
b) Dementsprechend kann der Eingriff in Anlehnung an BVerfGE 128, 226 [73] wie folgt bezeichnet werden: Das Verbot der G und der das Verbot bestätigende Beschluss des LG bewirken, dass A die Versammlung nicht auf dem Nibelungenplatz durchführen kann. Darin liegt ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit des A.
III. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.
1. Es handelt sich um eine Versammlung unter freiem Himmel, für die der Gesetzesvorbehalt des Art. 8 II GG gilt.
a) Das auf Art. 8 II GG gestützte Gesetz ist das Versammlungsgesetz. Dieses steht der Versammlung des A aber, wie auch die Versammlungsbehörde bestätigt hat, nicht entgegen. (Zur Bedeutung von Versammlungsgesetz und Versammlungsbehörde in solchem Fall Schulenberg DÖV 2016, 63/4.)
b) Kommt das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gegenüber einem Privaten zur Anwendung, können nach BVerfGE 128, 226 [79] die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches als ein die Versammlungsfreiheit beschränkendes Gesetz im Sinne des Art. 8 Abs. 2 GG herangezogen werden. Das zivilrechtliche Hausrecht gemäß § 903 Satz 1, § 1004 BGB ist dementsprechend grundsätzlich geeignet, Eingriffe in die Versammlungsfreiheit zu rechtfertigen. BVerfGE 128, 226 [82] Dem steht nicht entgegen, dass es sich insoweit nicht um versammlungsbezogene Vorschriften handelt und damit deren Reichweite für Versammlungen durch den Gesetzgeber inhaltlich nicht näher präzisiert ist. Auch brauchen die weiteren Anforderungen an Gesetze, die zu Eingriffen in Grundrechte berechtigen, wie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Zitiergebot (Art. 19 I 2 GG), nicht vorzuliegen, weil das BGB keine hoheitlichen Befugnisse verleiht. Somit kann eine Beschränkung des Versammlungsrechts durch Vorschriften und Rechte aus dem BGB gerechtfertigt werden.
2. Ein Hausrecht im Wortsinn steht G am Nibelungenplatz nicht zu. Dafür fehlt es an einem Haus. Erforderlich wäre zumindest ein befriedetes Besitztum, wozu aber ein der Öffentlichkeit zugänglicher Platz nicht gehört; die Überwachung durch einen Sicherheitsdienst reicht dafür nicht aus. G kann aber das dem Hausrecht ähnliche Betretensverbot auf §§ 858, 903, 1004 BGB stützen. Dass G den Platz grundsätzlich der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hat, nimmt ihr nicht das ihr als Eigentümerin nach § 903 BGB zustehende Recht, einzelne Arten der Benutzung auszuschließen (vgl. BGH NJW 2012, 1725, Hausverbot gegenüber NPD-Vorsitzenden, dort [22]). Diese privatrechtlichen Regelungen werden zugunsten der G auch durch deren Grundrecht aus Art. 14 I GG abgesichert.
3. Da das Betretensverbot in das Versammlungsrecht eingreift, muss das Gebrauchmachen von den Besitz- und Eigentumsbefugnissen durch G - ebenso wie bei einem Eingriff durch den Staat - dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Das hat das BVerfG in E 128, 226 [84 ff.]) zwar für den Fall entschieden, in dem die das Hausverbot aussprechende Fraport-AG bereits nach Art. 1 III GG unmittelbar an das Grundrecht des Art. 8 GG gebunden war. Die Beschränkung der Eingriffsbefugnisse durch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit muss aber für jeden Fall der Bindung an ein Grundrecht gelten, weil sonst die Eigentümerbefugnisse das Grundrecht beliebig einschränken könnten und die Bindung an das Grundrecht leer laufen würde. Im vorliegenden Fall führt BVerfG [6] zur Reichweite der sich gegenüberstehenden Rechte auf Versammlungsfreiheit und auf Eigentum aus: Die Grundrechte sind nach Maßgabe einer Abwägung zu beachten. Die Reichweite dieser Bindung bestimmt sich dabei nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz durch Ausgleich der sich gegenüberstehenden Grundrechte. Zu dieser Abwägung und diesem Ausgleich führt eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Betretensverbots.
a) Als Zwecke, denen das Betretensverbot dient, werden angegeben die Vermeidung einer Vermüllung des Platzes sowie die Verhinderung, dass betrunkene Versammlungsteilnehmer die Nutzung des Nibelungenplatzes stören. Dass solche Gefahren bestehen, ist nicht von der Hand zu weisen. Ein Betretensverbot ist geeignet, sie zu vermeiden.
b) Will man diese Gefahren vollständig ausschließen, lässt sich das Betretensverbot auch als notwendig betrachten, weil es dann ein milderes Mittel nicht gibt.
c) Das Betretensverbot muss auch dem Gebot der Verhältnismäßigkeit i. e. S., der Angemessenheit, entsprechen. Kern dieser Prüfung ist, die Interessen beider Beteiligten offen zu legen, sie zu gewichten und wertend gegeneinander abzuwägen.
aa) Da eine derartige Prüfung bereits Aufgabe des LG war, liegt in der Entscheidung über die VfB eine Überprüfung des LG-Beschlusses. Hierbei gelten d ie Grundsätze über die Urteilsverfassungsbeschwerde (oben A I), wonach die Überprüfung durch das BVerfG nur auf eine spezifische Verfassungsverletzung hin erfolgt . BVerfG NJW 2008, 2568 [10, 11] Die verfassungsgerichtliche Kontrolle beschränkt sich im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde auf die Fragen, ob eine gerichtliche Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Grundrechte beruht, deren Verletzung geltend gemacht wird, oder ob das Auslegungsergebnis selbst die geltend gemachten Grundrechte verletzt (BVerfGE 30, 173, 188).… Dagegen sind die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall grundsätzlich allein Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das BVerfG entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht kann das BVerfG auf VfB hin eingreifen (st. Rspr. seit BVerfGE 18, 85, 92 f.). Im vorliegenden Fall könnte das LG die Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit grundsätzlich falsch eingeschätzt haben.
bb) BVerfG [9, 10] hat im Rahmen der einstweiligen Anordnung ausgeführt:
Vorliegend träfe das aus dem Hausverbot folgende, faktische Verbot einer Durchführung der Versammlung den A schwer. Diesem wäre es unmöglich, die von ihm beabsichtigte Versammlung an dem ausgewählten Ort und zu der ausgewählten Zeit durchzuführen. Aufgrund der Überwachung des Platzes durch private Sicherheitsdienste und das dort durch die Eigentümerin ausgesprochene Alkoholverbot kommt dem vom Antragsteller ausgewählten Versammlungsort angesichts des inhaltlichen Themas der Versammlung - die zunehmende Beschränkung von Freiheitsrechten und die Privatisierung der inneren Sicherheit - eine besondere Bedeutung zu. Durch das Betretensverbot würde das Recht auf Versammlungsfreiheit des A in diesem Fall vereitelt… Demgegenüber ist eine gleichwertige Beeinträchtigung von Eigentumsrechten der Grundstückseigentümerin nicht zu erkennen. Die Versammlung ist auf einen Zeitraum von etwa 15 Minuten beschränkt und soll stationär abgehalten werden. A hat zugesichert, selbst sowie mittels Ordnern einer „Vermüllung“ des Platzes und dem Auftreten alkoholisierter Versammlungsteilnehmer entgegenzuwirken. Er wirbt für die Veranstaltung nicht allgemein, sondern mit Hilfe von Facebook und trägt plausibel vor, dass an der Versammlung eine überschaubare Zahl von - derzeit 140 - angemeldeten Personen teilnehmen wird.
Somit sind die für G von der Versammlung zu erwartenden Nachteile als gering zu bewerten, dementsprechend hat das Betretensverbot für G nur einen geringen Nutzen. Demgegenüber ist der Nachteil für A deutlich schwerer wiegend. Folglich ist der durch das Betretensverbot für A herbeigeführte Nachteil größer als dessen Nutzen für G, was zur Unverhältnismäßigkeit i. e. S. bzw. Unangemessenheit führt. Wenn demgegenüber der Beschluss des LG lediglich auf das Eigentumsinteresse der G abgestellt und dieses für überwiegend angesehen hat, hat er die Bedeutung der Versammlungsfreiheit des A grundsätzlich verkannt. (Schulenberg DÖV 2016, 60: durch die Argumentation von G und LG erfolgt „gerade kein Ausgleich der widerstreitenden Grundrechtspositionen“, sondern „das grundrechtliche Spannungsverhältnis wird einseitig zulasten der Versammlungsfreiheit aufgelöst“.)
4. Somit ist der Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht gerechtfertigt. Art. 8 GG ist verletzt. Die VfB ist begründet.
Im Originalfall hat das BVerfG die einstweilige Anordnung wie folgt gefasst:
Die Beschlüsse des Amtsgerichts Passau vom 13. Juli 2015 - 17 C 1163/15 - und vom 17. Juli 2015 - 13 C 1219/15 - und des Landgerichts Passau vom 16. Juli 2015 - 2 T 127/15 - werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Antragsteller den Bereich des Nibelungenplatzes in Passau am 20. Juli 2015 für die Dauer der Versammlung „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“ (ca. 18:15 Uhr bis ca. 18:30 Uhr) betreten und zum Zwecke der Durchführung der von ihm geleiteten Versammlung nutzen darf. Dies umfasst den Konsum von einer Dose Bier je Versammlungsteilnehmer.
Zusammenfassung