Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Verfassungsbeschwerde gegen Strafurteil. Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG); immanente Schranken. Inzidente Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines (Straf-) Gesetzes. Kompetenz des Landesgesetzgebers zum Erlass eines Strafgesetzes (Art. 74 I Nr. 1 GG); Gebrauchmachen durch Bundesgesetzgeber (Art. 72 I GG). Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 III GG)

BVerfG
Beschluss vom 15. 10. 2014 (2 BvR 920/14) NJW 2015, 44

Fall (Entziehung von der Schulpflicht)

Nach § 56 Schulgesetz des Landes L besteht Schulpflicht. Nach § 67 SchulG sind die Eltern dafür verantwortlich, dass ihre schulpflichtigen Kinder regelmäßig am Unterricht teilnehmen. § 182 SchulG lautet: „Wer einen anderen der Schulpflicht dauernd oder hartnäckig wiederholt entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen bestraft.“

Eltern E lehnen es aus Glaubens- und Gewissensgründen ab, ihre Kinder in eine öffentliche Schule zu schicken, und unterrichten sie zu Hause. Anschließend sorgen sie dafür, dass die Kinder an einer öffentlichen Schule eine Abschlussprüfung machen. Dabei haben die älteren Kinder gute bis sehr gute Abschlüsse erreicht. Die jüngeren, noch schulpflichtigen Kinder werden ebenfalls nicht in die Schule geschickt, sondern zu Hause unterrichtet. Von der zuständigen Schulbehörde wurde immer wieder versucht, den Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen, was aber an E scheiterte. Daraufhin wurden Strafverfahren eingeleitet und E zweimal zu Geldstrafen verurteilt. E änderten ihr Verhalten aber nicht und hielten weiter ihre Kinder vom Schulbesuch ab. Deshalb kam es wiederum zu einem (dritten) Strafverfahren, in dem E wegen dauernder Entziehung ihrer Kinder von der Schulpflicht jeweils zu einer Geldstrafe von 140 Tagessätzen zu je fünf Euro verurteilt wurden. Rechtsmittel dagegen blieben erfolglos. Die Strafgerichte würdigten zwar die Grundrechte der E, hielten aber das Wohl der Kinder und das Interesse der Allgemeinheit an deren Schulbesuch für vorrangig.

Gegen die (dritte) Verurteilung haben E frist- und formgerecht Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Sie berufen sich auf ihre Grundrechte und machen geltend, das Land L sei zum Erlass des § 182 SchulG nicht berechtigt gewesen, zumal es im StGB den § 171 gebe. Nach § 171 StGB wird mit Freiheits- oder Geldstrafe bestraft, w er seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter sechzehn Jahren gröblich verletzt und dadurch den Schutzbefohlenen in die Gefahr bringt, in seiner körperlichen oder psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, einen kriminellen Lebenswandel zu führen oder der Prostitution nachzugehen. Eine solche Gefahr bestehe bei den Kindern der E nicht, was durch eine landesrechtliche Vorschrift nicht umgangen werden dürfe. Überdies gebe es eine mit § 182 SchulG vergleichbare Vorschrift nur in vier weiteren Bundesländern, in den meisten werde eine Verletzung der Schulpflicht allenfalls als Ordnungswidrigkeit geahndet. Zumindest sei es nicht zulässig, E wegen desselben Verhaltens mehrfach zu bestrafen. Wie ist über die Verfassungsbeschwerde zu entscheiden?

A. Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde (VfB)

I. Die VfB muss sich gegen einen Hoheitsakt richten (§ 90 I BVerfGG).

1. Hoheitsakt ist im vorliegenden Fall das Strafurteil, durch das E zu einer Geldstrafe verurteilt wurden. Das Verfahren vor dem BVerfG ist somit eine Urteilsverfassungsbeschwerde.

2. Zwar machen E auch geltend, § 182 SchulG sei verfassungswidrig. Unmittelbar gegenüber einem Gesetz ist eine VfB aber nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer durch das Gesetz unmittelbar betroffen ist, was nicht der Fall ist, wenn das Gesetz noch einer Vollziehung bedarf oder eine Vollziehung erfolgt ist (BVerfG DVBl 2007, 1097). Im vorliegenden Fall ist das Gesetz durch die Verurteilung vollzogen worden, so dass E unmittelbar nur durch die Verurteilung betroffen sind. Die Verfassungsmäßigkeit des § 182 SchulG ist inzidenter im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Verurteilung zu prüfen, weil eine verfassungsmäßige Verurteilung nur vorliegt, wenn sie auf ein verfassungsmäßiges Gesetz gestützt werden kann (Art. 103 II GG). § 182 SchulG wird deshalb durch die VfB nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar angegriffen (vgl. § 95 III 2 BVerfG). Ein unmittelbarer Angriff könnte auch daran scheitern, dass die Jahresfrist des § 93 III BVerfG abgelaufen ist.

II. E machen entsprechend § 90 I BVerfGG geltend, sie würden durch die Verurteilung in ihren Grundrechten aus Art. 4 I GG (Glaubens- und Gewissensfreiheit) und aus Art. 6 II 1 GG, wonach die Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern ist, verletzt.

III. Da Rechtsmittel eingelegt wurden und keinen Erfolg hatten, ist der Rechtsweg ausgeschöpft (§ 90 II 1 BVerfGG).

IV. D ie VfB wurde schriftlich erhoben und begründet (§ 23 I BVerfGG) und innerhalb der Monatsfrist des § 93 I 1 BVerfGG erhoben. Sie ist daher zulässig.

B. Die VfB ist begründet, wenn E in einem ihrer Grundrechte verletzt sind.

I. E könnten in ihrer durch Art. 4 I GG geschützten Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt sein.

1. Es müsste ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegen.

a) Art. 4 I GG schützt nicht nur das Haben eines Glaubens und die freie Gewissensbildung im Inneren des Menschen, sondern auch die Verwirklichung der Glaubens- und Gewissensentscheidung, gibt also das Recht, entsprechend dem Glauben und der Gewissensentscheidung zu handeln und dadurch die vorhandene Überzeugung auch zu verwirklichen. E verwirklichen ihre von ihrem Glauben geleitete und auf einer Gewissensentscheidung beruhende Überzeugung dadurch, dass sie ihre Kinder nicht in eine öffentliche Schule schicken. Diese Verwirklichung von Glauben und Gewissen wird durch Art. 4 I GG geschützt.

b) Wird ein Mensch vom Staat gezwungen, entgegen seiner Glaubens- oder Gewissensentscheidung zu handeln, oder erleidet er als Folge seines glaubens- oder gewissensgeleiteten Verhaltens einen Nachteil, liegt ein Eingriff vor. Bei E hat ihr Verhalten dazu geführt, dass sie bestraft wurden, also einen erheblichen Nachteil erlitten haben. Darin liegt ein Eingriff in die von Art. 4 I GG geschützte Glaubens- und Gewissensfreiheit. Folglich ist ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 4 I GG zu bejahen.

2. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein. Eine Rechtfertigung über einen Gesetzesvorbehalt ist bei Art. 4 I, II GG nicht möglich, weil die dort enthaltenen Grundrechte vorbehaltlos gewährleistet sind. Da es aber keine schrankenlos gewährleisteten Rechte geben kann, unterliegen vorbehaltlos gewährte Grundrechte Schranken aus anderen Verfassungswerten und aus kollidierenden Grundrechten Dritter (sog. immanente Schranken). Auch hier ist aber, ebenso wie beim Gesetzesvorbehalt, ein die immanenten Schranken konkretisierendes Gesetz erforderlich; denn insoweit dürfen bei der Beschränkung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte keine geringeren Anforderungen gelten als beim Gesetzesvorbehalt. Weder die Gerichte noch die Verwaltung sind berechtigt, allein aufgrund immanenter Schranken in Grundrechte einzugreifen.

Zu den gesetzlichen Vorschriften, die im vorliegenden Fall die immanenten Schranken konkretisieren können, gehört nicht nur die eigentliche Strafnorm des § 182 SchulG, sondern es sind auch §§ 56, 67 SchulG heranzuziehen, da § 182 SchulG das Mittel ist, um die Verpflichtungen aus §§ 56, 67 SchulG durchzusetzen. Wären §§ 56, 67 nicht verfassungsmäßig und deshalb unwirksam, würde auch die Strafnorm des § 182 ihren Sinn verlieren.

Die genannten Vorschriften des SchulG können zur Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 4 I GG führen, wenn sie andere, vorrangige Verfassungswerte oder höherrangige kollidierende Grundrechte Dritter verwirklichen.

a) Diese Voraussetzungen liegen zunächst im Hinblick auf § 56 SchulG vor.

aa) Nach Art. 7 I GG steht das Schulwesen unter der Aufsicht des Staates. Diese Vorschrift wird weit über ihren Wortlaut hinaus verstanden und räumt dem Staat eine sog. Vollkompetenz im Hinblick auf das Schulwesen ein. Danach darf der Staat auch eine Schulpflicht einführen. Diese Befugnis ist ein hochrangiger Verfassungswert. Dabei richtet sich, wer Staat ist, nach der Kompetenzordnung des GG. Für das Schulwesen sind mangels Bundeszuständigkeit die Länder zuständig (BVerfGE 59, 360, 377). Folglich war das Land L zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht befugt. Da diese Befugnis sich auch aus Art. 7 I GG ergibt, verwirklicht sie einen Verfassungswert.

bb) Für die Einführung der Schulpflicht sprechen auch weitere verfassungsrechtlich geschützte Interessen. Das sind zunächst die Rechte der Kinder auf Bildung, die durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I GG geschützt werden. Allerdings reicht das möglicherweise für Fälle wie den vorliegenden, in denen die Eltern den Kindern die nötigen Kenntnisse vermitteln, nicht aus. Deshalb BVerfG [25} Außerdem hat die Allgemeinheit ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Parallelgesellschaften" entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. Selbst ein mit erfolgreichen Ergebnissen einhergehender Hausunterricht verhindert nicht, dass sich die Kinder vor einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen verschließen, und ist deshalb nicht geeignet, die insbesondere in einer Klassengemeinschaft gelebte Toleranz gegenüber einem breiten Meinungsspektrum nachhaltig zu fördern (vgl. BVerfGK 8, 151, 155 f.).

cc)
Diese dem GG zu entnehmenden Werte haben Vorrang vor der Glaubens- und Gewissensfreiheit der Eltern, da letztere durch eine Schulpflicht nur wenig beeinträchtigt wird. Denn dass Kinder zur Schule gehen, lässt der Glaubens- und Gewissensfreiheit ihrer Eltern noch genügend Raum. Somit ist § 56 SchulG verfassungsmäßig.

b) § 67 SchulG zieht die Konsequenz daraus, dass Schulpflicht besteht, die Erfüllung dieser Pflicht auch den Eltern obliegt (Art. 6 II 1 GG) und dass der Staat die Erfüllung dieser Pflichten überwacht (Art. 6 II 2 GG). Folglich darf der Staat auch die Eltern für die Erfüllung der Schulpflicht ihrer Kinder verantwortlich machen.

3. §§ 56, 67 SchulG verwirklichen somit Verfassungswerte und lassen sich auf Grundrechte der Kinder stützen. Der durch sie vorgenommene Eingriff in Art. 4 I GG ist gerechtfertigt.

II. Auf die gleiche Weise lässt sich der Eingriff der §§ 56, 67 SchulG in das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 II 1 GG) rechtfertigen, zumal dieses Recht in Art. 6 II 2 unter dem Vorbehalt steht, dass die staatliche Gemeinschaft über seine Betätigung wacht.

III. Für die Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 4 I, 6 II 1 GG gerade durch eine Bestrafung bedarf es einer weitergehenden Begründung. Hierfür müsste die in § 182 SchulG enthaltene Bestrafensregelung verfassungsmäßig sein.

1. Für die formelle Verfassungsmäßigkeit ist erforderlich, dass dem Land L eine Gesetzgebungskompetenz zum Erlass des § 182 SchulG zustand. Die grundsätzliche Gesetzgebungskompetenz der Länder folgt aus Art. 70 I GG, wo das in Art. 30 GG allgemein enthaltene Prinzip der Länderzuständigkeit für den Erlass von Gesetzen konkretisiert wird. Sie wird allerdings durch die nachfolgenden Artikel und die dort aufgeführten Bundeskompetenzen eingeschränkt. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Strafvorschrift. Das Strafrecht gehört nach Art. 74 I Nr. 1 GG zur konkurrierenden Gesetzgebung. Bei dieser sind die Länder nach Art. 72 I GG ausgeschlossen, wenn der Bund von seiner Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch gemacht hat. Eine Vorschrift mit dem Inhalt des § 182 SchulG hat der Bund nicht erlassen. Ein Gebrauchmachen liegt aber auch vor, wenn der Bund eine Regelung durch die Länder ausschließen wollte oder ein Gebiet abschließend geregelt hat.

a) BVerfG [11] Ein Gebrauchmachen im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht nur dann vor, wenn der Bund eine Regelung getroffen hat. Auch in dem absichtsvollen Unterlassen einer Regelung kann ein Gebrauchmachen von einer Bundeszuständigkeit liegen, welche dann insoweit eine Sperrwirkung für die Länder erzeugt (vgl. BVerfGE 32, 319, 327 f.). Außerdem darf sich ein Landesgesetzgeber zu einem erkennbar gewordenen Willen des Bundesgesetzgebers, zusätzliche Regelungen auszuschließen, nicht in Widerspruch setzen… (vgl. BVerfGE 32, 319, 327; 85, 134, 147).

b) [12] Dabei kann der Bundesgesetzgeber im Bereich der im Strafgesetzbuch herkömmlich geregelten Materien Straftatbestände auch dort schaffen, wo ihm sonst durch den Zuständigkeitskatalog des Grundgesetzes Grenzen gezogen sind (vgl. BVerfGE 23, 113, 124; 98, 265, 312). Soweit diese Regelungen abschließend sind, verhindern sie ergänzendes oder abweichendes Landesrecht, das auf den Schutz desselben Rechtsguts gerichtet ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2009 - 2 BvL 5/09 -, juris, Rn. 38). Dies wird in Art. 4 Abs. 2 EGStGB einfachgesetzlich bestätigt (vgl. BVerfGE 98, 265, 312). Somit könnte der Bund auch im Bereich des Schulrechts, für das er grundsätzlich keine Gesetzgebungskompetenz hat, eine Strafvorschrift zur Durchsetzung der Schulpflicht erlassen. Eine solche Strafvorschrift wäre § 171 StGB, wenn diese Vorschrift abschließend auch die Entziehung der Kinder von der Schulpflicht durch die Eltern umfassen würde.

BVerfG [13] Ob der Gebrauch, den der Bund von einer Kompetenz gemacht hat, abschließend ist, muss aufgrund einer Gesamtwürdigung des betreffenden Normenkomplexes festgestellt werden (vgl. BVerfGE 67, 299, 324; 109, 190, 229). In jedem Fall setzt die Sperrwirkung für die Länder voraus, dass der Gebrauch der Kompetenz durch den Bund hinreichend erkennbar ist (vgl. BVerfGE 98, 265, 301).

aa) Der äußere Tatbestand des § 171 StGB setzt zunächst voraus, dass der Täter seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter 16 Jahren gröblich verletzt, ohne dass das so umschriebene Handeln oder Unterlassen im Gesetz eine weitergehende Konkretisierung erführe. Sie ist derart allgemein formuliert, dass ein tatbestandliches Handeln oder Unterlassen nicht nur in dem anhaltenden Dulden von Schulschwänzen (…), sondern auch in dem Abhalten eines schulpflichtigen Kindes vom Schulbesuch (vgl.…Lenckner/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 171 Rn. 8; Fischer, StGB, 61. Aufl. 2014, § 171 Rn. 6;…) erblickt werden kann. Insoweit sind jedenfalls im Ausgangspunkt tatbestandliche Überschneidungen mit der hier in Rede stehenden Strafnorm des § 182 Abs. 1 SchulG - insbesondere mit dem dortigen Merkmal des „Entziehens" - denkbar. Gleichwohl ist der Wortlaut des § 171 StGB zu indifferent, als dass darin ein absichtsvolles Unterlassen des Bundesgesetzgebers erblickt werden könnte, zusätzliche und konkrete Regelungen seitens des Landesgesetzgebers auszuschließen, zumal der Inhalt der in Bezug genommenen Fürsorge- und Erziehungspflichten sich nicht allgemein und abstrakt bestimmen lässt, sondern vielmehr aus dem besonderen Zweck der Vorschrift herzuleiten ist (…).

bb) Die Strafnorm des § 171 StGB bezweckt nach einhelliger Meinung (folgen umfassende Nachw.) den Schutz der gesunden körperlichen und psychischen Entwicklung von Jugendlichen unter 16 Jahren. Geschütztes Rechtsgut ist sowohl das körperliche Wohlergehen als auch die sittliche und geistige Entwicklung des Schutzbefohlenen, insbesondere ihn zu künftigem Legalverhalten zu erziehen und ihm die Fähigkeit zu vermitteln, Lebensaufgaben unter Berücksichtigung des geltenden Normensystems zu bewältigen… In diesem Sinne nimmt der Staat nur reflexartig an individuellen Rechtsgütern teil, ohne dass das individuell ausgerichtete Rechtsgut dadurch zu einem Rechtsgut der Allgemeinheit würde (…). Demgegenüber ist § 182 SchulG eingeführt worden, um besonders schwere Schulpflichtverstöße angemessen und wirkungsvoll ahnden zu können (…). Die Strafbestimmung bezweckt mithin allein die Durchsetzung der - landesrechtlich geregelten - allgemeinen Schulpflicht. Letztere wiederum hat primär zum Ziel, dem in Art. 7 Abs. 1 GG normierten staatlichen Erziehungsauftrag zur Durchsetzung zu verhelfen, welcher seinerseits nicht nur im durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kindesinteresse, sondern ebenso im Allgemeininteresse liegt (…). Damit dienen die jeweiligen Strafvorschriften dem Schutz weitgehend unterschiedlicher Rechtsgüter (vgl. BVerfGE 98, 265, 312), so dass § 171 StGB eine Sperrwirkung für den Landesgesetzgeber nicht erkennen lässt.

cc) Gegen den abschließenden Regelungscharakter des § 171 StGB spricht ferner, dass zur Verwirklichung seines objektiven Tatbestandes die Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht allein nicht ausreichend ist. Die Tathandlung muss darüber hinaus eine der im Gesetz genannten Risiken auslösen, nämlich die Gefahr erheblicher körperlicher oder seelischer Entwicklungsschäden, eines kriminellen Lebenswandels oder des Abgleitens in die Prostitution. Der Straftatbestand des § 171 StGB ist somit als konkretes Gefährdungsdelikt ausgestaltet (…). Die Strafnorm des § 182 SchulG hingegen setzt lediglich ein dauernd oder hartnäckig wiederholtes Entziehen anderer von der Schulpflicht voraus, verlangt also für die objektive Tatbestandsverwirklichung ein Tun oder Unterlassen (…), ohne dass es auf eine etwaige konkrete Kindeswohlgefährdung ankommt… Auch nach der Entstehungsgeschichte ist davon auszugehen, dass es dem Gesetzgeber mit Schaffung des § 171 StGB vornehmlich darauf ankam, Kinder in ihrer körperlichen und psychischen Integrität zu schützen (…), indem sie vor einem Abgleiten in ein Kriminellen- beziehungsweise Prostituiertenmilieu bewahrt bleiben sollten. Demgegenüber kann den Gesetzesmaterialien nicht entnommen werden, dass der Bundesgesetzgeber mit § 171 StGB - anders als der Landesgesetzgeber mit § 182 SchulG - die allgemeine Schulpflicht strafrechtlich zu flankieren beabsichtigte…

Folglich hat der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 I Nr. 1 GG nicht insoweit Gebrauch gemacht, als er Regelungen betreffend die Nichterfüllung der Schulpflicht hat treffen wollen. Daraus folgt, dass das Land eine solche Regelung nach Art. 70 I, 72 I GG erlassen durfte.

Zusammenfassend BVerfG [14] Der Bundesgesetzgeber hat mit Erlass des § 171 StGB von seiner konkurrierenden Zuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG nicht abschließend Gebrauch gemacht und deshalb die Landeskompetenz gemäß Art. 72 Abs. 1 GG nicht verdrängt. Weder der Regelungscharakter des § 171 StGB noch dessen Schutzzweck und Historie lassen den unmittelbaren Schluss auf eine abschließende Regelung zu. Auch im Rahmen einer Gesamtwürdigung lässt sich nicht feststellen, dass mit dieser Strafnorm die Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht in der Weise abschließend geregelt werden sollte, dass daneben kein Raum für die strafrechtliche Sanktionierung von Schulpflichtverletzungen nach Landesrecht mehr bliebe.

2. Da durch die Bestrafensregelung des § 182 SchulG in die Grundrechte der E nach Art. 4 I, 6 II 1 GG eingegriffen wird, müsste auch die Bestrafensregelung durch die oben B I 2 behandelten vorrangigen Verfassungswerte und Grundrechte gerechtfertigt sein.

a) Grundsätzlich treffen die zur Rechtfertigung der §§ 56, 67 SchulG angeführten Erwägungen auch auf § 182 SchulG zu. Die Bestrafung verfolgt dieselben Zwecke wie §§ 56, 67, soll also die Grundrechte der Kinder auf Bildung schützen, den Auftrag an den Staat zur Überwachung der elterlichen Erziehung verwirklichen und dem Interesse der Allgemeinheit dienen, dass Kinder in einer Klassengemeinschaft Toleranz lernen.

b) Allerdings bedeutet eine Bestrafung einen besonders harten Eingriff. Gleichwohl verlangt das BVerfG dafür keine besondere Rechtfertigung, sondern billigt dem Gesetzgeber die Entscheidung darüber zu, wie er seine regulatorischen Ziele durchsetzt. [22] Angesichts der Tatsache, dass der in Art. 7 Abs. 1 GG verankerte staatliche Erziehungsauftrag der Schule dem elterlichen Erziehungsrecht gleichgeordnet ist (…), unterliegt es - auch im Lichte des Art. 4 Abs. 1 GG… - keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, die Beachtung der Schulpflicht von den Erziehungsberechtigten dadurch einzufordern, dass der (Landes-)Gesetzgeber entsprechende Strafvorschriften schafft und die Strafgerichte bei deren Verletzung Geld- oder Freiheitsstrafen verhängen. Insofern greift auch die von den Beschwerdeführern in diesem Kontext erhobene Rüge des Verstoßes gegen das Übermaßverbot nicht durch.

Somit verstößt die Bestrafensregelung weder gegen Art. 4 I GG noch gegen Art. 6 II 1 GG.

IV. Auch eine Verletzung des Art. 3 I GG ist nicht gegeben. BVerfG [23] Der Umstand, dass nur in fünf Bundesländern…die Verletzung der Schulpflicht strafbewehrt ist und in den übrigen Bundesländern ausschließlich mit einem Bußgeld geahndet wird, ist nicht geeignet, unter dem Blickwinkel des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG die materielle Verfassungswidrigkeit des § 182 Abs. 1 SchulG zu begründen. Denn eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung liegt allein dann vor, wenn sie von ein und demselben Hoheitsträger in seinem eigenen Kompetenzbereich ausgeht (vgl. BVerfGE 79, 127, 158;…122, 1, 25, st. Rspr). Ein Landesgesetzgeber ist daher nicht gehindert, von der Gesetzgebung anderer Länder abweichende Regelungen zu treffen (vgl. Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 27).

Ergebnis zu !. - IV: § 182 SchulG ist verfassungsmäßig und kann daher Rechtsgrundlage für ein in Grundrechte eingreifendes Strafurteil sein.

V. Eine Grundrechtsverletzung kann auch in einer verfassungswidrigen Anwendung des § 182 SchulG liegen.

1. Dabei ist aber die Besonderheit der Urteilsverfassungsbeschwerde zu beachten. Bei ihr prüft das BVerfG das Straf- oder Zivilurteil nicht unbegrenzt nach, sondern überprüft es nur auf spezifische Verfassungsverletzungen hin. Solche liegen nur vor, wenn das (Straf- oder Zivil-) Urteil Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (BVerfGE 89, 1, 9 f.; 95, 28, 37; 97, 391, 401; 112, 332, 358 f.). Ein Grundrechtsverstoß liegt insbesondere dann vor, wenn das Gericht den grundrechtlichen Einfluss überhaupt nicht berücksichtigt oder unzutreffend eingeschätzt hat und die Entscheidung auf der Verkennung des Grundrechtseinflusses beruht (BVerfGE 97, 391, 401).

2. Dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall auf die Strafurteile zutreffen, lässt sich nicht feststellen. Vielmehr ist dem Satz des Sachverhalts, d ie Strafgerichte hätten die Grundrechte der E gewürdigt, das Wohl der Kinder und das Interesse der Allgemeinheit an deren Schulbesuch aber für vorrangig gehalten, zu entnehmen, dass die Grundrechte bei der Rechtsanwendung angemessen berücksichtigt wurden. BVerfG [25] Die Strafgerichte haben insbesondere die Ausstrahlungswirkung des elterlichen Erziehungsrechts der Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und deren gewissensgeleitete Entscheidung in den Blick genommen, ihre Kinder aus Glaubensgründen vom Unterricht fernzuhalten. Somit verletzt die Anwendung des § 182 SchulG die Grundrechte der E aus Art. 4 I, 6 I 1 GG nicht.

VI. Die wiederholte Bestrafung der E könnte gegen das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 III GG, „ne bis in idem“) verstoßen.

1. Dann müsste es sich bei den wiederholten Bestrafungen um dieselbe Tat gehandelt haben.

a) BVerfG [27] „Tat" im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG ist der geschichtliche - und damit zeitlich und sachverhaltlich begrenzte - Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll…

b) Im vorliegenden Fall sind die geschichtlichen Vorgänge, die den unterschiedlichen Verurteilungen zugrunde lagen beziehungsweise liegen, schon zeitlich nicht identisch und sind voneinander abgrenzbar (…), da die verschiedenen Straferkenntnisse unterschiedliche Tatzeiträume betrafen, so dass hierin eine willkürliche…Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhalts nicht zu erkennen ist. Somit fehlt es an derselben Tat.

2. Eine unzulässige Doppelbestrafung liegt auch nicht deshalb vor, weil den Beschwerdeführern zufolge das tatbestandliche Verhalten auf eine einmal getroffene, „festgefügte und unumstößliche" Glaubens- und Gewissensentscheidung zurückzuführen ist. Die von ihnen in diesem Zusammenhang angeführte Rspr. des BVerfG zur Ersatzdienstverweigerung, wonach die wiederholte Nichtbefolgung einer Einberufung zum Zivildienst unter dem Gesichtspunkt eines einheitlichen und fortwirkenden inneren Entschlusses dann dieselbe Tat im Sinne von Art. 103 Abs. 3 GG darstellt, wenn der Dienstverweigerung eine fortdauernde und ernsthafte, an den Kategorien von „Gut" und „Böse" orientierte Entscheidung des Gewissens zugrunde liegt (vgl. BVerfGE 23, 191, 203 ff.;…NJW 1984, 1675…), lässt sich nicht auf vorliegenden Sachverhalt übertragen. Die an Ersatzdienstverweigerer einerseits und an die Eltern schulpflichtiger Kinder andererseits gestellten und jeweils nicht erfüllten Anforderungen sind unterschiedlich… Jenen Entscheidungen lag die Besonderheit zugrunde, dass Ersatzdienstverweigerer der stets gleich bleibenden Forderung des Staates auf die einmalige Erfüllung der Ersatzdienstpflicht nicht nachkamen und sich deren Tatbestandsverwirklichung folglich in einem einmaligen Unterlassen erschöpfte (…), während dies bei Eltern, die ihre Kinder vom Schulbesuch fernhalten, nicht der Fall ist. Von ihnen wird etwa bei Beginn eines neuen Schuljahrs erneut verlangt, den Entschluss zu fassen, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Auch liegt bei Eltern, die ihre Kinder vom Schulbesuch abhalten, der Schwerpunkt auf einem aktiven Tun und ist nicht vergleichbar mit dem „Totalunterlassen“ eines Kriegsdienst- oder Zivildienstverweigerers.

Folglich liegt keine Verletzung des Art. 103 III GG vor.

Gesamtergebnis: E sind nicht in einem Grundrecht verletzt. Die VfB ist abzuweisen. (Das BVerfG hat sie bereits nicht zur Entscheidung angenommen.)


Zusammenfassung