Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Rechtssatzverfassungsbeschwerde. ► Geltung der Grundrechte beim Handeln deutscher Staatsorgane gegenüber Ausländern im Ausland, Art. 1 III GG. ►Geltung auch bei Auslandsspionage durch Bundesnachrichtendienst. ► Fernmeldegeheimnis, Art. 10 I GG; Schutzbereich und Einschränkungen. ► Zitiergebot, Art. 19 I 2 GG. ► Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen. ► Pressefreiheit, Art. 5 I 2 GG
BVerfG Urteil vom 19.5.2020 (1 BvR 2835/17) NJW 2020, 2235
Fall (Auslandsaufklärung)
In Deutschland gibt es drei Nachrichtendienste: das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), zuständig für die Überwachung verfassungsfeindlicher Bestrebungen; den Militärischen Abschirmdienst (MAD), dessen Aufgabe u. a. die Abwehr von Spionage, Sabotage und Extremismus ist, und den Bundesnachrichtendienst (BND). Dieser ist dem Bundeskanzleramt unterstellt und nach § 1 II des Bundes-Gesetzes über den Bundesnachrichtendienst (BNDG) zuständig für die zivile und militärische Auslandsaufklärung. Zu dieser gehört die sog. strategische Fernmeldeaufklärung, die auf die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs von im Ausland befindlichen Ausländern zielt. Nach § 6 I BNDG darf der BND „mit technischen Mitteln Informationen einschließlich personenbezogener Daten aus Telekommunikationsnetzen, über die eine Telekommunikation von Ausländern im Ausland erfolgt, erheben und verarbeiten (Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung), wenn diese Daten erforderlich sind, um 1. frühzeitig Gefahren für die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland erkennen und diesen begegnen zu können…“ Eine Klausel über die Einschränkung von Grundrechten enthält das BNDG nur in den Fällen „Besonderer Auskunftsverlangen“ (§ 3 III), nicht jedoch für die Fälle des § 6 BNDG, was im Gesetzgebungsverfahren damit begründet wurde, dass deutsche Grundrechte im Ausland nicht gelten. Technisch durchgeführt wird die Auslands-Fernmeldeaufklärung in der Weise, dass sich der BND Zugang zu Datennetzen, insbesondere zu Satellitennetzen verschafft, und die abgegriffenen Daten computergestützt auswertet. Nach § 2 IV BNDG müssen sich die Maßnahmen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit halten. Konkretisierungen wurden vom Gesetzgeber mit der Begründung abgelehnt, sie seien mit den Aufgaben eines Geheimdienstes nicht vereinbar.
J ist ein US-amerikanischer Journalist, der in Mexiko ansässig ist und dort arbeitet. Er hat form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde gegen § 6 BNDG erhoben und sich darauf berufen, § 6 BNDG verletze das Fernmeldegeheimnis und die Pressefreiheit. Sein Arbeitsbereich umfasse auch Themen, die sich mit Vorgängen in Deutschland befassen, und hierfür nutze er umfangreich elektronische Telekommunikationsdienste, insbesondere beim Kontakt mit Informanten. Diesen müsste er Vertraulichkeit zusichern, was aber künftig nicht mehr möglich sei, weil er damit rechnen müsse, vom BND ausspioniert zu werden. Nach seiner Auffassung verstoße es gegen Völkerrecht, wenn deutsche Staatsorgane ausländische Bürger im Ausland überwachen und damit die Ausübung deutscher Staatsgewalt auf einen fremden Staat erstrecken. Zumindest dürften die Befugnisse nicht anlasslos gewährt werden und müssten zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit eingegrenzt und konkretisiert werden. Die Bundesregierung bezieht sich auf die Begründung im Gesetzgebungsverfahren, wonach die Geltung der Grundrechte auf das deutsche Staatsgebiet beschränkt sei, so dass J als Ausländer im Ausland sich nicht auf deutsche Grundrechte berufen könne. Auch sei weder festgestellt noch wahrscheinlich, dass J wirklich überwacht werde. Wie ist über die Verfassungsbeschwerde zu entscheiden?
Lösung
Vorbemerkungen: Der Originalfall ist weit umfangreicher als der hier gestellte, notwendig stark vereinfachte Fall; er umfasst Verfassungsbeschwerden von 8 Beschwerdeführern, richtet sich gegen (mindestens) 9 Vorschriften des BNDG mit unterschiedlichen Maßnahmen; die Urteilsgründe umfassen 141 Seiten. Deshalb kann die Lösung des Falles nur einen - allerdings den wesentlichen - Ausschnitt aus dem BVerfG-Urteil abdecken und muss einige Originalzitate anpassen. – Besprochen wird das Urteil von Gärditz JZ 2020, 825 (S. 834: „Grundsatzurteil, mit dem zentrale, zuvor nicht hinlänglich geklärte Streitfragen entschieden wurden“); Schmahl NJW 2020, 2221 („Urteil ist…Meilenstein in der Grundrechtsjudikatur des BVerfG“); Muckel JA 2020, 631; Sachs JuS 2020, 705; Huber NVwZ-Beilage 1/2020 S. 3 ff.
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (VfB)
I. Eine VfB muss sich gegen einen Hoheitsakt richten (§ 90 I BVerfGG; Beschwerdegegenstand). Zu den Hoheitsakten gehören Gesetze (vgl. § 93 III BVerfGG). Folglich kann sich die VfB gegen § 6 BNDG richten. Es handelt sich um eine Rechtssatz-VfB.
II. Der Beschwerdeführer (Bf.) muss behaupten, in einem Grundrecht verletzt zu sein (§ 90 I BVerfGG; Beschwerdebefugnis).
1. J behauptet eine Verletzung des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) und der Pressefreiheit (Art. 5 I 2 GG).
2. Eine Verletzung von Grundrechten setzt voraus, dass das Grundrecht der verletzten Person zusteht und gegenüber der hoheitlichen Maßnahme Geltung beansprucht. Im vorliegenden Fall müssten die genannten Grundrechte dem Bf. J zustehen und sich gegen den BNDG richten, was aber gerade problematisch ist. Jedoch braucht das im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung nicht entschieden zu werden. Ebenso wie die Verletzung selbst nur behauptet zu werden braucht und lediglich nicht ausgeschlossen sein darf, reicht auch für die vorgelagerte Frage der Grundrechtsbindung aus, dass sie möglicherweise besteht. Letzteres ist zu bejahen, so dass J die Beschwerdebefugnis zusteht. BVerfG [61] Ob und wieweit sich Staatsangehörige anderer Staaten gegenüber Maßnahmen der deutschen Staatsgewalt auch im Ausland auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen können, ist bisher nicht abschließend geklärt… Damit erscheint eine Grundrechtsverletzung jedenfalls möglich.
III. Bei einer Rechtssatz-VfB ist eine besondere Betroffenheit erforderlich. Der Bf. muss von dem Gesetz selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein (BVerfG [71]).
1. J beruft sich darauf, dass ihm selbst eine Überwachung droht, und macht keine Rechte Dritter oder der Allgemeinheit geltend.
2. Die Überwachung droht auch gegenwärtig und nicht erst in einer fernen Zukunft.
Zu 1 und 2 BVerfG [74] J beruft sich darauf, im Rahmen seiner Tätigkeit wiederholt mit oftmals verdeckt bleibenden Informanten zu kommunizieren, an denen und deren Kenntnissen auch der BND angesichts seiner Aufgaben naheliegenderweise ein erhebliches Interesse habe. Angesichts der Streubreite der durch die angegriffenen Vorschriften eröffneten Maßnahmen, die nicht von vornherein auf einen begrenzten Personenkreis zugeschnitten sind, ist eine hinreichende Wahrscheinlichkeit seiner gegenwärtigen Betroffenheit dargetan (vgl. BVerfGE 109, 279, 307 f.; 141, 220, 262 Rn. 84). In Ansehung der bewusst offen gestalteten Ermächtigung, die eine flexible Anpassung an die außen- und sicherheitspolitischen Informationsbedürfnisse der Bundesregierung ermöglichen soll, ist eine Berührung des Tätigkeitsbereichs des Bf. nicht fernliegend. Angesichts der verdachtslosen und geheim gehaltenen Fernmeldeüberwachung…kann ihm eine weitere Konkretisierung des Vortrags nicht abverlangt werden (vgl. BVerfGE 100, 313, 356).
3. Unmittelbare Betroffenheit hat grundsätzlich zur Voraussetzung, dass die Rechtsfolgen bereits aufgrund des Gesetzes und ohne Vollzugsakt im Einzelfall eintreten. Andernfalls muss der Vollzugsakt abgewartet und dieser zunächst auf dem Rechtsweg angegriffen werden. BVerfG [72] Zwar bedürfen die angegriffenen Befugnisse der Umsetzung durch Vollzugsakte. Von einer unmittelbaren Betroffenheit durch ein vollziehungsbedürftiges Gesetz ist jedoch auch dann auszugehen, wenn ein Bf. den Rechtsweg nicht beschreiten kann, weil er keine Kenntnis von der Maßnahme erlangt (BVerfGE 150, 309, 324 Rn. 35 m. w. N.; st. Rspr). Die durch die angegriffene Vorschrift ermöglichten Überwachungsmaßnahmen werden grundsätzlich heimlich durchgeführt. Nachträgliche Benachrichtigungspflichten sind gesetzlich nur für den Fall des § 10 Abs. 4 Satz 2 BNDG normiert, der den Bf. als ausländischen Staatsangehörigen nicht betrifft… Der Bf. ist deswegen nicht darauf zu verweisen, Vollzugsakte abzuwarten und gegen sie vorzugehen.
BVerfG [71] Bf. J ist durch die angegriffene Vorschrift selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Seine VfB erfüllt damit die Anforderungen für Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen ein Gesetz. Zugleich hat sich die Auffassung der Bundesregierung, wonach festgestellt oder wahrscheinlich sein müsse, dass J wirklich überwacht wird, als unzutreffend erwiesen.
IV. Das Gebot vorheriger Rechtswegerschöpfung (§ 90 II BVerfGG) steht der erhobenen VfB nicht entgegen, weil es gegenüber formellen Gesetzen keinen Rechtsweg - außer der VfB - gibt (vgl. § 93 III BVerfGG). Auch hier gilt aber das Prinzip der Subsidiarität der VfB.
1. BVerfG [78] Nach dem Grundsatz der Subsidiarität sind auch vor der Erhebung von Rechtssatzverfassungsbeschwerden grundsätzlich alle Mittel zu ergreifen, die der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abhelfen können. Zu den insoweit zumutbaren Rechtsbehelfen kann die Erhebung einer verwaltungsgerichtlichen Feststellungs- oder Unterlassungsklage gehören, die eine fachgerichtliche Klärung entscheidungserheblicher Tatsachen- oder Rechtsfragen des einfachen Rechts ermöglicht (BVerfGE 150, 309, 326 Rn. 41 ff. m. w. N.). Anders liegt dies jedoch, soweit es allein um die sich unmittelbar aus der Verfassung ergebenden Grenzen für die Auslegung der Normen geht. Soweit die Beurteilung einer Norm allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, die das BVerfG zu beantworten hat, ohne dass von einer vorausgegangenen fachgerichtlichen Prüfung verbesserte Entscheidungsgrundlagen zu erwarten wären, bedarf es einer vorangehenden fachgerichtlichen Entscheidung nicht (vgl. BVerfGE 143, 246, 322 Rn. 211; st. Rspr).
2. [79] 2. Danach musste Bf. J hier nicht zunächst fachgerichtlichen Rechtsschutz suchen. Die unmittelbar gegen Normen des Gesetzes über den BND gerichtete VfB wirft im Kern allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen auf, die das BVerfG zu beantworten hat, ohne dass von einer vorausgegangenen fachgerichtlichen Prüfung substantiell verbesserte Entscheidungsgrundlagen zu erwarten wären. Dies gilt ohnehin für die im vorliegenden Verfahren zentrale Frage, ob sich ein Bf. als Ausländer im Ausland hinsichtlich der Überwachungsmaßnahmen überhaupt auf die Grundrechte des GG stützen kann. Das gilt aber auch für die angegriffene Vorschrift im Einzelnen. Ihre verfassungsrechtliche Beurteilung hängt nicht an der näheren fachrechtlichen Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale der angegriffenen Eingriffsgrundlagen, sondern an der verfassungsrechtlichen Tragfähigkeit der strategischen Telekommunikationsüberwachung als solcher und ihrer Bestimmtheit und hinreichenden Eingrenzung.
[71] Die VfB genügt den Anforderungen der Subsidiarität.
V. Nach dem Sachverhalt ist davon auszugehen, dass J die VfB formgerecht (Schriftform, § 23 BVerfGG), mit der von § 92 BVerfGG geforderten Begründung und innerhalb der Jahresfrist des § 93 III BVerfGG (vgl. BVerfG [82,83]) erhoben hat. Folglich ist die VfB des J zulässig.
B. Begründetheit der VfB
Die VfB ist begründet, wenn § 6 I BNDG ein Grundrecht des J verletzt, wobei Art. 10 GG und Art. 5 I 2 GG als verletzte Grundrechte in Betracht kommen.
I. Als Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Grundrechte auf den Fall des J ist die Frage zu beantworten, ob die Grundrechte des GG auch zugunsten von Ausländern im Ausland gelten. Die Frage der Geltung zugunsten eines Ausländers wäre allerdings zu verneinen, wenn der Bf. sich lediglich auf ein Deutschenrecht („Alle Deutschen haben das Recht…“, vgl. Art. 12 I GG) berufen würde. Jedoch enthalten Art. 10 und 5 I 2 GG diese Einschränkung nicht; sie sind Menschenrechte. Neben diesem personellen Aspekt stellt sich für Deutschen- und Menschenrechte die Frage ihrer Geltung im Ausland. Sie steht im Vordergrund und kann nachfolgend für Art. 10 und 5 I 2 gemeinsam behandelt werden; die - grundsätzlich gebotene - getrennte Prüfung der beiden Grundrechte erfolgt erst unter II. und III.
1. BVerfG [88] Art. 1 Abs. 3 GG begründet eine umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes. Einschränkende Anforderungen, die die Grundrechtsbindung von einem territorialen Bezug zum Bundesgebiet oder der Ausübung spezifischer Hoheitsbefugnisse abhängig machen, lassen sich der Vorschrift nicht entnehmen.
a) [89] Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Eine Beschränkung auf das Staatsgebiet enthält die Vorschrift nicht. Für das Handeln deutscher Staatsorgane im Ausland kann eine Ausnahme von der Grundrechtsgeltung auch nicht aus einem dahingehenden unausgesprochen konsentierten Grundverständnis bei Entstehung des Grundgesetzes hergeleitet werden (a. A. Hecker, in: Dietrich/Eiffler [Hrsg.], Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, III § 2 Rn. 46).… Der Anspruch eines umfassenden, den Menschen in den Mittelpunkt stellenden Grundrechtsschutzes spricht vielmehr dafür, dass die Grundrechte immer dann schützen sollen, wenn der deutsche Staat handelt und damit potentiell Schutzbedarf auslösen kann - unabhängig davon, an welchem Ort und gegenüber wem. [96] Mit der Anerkennung der Grundrechte als Menschenrechte wäre ein Verständnis der Grundrechte des Grundgesetzes, das deren Geltung an der Staatsgrenze enden lässt und deutsche Stellen gegenüber Ausländern im Ausland von ihrer Verpflichtung auf die Grund- und Menschenrechte entbindet, nicht vereinbar.
b) [91] Die Grundrechte binden die staatliche Gewalt umfassend und insgesamt, unabhängig von bestimmten Funktionen, Handlungsformen oder Gegenständen staatlicher Aufgabenwahrnehmung (vgl. Hölscheidt, Jura 2017, 148, 150 f.). Das Verständnis der staatlichen Gewalt ist dabei weit zu fassen und erstreckt sich nicht nur auf imperative Maßnahmen oder solche, die durch Hoheitsbefugnisse unterlegt sind. Alle Entscheidungen, die auf den jeweiligen staatlichen Entscheidungsebenen den Anspruch erheben können, autorisiert im Namen aller Bürgerinnen und Bürger getroffen zu werden, sind von der Grundrechtsbindung erfasst. Eingeschlossen sind hiervon Maßnahmen, Äußerungen und Handlungen hoheitlicher wie nicht hoheitlicher Art. Grundrechtsgebundene staatliche Gewalt im Sinne des Art. 1 Abs. 3 GG ist danach jedes Handeln staatlicher Organe oder Organisationen… (BVerfGE 128, 226, 244).
c) Insbesondere steht die Eigenart einer nachrichtendienstlichen Tätigkeit, bei der die Akteure in keinen Kontakt mit den Bürgern treten, der Grundrechtsbindung nicht entgegen. BVerfG [90] Die Bindung an die Grundrechte beschränkt sich nicht auf Konstellationen, in denen der Staat den Betroffenen als mit dem Gewaltmonopol versehene Hoheitsmacht gegenübertritt (vgl. Hölscheidt, Jura 2017, S. 148, 150 f.; a. A. Gärditz, DVBl 2017, S. 525, 526; Hecker, in: Dietrich/Eiffler, Recht der Nachrichtendienste, 2017, III § 2 Rn. 46…). Eine solche Beschränkung, die eine grundrechtliche Bindung der Auslandsaufklärung weitgehend ausschlösse, lässt sich insbesondere nicht daraus herleiten, dass Art. 1 Abs. 3 GG nicht auf die deutsche Staatsgewalt als solche verweist, sondern die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unterschiedene staatliche Funktionen benennt. Hierdurch wird die Grundrechtsbindung nicht beschränkt, sondern deutlich gemacht, dass der Grundrechtsschutz gegenüber allen der traditionellen Gewaltenteilungslehre bekannten Staatsgewalten gilt - insbesondere auch gegenüber dem Gesetzgeber, was damals nicht selbstverständlich war (vgl. Denninger, in: AK-GG, 2. Aufl. 1989, Art. 1 Abs. 2, 3 Rn. 17). Dem GG lag von Anfang an ein Wille zur lückenlosen Grundrechtsbindung aller Zweige der staatlichen Gewalt (vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 12 [Oktober 2019]) zugrunde…
2. [100,102] Der Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt im Ausland steht auch nicht entgegen, dass eine Abgrenzung zu anderen Staaten und Rechtsordnungen oder eine Abstimmung mit diesen erforderlich wäre… Die Bindung an die deutschen Grundrechte begründet nur eine Verantwortlichkeit und Verantwortung deutscher Staatsorgane. Sie flankiert allein autonome politische Entscheidungen der Bundesrepublik Deutschland und begrenzt ausschließlich eigene Handlungsspielräume. Entsprechend wirken die Grundrechte als Abwehrrechte auch im Ausland nur gegenüber der deutschen Staatsgewalt und laufen damit parallel zu den durch das völkerrechtliche Interventionsverbot begründeten Beschränkungen. In der Grundrechtsbindung liegt damit weder ein Verstoß gegen das völkerrechtliche Interventionsverbot, noch beschränkt sie die Handlungs- oder Rechtsetzungsmacht anderer Staaten…
3. [104] Die Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte schließt nicht aus, dass sich die aus den Grundrechten konkret folgenden Schutzwirkungen danach unterscheiden können, unter welchen Umständen sie zur Anwendung kommen. Das gilt - wie schon für die verschiedenen Wirkungsdimensionen der Grundrechte im Inland - auch für die Reichweite ihrer Schutzwirkung im Ausland. So mögen schon hinsichtlich des persönlichen und sachlichen Schutzbereichs einzelne Gewährleistungen im Inland und Ausland in unterschiedlichem Umfang Geltung beanspruchen. Ebenso kann zwischen verschiedenen Grundrechtsdimensionen, etwa der Wirkung der Grundrechte als Abwehrrechte, als Leistungsrechte, als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen oder als Grundlage von Schutzpflichten zu unterscheiden sein… Dabei kann auch den besonderen Bedingungen im Ausland Rechnung zu tragen sein (…). Bei Art. 10 GG und Art. 5 I 2 GG ist kein Grund ersichtlich, das Fernmeldegeheimnis und die freie Tätigkeit für die Presse im Ausland anders zu schützen als im Inland.
Das Ergebnis zu I. lautet, BVerfG [87] Die Grundrechte des Grundgesetzes binden den Bundesnachrichtendienst und den seine Befugnisse regelnden Gesetzgeber unabhängig davon, ob der Dienst im Inland oder im Ausland tätig ist. Der Schutz der Art. 10 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gilt auch gegenüber einer Telekommunikationsüberwachung von Ausländern im Ausland. Praktisch bedeutet das: Spionage-Aktivitäten eines deutschen Geheimdienstes im Ausland müssen die Grundrechte betroffener Menschen achten; also kann sich der Amerikaner J in Mexiko gegenüber dem deutschen Gesetzgeber und dem BND auf Art. 10 GG berufen. Zustimmend Schmahl NJW 2020, 2224 mit dem Zusatz, dass es „fast schon verwunderlich ist, dass diese kompetenzbeschränkende Funktion 71 Jahre nach Inkrafttreten des GG noch verfassungsrechtlich klargestellt werden muss.“ Zur dahingehenden h. M. vor dem Urteil des BVerfG Gärditz JZ 2020, 826 Fn. 11. – Auch in anderen Zusammenhängen kann die Grundrechtsbindung im Ausland bedeutsam sein, etwa bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
II. § 6 I BNDG könnte gegen das Grundrecht des J aus Art. 10 I GG verstoßen. J ist grundrechtsberechtigt, weil das Grundrecht jedermann zusteht.
1. § 6 I BNDG müsste einen Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts enthalten.
a) Der Schutzbereich des Art. 10 I GG umfasst - neben dem Brief- und Postgeheimnis - das Fernmeldegeheimnis und die Kommunikation über das Internet. Geschützt sind also die Informationen und Daten, die J über die entsprechenden Netze sendet und empfängt. BVerfG [111] Die angegriffene Vorschrift…ermächtigt zur Erhebung personenbezogener Daten im Wege der heimlichen Telekommunikationsüberwachung und betrifft damit den Gewährleistungsgehalt des durch Art. 10 Abs. 1 GG geschützten Telekommunikationsgeheimnisses. (Der normalerweise in Art. 2 I GG angesiedelte Datenschutz tritt hinter die speziellere Regelung des Art. 10 GG zurück.)
b) Zum Eingriff BVerfG [114,115] § 6 Abs. 1 BNDG berechtigt den BND zur Erfassung individueller Telekommunikationsverkehre aus durch Anordnung näher bestimmten Netzen; eröffnet werden damit insbesondere das Abfangen von Satellitensignalen und die Erfassung leitungsgebundener Datenströme, und zwar sowohl mittels eigener Vorrichtungen als auch einer nach § 8 BNDG angeordneten Ausleitung… Gegenüber dem Bf. J als einem im Ausland lebenden ausländischen Staatsangehörigen liegt in einer solchen Erfassung ein Eingriff. Es handelt sich bei einer solchen Erfassung personenbezogener Daten um eine Datenerhebung. Sie macht die Daten des Betroffenen dem BND gezielt zugänglich, damit dieser sie nach inhaltlichen Kriterien auswerten kann - sei es auf der Grundlage von Suchbegriffen zur Erfassung von Inhaltsdaten, sei es zur Auswertung von (möglicherweise bevorratend akkumulierten) Verkehrsdaten oder sei es zur Übermittlung an ausländische öffentliche Stellen im Rahmen einer Kooperation.
2. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein. Nach Art. 10 II 1 GG dürfen Beschränkungen auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden; dann ist auch der Erlass eines solchen Gesetzes zulässig. Art. 10 I GG steht also unter Gesetzesvorbehalt. Das den Gesetzesvorbehalt ausfüllende Gesetz - im vorliegenden Fall § 6 I BNDG - muss formell und materiell verfassungsmäßig sein. Zunächst ist die formelle Verfassungsmäßigkeit des § 6 I BNDG zu prüfen.
a) Dem Bundesgesetzgeber müsste die Gesetzgebungskompetenz zum Erlass des BNDG zustehen. Nach Art. 73 I Nr. 1 GG hat der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über „die auswärtigen Angelegenheiten sowie die Verteidigung…“. BVerfG [124,129] Die Einrichtung einer Stelle zur umfassenden Auslandsaufklärung fällt unstreitig unter die auswärtigen Angelegenheiten im Sinne von Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG (vgl. BVerfGE 100, 313, 369). Dazu zählt auch die Ausstattung mit aufgabenadäquaten Befugnissen… Die angegriffenen Vorschriften lassen sich danach auf die Gesetzgebungskompetenz des Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG stützen… Zwar eröffnet § 6 Abs. 1 Nr. 1 BNDG den Einsatz der strategischen Überwachung nicht nur, um Gefahren für die äußere, sondern auch um Gefahren für die innere Sicherheit zu erkennen. Eingebunden ist dies jedoch in die alle Tatbestände übergreifende Beschränkung des § 6 BNDG auf die Aufgaben des Bundesnachrichtendienstes (§ 1 II BNDG)…
b) Eine formelle Anforderung an grundrechtsbeschränkende Gesetze ist das Zitiergebot des Art. 19 I 2 GG. Danach muss bei Grundrechtseinschränkungen „das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.“ BVerfG [134,135] Das BNDG nennt Art. 10 Abs. 1 GG in Bezug auf Eingriffe nach § 3 BNDG (vgl. dort Abs. 3), nicht aber für die Eingriffe nach der hier in Streit stehenden Vorschrift des § 6 BNDG. Der Verzicht auf die Beachtung des Zitiergebots lässt sich nicht damit begründen, dass die angegriffene Vorschrift eine lange bestehende Verwaltungspraxis aufgreift und nunmehr erstmals gesetzlich regelt. Hierfür lässt sich insbesondere nicht darauf verweisen, dass das Zitiergebot dann nicht greift, wenn das Gesetz geltende Grundrechtsbeschränkungen durch das bisherige Recht unverändert oder mit geringen Abweichungen wiederholt (vgl. dazu BVerfGE 35, 185, 188 f.). Denn eine gesetzlose Verwaltungspraxis ist weder geltendes Recht noch geltende Grundrechtsbeschränkung und beruht - anders als Parlamentsgesetze, die das Zitiergebot beachten - nicht auf bereits getroffenen Wertungen des parlamentarischen Gesetzgebers… Das Zitiergebot ist vielmehr gerade dann verletzt, wenn der Gesetzgeber ausgehend von einer bestimmten Auslegung des Schutzbereichs - wie hier der Annahme fehlender Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt bei im Ausland auf Ausländer wirkendem Handeln - die Grundrechte als nicht betroffen erachtet. Denn dann fehlt es am Bewusstsein des Gesetzgebers, zu Grundrechtseingriffen zu ermächtigen, und an dessen Willen, sich über deren Auswirkungen Rechenschaft abzulegen, was Sinn des Zitiergebots ist (vgl. BVerfGE 85, 386, 404; 129, 208, 236 f.). Folglich ist die angegriffene Vorschrift in formeller Hinsicht verfassungswidrig, weil sie gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG verstößt (vgl. Hölscheidt, Jura 2017, S. 148, 155; Marxsen, DÖV 2018, S. 218, 225; Dietrich, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 6 BNDG Rn. 11).
3. § 6 I BNDG könnte auch materiell verfassungswidrig sein.
a) Nach Auffassung des J enthält § 6 BNDG einen Verstoß gegen Völkerrecht, weil die Vorschrift mit der Gestattung der Überwachung ausländischer Bürger im Ausland die Ausübung deutsche Staatsgewalt auf einen fremden Staat erstreckt. Richtig ist, dass ein Staat seine Staatsgewalt nicht ohne Genehmigung auf fremdes Staatsgebiet erstrecken darf (Interventionsverbot; vgl. Schmahl NJW 2020, 2223 Rdnr. 14). Jedoch bedeutet zumindest das Abfangen von Satellitensignalen keinen Zugriff auf fremdes Staatsgebiet. Um Gespräche des J abzuhören, betritt der BND weder US-amerikanisches noch mexikanisches Staatsgebiet. Dass Geheimdienste den Funkverkehr abhören ist durchweg üblich und wird vom Völkerrecht nicht verboten. (Vgl. BVerfG unten c, wonach die strategische Auslandsaufklärung im Grundsatz zulässig ist.)
b) Ein Prinzip, das zur formellen Seite gerechnet werden kann, besser aber - und auch vom BVerfG - zur materiellen Seite, ist das rechtsstaatlich bedingte Bestimmtheitsgebot. BVerfG [137-140] Eingriffe in Art. 10 Abs. 1 GG müssen – wie Eingriffe in alle Grundrechte – auf einer gesetzlichen Ermächtigung beruhen, die dem Gebot der Normenklarheit und dem Bestimmtheitsgrundsatz genügt (vgl. BVerfGE 65, 1, 44; 54; 100, 313, 359 f.; st. Rspr). Dabei sind an die Normenklarheit und Bestimmtheit von Ermächtigungen zur heimlichen Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten in der Regel gesteigerte Anforderungen zu stellen, weil die Datenverarbeitung von den Betroffenen unbemerkt stattfindet und sich die Befugnisse somit nicht im Wechselspiel von behördlicher Einzelanordnung und gerichtlicher Kontrolle schrittweise konkretisieren können (…). Für Nachrichtendienste gilt hiervon keine Ausnahme. Zwar bedarf ihre Aufgabenwahrnehmung in weitem Umfang der Geheimhaltung. Das Erfordernis einer normenklaren und hinreichend bestimmten Fassung der gesetzlichen Befugnisse stellt aber die Möglichkeit, sie in der Sache geheim handzuhaben, nicht in Frage. Da die Befugnisse nur abstrakt rechtliche Möglichkeiten schaffen, sagen sie nichts darüber aus, ob, wie, mit welcher Reichweite und welchem Erfolg von ihnen Gebrauch gemacht wird.
In § 6 I Nr. 1 BNDG wird die weitere Behandlung erhobener Informationen mit „verarbeiten“ umschrieben. Wesentlich dafür ist das Speichern und Auswerten. Welche Befugnisse dem BND aber darüber hinaus eingeräumt werden, wird nicht geregelt und bleibt unbestimmt. Nach BVerfG [307] enthält das Gesetz keine hinreichenden Regelungen zur Auswertung der durch das Mittel der strategischen Auslandsaufklärung gewonnenen Daten. Bei [311] wird beanstandet, dass die Möglichkeit der Übermittlung von Daten an andere Stellen nicht hinreichend bestimmt eingegrenzt wird. § 6 BNDG verstößt somit gegen das Bestimmtheitsgebot.
c) BVerfG [141] Als Ermächtigung zu Eingriffen in das Telekommunikationsgeheimnis ist die angegriffene Vorschrift nur zu rechtfertigen, wenn sie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt. Sie muss einen legitimen Zweck verfolgen und zur Erreichung des Zwecks geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne (angemessen) sein (vgl. BVerfGE 67, 157, 173; 141, 220, 265 Rn.93; st. Rspr). Das BVerfG nimmt eine zweigeteilte Prüfung vor und behandelt zunächst die Frage, ob die Datenerhebung und Datenverarbeitung in Form der anlasslosen, strategischen Telekommunikationsüberwachung im Grundsatz mit Art. 10 I GG vereinbar ist.
Dazu [144-166] Die strategische Telekommunikationsüberwachung soll Erkenntnisse über das Ausland verschaffen, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik sind. Sie soll damit dazu beitragen, frühzeitig Gefahren zu erkennen, die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik zu wahren und die Bundesregierung in außen- und sicherheitspolitischen Fragen mit Informationen zu versorgen. Hierin liegt ein legitimes Ziel. Die strategische Telekommunikationsüberwachung ist hierfür auch ein geeignetes Mittel, denn sie ermöglicht, an solche Informationen zu gelangen… Gleichfalls genügt die strategische Überwachung den Anforderungen der Erforderlichkeit. Ohne die breit angelegte anlasslose Erfassung von Datenströmen und deren Auswertung könnten entsprechende Informationen nicht gewonnen werden. Ein weniger eingriffsintensives Mittel, das generell vergleichbare Informationen sicherstellt, ist nicht ersichtlich. Sie kann vom Grundsatz her auch im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gerechtfertigt werden. Zwar handelt es sich bei der strategischen Telekommunikationsüberwachung um ein Instrument von besonders schwerem Eingriffsgewicht. Schwer wiegen die mit ihr eröffneten Eingriffe schon deshalb, weil mit ihnen heimlich in persönliche Kommunikationsbeziehungen eingedrungen wird, die oftmals privaten und unter Umständen auch höchstvertraulichen Charakter haben… Zu berücksichtigen ist aber auch das überragende öffentliche Interesse an einer wirksamen Auslandsaufklärung… Die Versorgung der Bundesregierung mit Informationen für ihre außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen hilft ihr, sich im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen zu behaupten, und kann folgenreiche Fehlentscheidungen verhindern. Insoweit geht es mittelbar zugleich um die Bewahrung demokratischer Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung und damit um Verfassungsgüter von hohem Rang. Die strategische Auslandsaufklärung ist daher im Grundsatz verhältnismäßig und mit Art. 10 I GG vereinbar.
d) Die Feststellung der grundsätzlichen Vereinbarkeit der Auslandsaufklärung mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit reicht nicht aus, um die Verhältnismäßigkeit des § 6 I BNDG (und anderer Vorschriften des BNDG) abschließend zu beurteilen. Auch der Verweis auf die Verhältnismäßigkeit in § 2 IV BNDG ist nicht ausreichend (Huber NVwZ-Beilage 1/2020, 4). Es ist bereits unmöglich, bei jeder Abhörmaßnahme die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Vielmehr muss der Gesetzgeber weitere Anforderungen stellen, damit unverhältnismäßige, insbesondere unangemessene Abhöraktionen unterbleiben. BVerfG [167,168] Die Ausgestaltung der Datenerhebung und -verarbeitung in Form der strategischen Überwachung unterliegt danach näheren Anforderungen, die dem besonderen Gewicht der Grundrechtseingriffe und ihrer spezifischen Rechtfertigung durch das besondere Aufgabenprofil der Auslandsaufklärung Rechnung zu tragen haben. Ein übergreifendes Ziel der sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden Anforderungen liegt darin, die strategische Telekommunikationsüberwachung trotz ihrer Streubreite als hinreichend fokussiertes Instrument auszugestalten und damit begrenzt zu halten. Denn eine globale und pauschale Überwachung lässt das Grundgesetz auch zu Zwecken der Auslandsaufklärung nicht zu (vgl. BVerfGE 100, 313, 376).
aa) BVerfG [175,176] Der Gesetzgeber hat die Zwecke hinreichend präzise und normenklar festzulegen, zu denen die Telekommunikation überwacht und die dabei erlangten Erkenntnisse verwendet werden dürfen (vgl. BVerfGE 100, 313, 372). Als besonders eingriffsintensives Aufklärungsinstrument bedarf es insoweit einer substantiellen Beschränkung auf hinreichend begrenzte und differenzierte Zwecke. In Betracht kommen Zwecke, die…auf den Schutz hochrangiger Gemeinschaftsgüter gerichtet sind, deren Verletzung schwere Schäden für den äußeren und inneren Frieden oder die Rechtsgüter Einzelner zur Folge hätte (vgl. BVerfGE 100, 313, 373). Auch die Weiterleitung von Daten ist nach BVerfG [221] nur zum Schutz von Rechtsgütern zulässig, die besonders gewichtig sind (…).
[305] Demgegenüber ist die Überwachung nach § 6 BNDG nicht auf differenziert gefasste, gewichtige Zwecke begrenzt. Die in § 6 Abs. 1 BNDG genannten weit und offen formulierten Zwecke…verfehlen diese Anforderung deutlich. Insbesondere der Bezug in Nr. 1 auf „Gefahren für die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ verwendet lediglich Begriffe aus dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht und lässt keine Beschränkung auf hochrangige Gemeinschaftsgüter erkennen. Folge ist, dass dadurch auch unverhältnismäßige Überwachungsmaßnahmen zugelassen werden, was zu einer Verletzung des Art. 10 GG führt.
bb) [187,188] Was die zu überwachenden Personen betrifft, hat der Gesetzgeber die möglichen Gründe und Gesichtspunkte, unter denen strategische Überwachungsmaßnahmen gezielt auf bestimmte Personen gerichtet werden dürfen, festzulegen. So kann er etwa die Überwachung von Personen vorsehen, die als mögliche Verursacher von Gefahren, als Nachrichtenmittler oder als sonst näher qualifizierte Informanten in Betracht kommen… Gegenüber ihnen hat die Überwachung eine besondere Intensität und besteht eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit von belastenden Folgen… Soweit Überwachungsmaßnahmen gegen bestimmte Personen gerichtet sind, bedarf es für deren Festlegung einer gerichtsähnlichen ex ante-Kontrolle. Diese hat zu prüfen, ob die gezielt personenbezogene Überwachung zur Verfolgung des Überwachungszwecks den Verhältnismäßigkeitsanforderungen genügt. Derartige Regelungen fehlen im BNDG und führen dazu, dass die gestattete Überwachung teilweise unangemessen ist.
cc) [193,194] Besondere Anforderungen sind an den Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen – wie insbesondere zwischen Journalisten und ihren Informanten oder Rechtsanwälten und ihren Mandanten – zu stellen. Dieser Schutz folgt schon aus Art. 10 Abs. 1 GG und den sich hieraus ableitenden Verhältnismäßigkeitsanforderungen… Gegenüber Berufs- und Personengruppen, deren Kommunikationsbeziehungen einen besonderen Schutz der Vertraulichkeit verlangen, ist zunächst deren gezielte Überwachung zu begrenzen… Es ist sicherzustellen, dass das Eindringen in Vertraulichkeitsbeziehungen nur zur Aufklärung von im Einzelfall schwerwiegenden Gefahren und besonders schweren Straftaten beziehungsweise zur Ergreifung bestimmter gefährlicher Straftäter zulässig ist. [204-207] Absolut auszuschließen ist auch, den Kernbereich privater Lebensgestaltung zum Ziel staatlicher Ermittlungen zu machen… Das gilt auch für die strategische Überwachung. Auf der Ebene der Datenauswertung ist gesetzlich sicherzustellen, dass die Auswertung unverzüglich unterbrochen werden muss, wenn erkennbar wird, dass eine Überwachung in den Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung eindringt… Da das BNDG weder Vorschriften zum Schutz besonderer Vertraulichkeitsbeziehungen noch zum Schutze des Kernbereichs privater Lebensgestaltung enthält, sind die in § 6 BNDG eingeräumten Überwachungsbefugnisse auch aus diesem Grunde unverhältnismäßig (BVerfG [306]).
Ergebnis zu II: § 6 BNDG verletzt wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot des Art. 19 I 2 GG, wegen fehlender Bestimmtheit und wegen mehrfacher Verstöße gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip das Grundrecht des J aus Art. 10 I GG.
III. § 6 BNDG verletzt auch das Grundrecht der Pressefreiheit (Art. 5 I 2 GG).
1. § 6 BNDG enthält einen Eingriff in den Schutzbereich der Pressefreiheit. BVerfG [111] Die Vorschrift ermächtigt den BND auch gegenüber dem als Journalisten tätigen J zur Erhebung, Verarbeitung und Übermittlung von Daten aus Telekommunikation im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit einschließlich der gezielten Überwachung und Auswertung seiner in diesem Zusammenhang geführten Kommunikation etwa mit Informanten.
2. Der Eingriff ist nicht gerechtfertigt, weil § 6 BNDG kein verfassungsmäßiges allgemeines Gesetz i. S. des Art. 5 II GG ist. Denn auch insoweit fehlt es an einer Beachtung des Art. 19 I 2 GG, ist die Vorschrift nicht hinreichend bestimmt und ist wegen fehlender Begrenzung und fehlender Schutzvorschriften unverhältnismäßig. BVerfG [325] Die Vorschrift ist auch insoweit, als sie zu Überwachungsmaßnahmen gegenüber Journalisten ermächtigt und damit Eingriffe in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG begründet, mit der Verfassung unvereinbar, da sie den spezifischen Schutzbedürfnissen unabhängiger ausländischer Journalisten nicht angemessen Rechnung trägt (….).
IV. Rechtsfolge der Verletzung der Art. 10 I, 5 I 2 GG durch § 6 I BNDG ist zunächst, dass die VfB zulässig und begründet und ihr stattzugeben ist. Als weitere Rechtsfolge bei einer Rechtssatz-VfB bestimmt § 95 III BVerfGG, dass die angegriffene Rechtsnorm für nichtig zu erklären ist. Allerdings würde das im vorliegenden Fall bedeuten, dass es für den BND über längere Zeit keine Rechtsgrundlage bzw. keine Begrenzung für seine Tätigkeit gäbe. Da das unvertretbar wäre, beschränkt sich das Urteil des BVerfG auf eine Unvereinbarkeitserklärung.
BVerfG [329] Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit gesetzlicher Vorschriften führt grundsätzlich zu ihrer Nichtigkeit. Allerdings kann sich das BVerfG, wie sich aus § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG ergibt, auch darauf beschränken, eine verfassungswidrige Norm nur für mit dem Grundgesetz unvereinbar zu erklären (vgl. BVerfGE 109, 190, 235). Es verbleibt dann bei einer bloßen Beanstandung der Verfassungswidrigkeit ohne den Ausspruch der Nichtigkeit… Angesichts der großen Bedeutung, die der Gesetzgeber der Auslandsaufklärung beimessen darf, ist eine vorübergehende Fortgeltung der verfassungswidrigen Vorschrift eher hinzunehmen als deren Beseitigung. Da die weitere Tätigkeit des BND nur durch eine vorläufige Fortgeltung des § 6 BND gesichert werden kann, ist diese befristet anzuordnen.
Aus dem Urteilstenor des BVerfG: § 6 (und andere Vorschriften) des Gesetzes über den Bundesnachrichtendienst… sind mit Artikel 10 Absatz 1 des Grundgesetzes sowie mit Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes nicht vereinbar… Bis zu einer Neuregelung, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2021, gelten die für mit dem GG unvereinbar erklärten Vorschriften fort.
Zusammenfassung