Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Kommunal-Verfassungsbeschwerde, § 91 BVerfGG, Zulässigkeit und Begründetheit Kommunale Selbstverwaltung, Art. 28 II GG; Schutz der Kommunen vor Aufgabenzuweisung ohne finanziellen Ausgleich; Konnexitätsgebot. Durchgriffsverbot nach Art. 84 I 7 GG; Anwendung auf Aufgabenerweiterungen; Bedeutung der Übergangsvorschrift des Art. 125a GG

BVerfG
Beschluss vom 7.7.2020 (2 BvR 696/12) NJW 2020, 3232

Fall (Kommunales Bildungspaket)

Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch (SGB XII) erhält, wer seinen Lebensunterhalt nicht durch Arbeit oder ein anderes Einkommen sichern kann (§ 2 I SGB XII). Träger der Sozialhilfe sind nach § 3 II SGB XII die kreisfreien Städte und die Kreise (Kommunen); sie nehmen die Verwaltungsaufgaben wahr und tragen die Kosten. Grundlage für die Leistungen der Sozialhilfe sind Regelsätze zur Deckung des Regelbedarfs und Fälle eines besonderen Bedarfs (§ 27a SGB XII). Nach der früheren Fassung des SGB XII erhielten sozialhilfeberechtigte Schülerinnen und Schüler die Kosten für mehrtägige Klassenfahrten und für einen persönlichen Schulbedarf in einer begrenzten Höhe erstattet; andere Kosten für Schule und Bildung sollten mit dem Regelsatz abgegolten sein. Die genannten Vorschriften, insbesondere § 3 II SGB XII, sind Bundesrecht und wurden verfassungsmäßig erlassen.

Aus Anlass der Föderalismusreform wurden Vorschriften des Grundgesetzes über die Ausführung der Bundesgesetze und die Verwaltung (Art. 83 - 91 GG) geändert. Zu den Änderungen gehört eine Vorschrift, nach der durch Bundesgesetz den Gemeinden und Gemeindeverbänden keine Aufgaben (mehr) übertragen werden dürfen. In einer Übergangsvorschrift wurde bestimmt, dass Bundesrecht, das wegen der Änderungen nicht mehr als Bundesrecht erlassen werden könnte, als Bundesrecht fortgilt; es kann durch Landesrecht ersetzt werden.

Unter der Geltung der geänderten GG-Vorschriften fügte der Bundesgesetzgeber in das SGB XII die §§ 34 und 34a ein, um Jugendliche aus sozial schwachen Haushalten finanziell besser zu stellen. §§ 34, 34a SGB XII enthalten neue Leistungstatbestände (z. B. Ersatz der Kosten für Schulausflüge, für Schülerbeförderung, Lernförderung, Mittagsverpflegung; ein Pauschalbetrag für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben); der Kreis der Berechtigten wurde ausgedehnt; den Sozialämtern wurden entsprechende Prüfungspflichten auferlegt. Die Kostentragung für mehrtägige Klassenfahrten und für einen persönlichen Schulbedarf wurde in §§ 34, 34a SGB XII übernommen und ihre Höhe der Kostenentwicklung angepasst.

Stadt S ist Trägerin der Sozialhilfe und wendet sich - wie auch andere Sozialhilfeträger - gegen §§ 34, 34a SGB XII. Sie betrachtet diese Vorschriften als verfassungswidrigen Eingriff in ihre Rechte. Seit der Föderalismusreform sei der Bund nicht mehr befugt, ihr Aufgaben zuzuweisen. §§ 34, 34a SGB XII führten zu einer weiteren Erhöhung der ohnehin hohen Sozialausgaben, ohne dass dafür ein Ausgleich vorgesehen sei. S beabsichtigt eine - form- und fristgerecht zu erhebende - Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Die Bundesregierung hält die Änderungen des SGB XII für verfassungsmäßig. Die Stadt S sei Träger der Sozialhilfe, so dass ihr keine zusätzliche Aufgabe zugewiesen werde. Eine Verbesserung der finanziellen Situation von Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien entspreche dem Sozialstaatsprinzip und sei im Verhältnis zu den ohnehin zu erbringenden Sozialleistungen vom Volumen her eher geringfügig. Die angegriffenen Vorschriften seien außerdem durch die Übergangsvorschrift gedeckt. Hat die Verfassungsbeschwerde der Stadt S Aussicht auf Erfolg?

Lösung

Vorbemerkung: Der Beschluss des BVerfG wird besprochen von Groth NJW 2020, 3242; DVBl 2020, 1480; vgl. auch Rixen NVwZ 2020, 1351. – Im Originalfall hatten mehrere Städte und Kreise Verfassungsbeschwerde erhoben. Soweit das BVerfG deshalb von „Beschwerdeführerinnen“ spricht, wurde dies durch die Bezeichnung der Stadt S als „Bf.“ ersetzt.

A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (VfB)

I. Nach Art. 93 I Nr. 4 a und b GG, §§ 90, 91 BVerfGG gibt es zwei Arten von Verfassungsbeschwerden.

1. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 BVerfGG behandeln den Normalfall der VfB (Individual-VfB), mit der eine Grundrechtsverletzung geltend gemacht wird. Öffentlich-rechtliche Körperschaften, insbesondere Gemeinden wie S haben grundsätzlich keine Grundrechte und sind deshalb nicht zur Erhebung einer VfB nach § 90 BVerfGG befugt ( BVerfGE 61, 82, 100 ff.; BVerwGE 90, 101 und 97, 143, 151). Außerdem ist kein Grundrecht der S ersichtlich, das verletzt sein könnte. Die Garantie der Selbstverwaltung durch Art. 28 II GG ist kein Grundrecht.

2. Die von S beabsichtigte VfB ist eine KommunalVfB gemäß Art. 93 I Nr. 4b GG; § 91 BVerfGG. Nach § 91, 1 BVerfGG können Gemeinden und Gemeindeverbände eine VfB mit der Behauptung erheben, dass ein Gesetz des Bundes oder des Landes die Vorschrift des Art. 28 GG verletzt.

II. Nach § 91, 1 BVerfGG sind Zulässigkeitsvoraussetzungen die Beschwerdeberechtigung, ein bestimmter Beschwerdegegenstand und die Beschwerdebefugnis.

1. Die Stadt S ist eine Gemeinde und somit beschwerdeberechtigt.

2. Eine KommunalVfB muss sich gegen ein Gesetz als Beschwerdegegenstand richten. §§ 34, 34a SGB XII sind ein formelles Bundesgesetz.

3. Die Beschwerdebefugnis steht S zu, wenn sie eine Verletzung des Art. 28 GG behauptet. Nach Art. 28 II GG ist den Gemeinden das Recht gewährleistet, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Inhalt dieser Selbstverwaltungsgarantie und ihre Verletzung sind im Rahmen der Begründetheit zu behandeln. Für die Zulässigkeit ist eine dahingehende Behauptung ausreichend.

a) S betrachtet §§ 34, 34a SGB XII als Eingriff in ihre Rechte, weil der Bund nicht mehr befugt sei, ihr Aufgaben zuzuweisen, zumal wenn sie dadurch finanziell belastet wird.

b) Nach diesem Vortrag ist möglich, dass ihre zur Selbstverwaltungsgarantie gehörende Finanzhoheit verletzt wird. Auch die Organisationshoheit kann unzulässig eingeschränkt sein. Folglich liegt darin die Behauptung einer Verletzung des Art. 28 II GG, so dass S die Beschwerdebefugnis zusteht.

III. § 91 BVerfGG regelt die KommunalVfB nur punktuell; im Übrigen gelten die Voraussetzungen für die Individual-VfB. Die VfB der S richtet sich gegen §§ 34, 34a SGB XII, also gegen ein Gesetz, so dass die Beschwerdeführerin von dem Gesetz selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein muss. S ist Sozialhilfeträger und deshalb von der Änderung des SGB XII selbst und gegenwärtig betroffen. Zur unmittelbaren Betroffenheit BVerfG [41] Das - grundsätzlich auch im Rahmen der Kommunalverfassungsbeschwerde beachtliche (vgl. BVerfGE 59, 216, 225;… 147, 185, 209 Rn. 43) - Erfordernis, durch die angegriffene Regelung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen zu sein, ist erfüllt. Als örtlicher Träger der Sozialhilfe gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 SGB XII muss die Bf. die in §§ 34 und 34a SGB XII geregelten Leistungen für Bildung und Teilhabe erbringen und die dort niedergelegten Verfahrensanforderungen erfüllen. Eines weiteren Ausführungsakts bedarf es nicht.

IV. Nach § 91, 2 BVerfGG ist die KommunalVfB zum BVerfG subsidiär gegenüber einer VfB zum Landesverfassungsgericht. BVerfG [42] Als Ausdruck der den Ländern zukommenden Verfassungsautonomie (vgl. BVerfGE 147, 185, 209 Rn. 45) ist eine Kommunalverfassungsbeschwerde zum BVerfG nur zulässig, wenn die betroffene Kommune daneben keine Beschwerde zum Landesverfassungsgericht erheben kann. Eine solche Beschwerde ist aber ausgeschlossen, wenn eine Verletzung von Art. 28 Abs. 2 GG durch Bundesrecht im Raum steht, weil dieses von vornherein nicht am Maßstab des Landesverfassungsrechts gemessen werden kann (vgl. für Bayern Möstl, in: Lindner/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Vorb. B Rn. 5; für NRW Menzel, in: Löwer/Tettinger, Verfassung des Landes NRW, Einführung Rn. 17). Da somit eine VfB zum Landesverfassungsgericht gegenüber §§ 34, 34a SGB als Bundesrecht nicht zulässig ist, scheitert die VfB zum BVerfG nicht an § 91, 2 BVerfGG.

V. Bei einer VfB gegen ein Gesetz braucht ein Rechtsweg (§ 90 II BVerfGG) nicht ausgeschöpft zu werden, weil es einen solchen nicht gibt (vgl. § 93 III BVerfGG).

VI. S kann die VfB form- und fristgerecht erheben. Sie ist somit zulässig.

B. Begründetheit der VfB

Die KommunalVfB ist begründet, wenn durch §§ 34, 34a SGB XIII das Selbstverwaltungsrecht der S aus Art. 28 II 1 GG verletzt wird.

I. Erforderlich ist ein Eingriff in den von Art. 28 II GG geschützten Bereich. Dieser kann - wie bei einem Grundrecht - als Schutzbereich bezeichnet werden. Da Art. 28 II GG aber kein Grundrecht ist, ist die Bezeichnung als Gewährleistungsbereich vorzuziehen (BVerfG [30]). Es sind also der Gewährleistungsbereich der Selbstverwaltungsgarantie und die von diesem abzuwehrenden Eingriffe zu bestimmen.

1. Nach dem Wortlaut des Art. 28 II GG muss eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft vorliegen.

a) Eine allgemeine Umschreibung versteht darunter „ diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder zu ihr einen spezifischen Bezug haben“ (BVerwG DVBl 2009, 1382).

b) BVerfG [30] Diese Gewährleistung schützt die Kommunen grundsätzlich vor einer Entziehung von Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft (vgl. BVerfGE 79, 127, 154;…147, 185, 224 Rn. 81), kann aber auch durch eine Zuweisung neuer, materiell staatlicher Aufgaben beeinträchtigt werden (vgl. BVerfGE 119, 331, 354;…147, 185, 220 Rn. 68, 227 f. Rn. 89). Ebenso [49] Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die Gemeinden vor einer ungerechtfertigten Entziehung ihrer Selbstverwaltungsaufgaben…und unterwirft die Auferlegung neuer Aufgaben einem Rechtfertigungserfordernis. [58] Denn da die Finanzmittel der Kommunen begrenzt sind, ist die Zuweisung einer neuen Aufgabe an die Kommunen geeignet, die Übernahme, die Beibehaltung und den Ausbau bestehender freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben zu erschweren oder gar zu verhindern (vgl. Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Abs. 2 Rn. 100; Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 28 Rn. 231).

c) Eine unzulässige Auferlegung einer Aufgabe wäre bereits dann anzunehmen, wenn der Bund zur Auferlegung der in §§ 34, 34a SGB XII vorgesehenen Leistungen nach den allgemeinen Vorschriften über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen (Art. 70 ff. GG) nicht zuständig wäre. Das ist jedoch nicht der Fall, vielmehr ist der Bund über die Zuständigkeit zur Regelung der „öffentlichen Fürsorge“ in Art. 74 I Nr. 7 GG zur Regelung des Sozialhilferechts zuständig. BVerfG [88] Durch den Erlass des SGB XII hat der Bundesgesetzgeber von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG Gebrauch gemacht (…). Die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG lagen vor. Durch eine einheitliche Bundesgesetzgebung im Bereich öffentlicher Fürsorge wird verhindert, dass sich das Sozialgefüge in Deutschland auseinanderentwickelt.

Dass die Kommunen durch die neuen Vorschriften finanziell belastet werden, führt nicht zu ihrer Unzulässigkeit. BVerfG [63] Vielmehr kann der Bund im Rahmen seiner Gesetzgebungsbefugnisse nach Art. 70 ff. GG Regelungen treffen, auch wenn damit Mehrbelastungen für die Kommunen verbunden sind. Zwar ist in den Bundesländern durch die Landesverfassungen bestimmt, dass bei Mehrbelastungen der Kommunen ein finanzieller Ausgleich zu schaffen ist (Konnexitätsgebot, z. B. Art. 78 III LaVerf NRW; weitere Nachw. BVerfG [69]). Die landesrechtlichen Regelungen gelten aber nicht gegenüber Bundesrecht wie den §§ 34, 34a SGB XII (BVerfG [72]; Lorenzen DVBl 2020, 1481). Eine entsprechende Regelung im GG gibt es nicht. Die in §§ 34, 34a SGB XII getroffene materielle Regelung ist somit nicht zu beanstanden. Zu prüfen bleibt aber weiterhin, ob die Zuweisung gerade an die Gemeinden gegen Art. 28 II GG verstößt.

2. Für eine Konkretisierung der Selbstverwaltungsgarantie eignet sich die Aufgliederung in „Hoheiten“. Die Gemeinden haben Organisationshoheit, Finanzhoheit, Personalhoheit, Planungshoheit (BVerfG DVBl 2018, 35 Rdnr.88; im vorliegenden Fall [51]) sowie d ie Befugnis zum Erbringen von Leistungen für die ortsbezogene Daseinsvorsorge (BVerwGE 98, 273, 275).

Unter [52-57] behandelt das BVerfG die für den vorliegenden Fall bedeutsamen Bereiche.

a) Die Organisationshoheitgewährleistet den Gemeinden prinzipiell das Recht, die Wahrnehmung der eigenen Aufgaben, Abläufe und Entscheidungszuständigkeiten im Einzelnen festzulegen und damit über Gewichtung, Qualität und Inhalt der Entscheidungen zu befinden. Die Organisationshoheit verbietet somit staatliche Regelungen, die eine eigenständige organisatorische Gestaltungsfähigkeit ersticken würden, und eröffnet den Kommunen die Möglichkeit, für die Wahrnehmung einzelner Verwaltungsaufgaben aus mehreren vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellten Organisationsformen auszuwählen (vgl. BVerfGE 137, 108, 158 Rn. 117…).

b) Die Finanzhoheit umfasst das Recht zu einer eigenverantwortlichen Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft (vgl. BVerfGE 83, 363, 385 f.;…125, 141, 159). Der effektive Gewährleistungsbereich…ist in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt, wenn die Kommunen ihre eigenen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen und mangels finanziellen Spielraums Prioritätsentscheidungen bezüglich der Aufgabenwahrnehmung nicht mehr treffen können. (vgl. auch Art. 28 II 3 GG)

c) Die Personalhoheit umfasst die Befugnis, die Gemeindebeamten und sonstigen Beschäftigten auszuwählen, anzustellen, zu befördern und zu entlassen (vgl. BVerfGE 91, 228, 245).

3. Im vorliegenden Fall kommt als weitere und speziellere Konkretisierung Art. 84 I 7 GG in Betracht. Art. 84 I 1 GG bestimmt, dass die Länder die Bundesgesetze ausführen und die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln. Die in Art. 70 ff. GG geregelten Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes erstrecken sich also nicht auf die Bestimmung der zuständigen Behörden und das Verwaltungsverfahren (BVerfG [64]: es gilt ein „prinzipielles Auseinanderfallen von Sachgesetzgebungs- und Organisationskompetenz“). Von diesem Grundsatz können Bundesgesetze allerdings unter bestimmten, in Art. 84 I1 GG genannten Voraussetzungen abweichen. Nicht zulässig ist aber nach Art. 84 I 7 GG, dass Bundesgesetze Aufgaben auf Gemeinden oder Gemeindeverbände übertragen.

a) BVerfG [59] Art. 28 Abs. 2 GG wird durch das Durchgriffsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG näher ausgestaltet, das dem Bund grundsätzlich untersagt, Gemeinden und Gemeindeverbänden neue Aufgaben zu übertragen.[33] Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG dient dem Schutz der Organisationshoheit der Länder (vgl. BVerfGE 137, 108,165 Rn. 136), daneben vor allem der Stärkung und der Absicherung der kommunalen Finanzhoheit (…). Er konkretisiert und arrondiert den Garantiegehalt des Art. 28 Abs. 2 GG. Indem dem Bund eine Aufgabenzuweisung untersagt wird, werden auch Organisationshoheit und Personalhoheit der Kommunen gestärkt (zustimmend Lorenzen DVBl 2020, 1480).

b) Während die Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 II GG nur „im Rahmen der Gesetze“ besteht und deshalb durch Gesetz - unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit (BVerfG [50]) - eingeschränkt werden kann, gilt das für Art. 84 I 7 GG nicht. Diese Vorschrift steht nicht unter Gesetzesvorbehalt, enthält also einen strengeren Schutz als Art. 28 II GG.

II. Anknüpfend an die Ausführungen unter 3a) ist zu prüfen, ob die mit der KommunalVfB angegriffenen §§ 34, 34a SGB XII eine Verletzung des Art. 84 I 7 GG als Ausprägung der Selbstverwaltungsgarantie enthalten. Dann müssten durch §§ 34, 34a SGB XII den Gemeinden neue Aufgaben übertragen werden.

1. §§ 34, 34a SGB XII betreffen keine Aufgaben, die den Kommunen erstmals zugewiesen werden, sondern erweitern lediglich die sie als Sozialhilfeträger (§ 3 SGB XII) treffenden Leistungspflichten. Ob diese Erweiterung eine Aufgabenübertragung ist, hängt von der Auslegung des Art. 84 I 7 GG ab (zum Streitstand vor dem Beschluss des BVerfG Lorenzen DVBl 2020, 1481 Fn. 12-14).

a) BVerfG [60] Der Begriff der Aufgabe in Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG ist bereits nach seinem Wortlaut weit zu verstehen (…). Angelehnt an Art. 30 GG erfasst er alle sachlichen Bereiche des Verwaltungshandelns und gilt gleichermaßen für hoheitliche, schlicht-hoheitliche und privatrechtliche Tätigkeiten (vgl. Henneke, NdsVBl 2007, 57, 65 f.; Schoch, DVBl 2007, 261, 263, 266)… Ein wesentlicher Zweck des Art. 84 I 7 GG besteht darin, die Auferlegung neuer Aufgaben ohne finanziellen Ausgleich, zu der Bund bis zum Erlass dieser Vorschrift berechtigt war (oben B I 1c), zu verhindern. Denn dürfen nur die Länder den Kommunen Aufgaben zuweisen, greift zugunsten der Kommunen das landesverfassungsrechtliche Konnexitätsgebot ein (oben B I 1c) und sichert ihnen einen finanziellen Ausgleich. BVerfG [74] Eine Zuweisung von Aufgaben an die Kommunen soll nur noch durch die Länder erfolgen und hierfür sollen die landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsgebote gelten. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass die Kommunen eine angemessene Erstattung des mit einer Aufgabenübertragung verbundenen finanziellen Mehrbedarfs erhalten (…). Da dieser Zweck auch bei Aufgabenerweiterungen eingreifen kann, spricht das dafür, auch eine Erweiterung als Aufgabenübertragung zu behandeln.

b) Würde allerdings jede Aufgabenerweiterung unter Art. 84 I 7 GG fallen, könnte der Bundesgesetzgeber keine Verbesserungen der Sozialhilfeleistungen mehr vornehmen. Auch die Länder wären dazu nicht in der Lage, weil sie Bundesrecht nicht ändern dürfen. Der dadurch drohenden „Versteinerung“ des SGB XII (vgl. BVerfG [79]) wirkt die Übergangsvorschrift des Art 125a GG entgegen. BVerfG [78] Eine Schranke findet das Durchgriffsverbot in der Übergangsregelung des Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG. Danach gilt Recht, das als Bundesrecht erlassen worden ist, aber wegen Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG nicht mehr wirksam erlassen werden könnte, als Bundesrecht fort. Was der Bund auf der Grundlage von Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG regeln darf, stellt eine zulässige Anpassung des kommunalen Aufgabenbestandes dar; was darüber hinausgeht, verstößt gegen Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG.

Anwendungsfall der Fortgeltungsanordnung des Art. 125a I 1 GG ist § 3 SGB XII, wonach die Kommunen Träger der Sozialhilfe sind. Obwohl die Vorschrift wegen Art. 84 I 7 GG heute nicht mehr erlassen werden dürfte (Groth NJW 2020, 3242), gilt sie weiter. Die Weitergeltung erfasst auch die den Kommunen als Sozialhilfeträger zugewiesenen Aufgaben. Nicht ausdrücklich geregelt und deshalb durch Auslegung zu entscheiden ist, ob der Bundesgesetzgeber nach Art. 125a I GG fortgeltendes Bundesrecht auch dahin ändern darf, dass er die Leistungen erweitert. Um sowohl der Grundsatzvorschrift des Art. 84 I 7 GG als auch der Übergangsvorschrift des Art. 125a I GG Rechnung zu tragen, ist zwischen einer unzulässigen Übertragung neuer und einer zulässigen Erweiterung bestehender Aufgaben zu unterscheiden (BVerfG [79]).

aa) Die Fälle einer zulässigen Erweiterung sind, da Art. 125a I GG eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift ist (BVerfG [80]), eng zu begrenzen. Nach BVerfG [82] fallen darunter die Berichtigung des Fachrechts, kleinere Anpassungen, Aktualisierungen, also Abrundungen einer bereits zugewiesenen Aufgabe.

bb) Was demgegenüber unzulässig ist, kann entsprechend BVerfG [83-86] so zusammengefasst werden: Ein Fall des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG liegt zunächst dann vor, wenn ein Bundesgesetz den Kommunen erstmals eine bestimmte (Verwaltungs-)Aufgabe zuweist… Eine Erweiterung bereits bundesgesetzlich übertragener Aufgaben unterfällt dem Durchgriffsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, wenn mit der Erweiterung mehr als unerhebliche Auswirkungen auf die Organisations-, Personal- und Finanzhoheit der Kommunen verbunden sind (…).

2. Die Anwendung dieser Grundsätze auf §§ 34, 34a SGB XII ergibt Folgendes:

a) Die bereits früher in verfassungsmäßiger Weise geregelten Kostenübernahmen bei mehrtägigen Klassenfahrten und für einen persönlichen Schulbedarf sind weiterhin zulässig. Sie wurden lediglich der Kostenentwicklung angepasst und sind daher „kleinere Anpassungen“ i. S. von oben 1 b aa). Insoweit werden Art. 84 I 7, 28 II GG durch §§ 34, 34 a SGB XII nicht verletzt. Soweit die VfB sich gegen sie richtet, ist sie unbegründet und bleibt ohne Erfolg (BVerfG [101]).

b) Die anderen Änderungen könnten weitergehende, erhebliche Auswirkungen auf die Kommunen als Sozialhilfeträger haben (oben 1 b bb). BVerfG [94-96] Die zu berücksichtigenden Bedarfe sind durch das streitgegenständliche Gesetz deutlich ausgeweitet worden… Bedarfe für Schulausflüge - und nicht lediglich für mehrtägige Klassenfahrten - werden anerkannt (…)… Erstmals werden Bedarfe für die Schülerbeförderung, die Lernförderung und die Mittagsverpflegung anerkannt. Schließlich werden für alle Kinder und Jugendliche Bedarfe für die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft berücksichtigt (…). Zudem sind nunmehr alle Kinder und Jugendlichen vor Vollendung des 18. Lebensjahres leistungsberechtigt… Im Hinblick auf das Verwaltungsverfahren werden den Kommunen ebenfalls neue Lasten aufgebürdet… Diese neuen Leistungstatbestände gehen über die durch Art. 125a I GG zugelassenen Anpassungen und Abrundungen hinaus und bedeuten einen Verstoß gegen das Durchgriffsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG (zustimmend Lorenzen DVBl 2020, 1482).

BVerfG [100] Der Verstoß gegen das Durchgriffsverbot wird nicht dadurch infrage gestellt, dass Umfang und Volumen der Leistungen im Vergleich zu anderen Sozialleistungen eher gering ausfallen (…). Ob und inwieweit der durch das Bildungs- und Teilhabepaket verursachte Mehraufwand für die Kommunen praktisch ins Gewicht fällt, spielt nur bei der Erweiterung bereits bestehender, nicht aber bei der Schaffung neuer Leistungstatbestände, wie sie mit §§ 34 und 34a SGB XII verbunden ist, eine Rolle.

3. Somit gehen die meisten Regelungen der §§ 34, 34a SGB XII über die durch Art. 125a I GG zugelassenen Anpassungen hinaus und bedeuten eine Verletzung des Art. 28 II i. V. m. Art. 84 I 7 GG. Insoweit ist die VfB begründet.

4. Zur Rechtsfolge:

a) Grundsätzlich ist ein verfassungswidriges Gesetz für nichtig zu erklären (§ 95 III BVerfGG).

b) Jedoch gibt es auch die Möglichkeit, lediglich die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit der Verfassung festzustellen (vgl. § 31 II 2, 3 BVerfGG). BVerfG [103-105] Diese ist regelmäßig geboten, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen (……st. Rspr.), oder wenn die sofortige Ungültigkeit der zu beanstandenden Norm dem Schutz überragender Güter des Gemeinwohls die Grundlage entziehen würde und eine Abwägung mit den betroffenen Grundrechten ergibt, dass der Eingriff für eine Übergangszeit hinzunehmen ist (…st. Rspr.)… Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die aus dem Ausspruch der Nichtigkeit folgende Verwerfung der §§ 34 und 34a SGB XII hätte erhebliche Unsicherheiten zur Folge und zöge nach einer (rückwirkenden) Neuregelung gravierende verwaltungsrechtliche Probleme nach sich. Denn bis zu einer Neuregelung könnten die Träger der Sozialhilfe mangels gesetzlicher Grundlage keine Leistungen der Bildung und Teilhabe gewähren, sodass ein menschenwürdiges Existenzminimum für Kinder und Jugendliche nicht mehr gewährleistet werden könnte… Mit Rücksicht auf diese Erwägungen ordnet der Senat die Fortgeltung der für verfassungswidrig befundenen Normen bis zu einer Neuregelung und spätestens bis zum 31. Dezember 2021 an. – Im Ergebnis liegt darin eine befristete Fortgeltungsanordnung, gestützt auf § 35 BVerfGG (Sachs JuS 2019, 89). – Die danach vom Bund vorzunehmende Anpassung an den BVerfG-Beschluss könnte darin bestehen, § 3 SGB XII zu streichen und künftig den Ländern zu überlassen, wer in ihrem Land Sozialhilfeträger ist (Groth NJW 2020, 3243; Lorenzen DVBl 2020, 1482).


Zusammenfassung