Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Verfassungsbeschwerde, §§ 90 ff. BVerfGG. ► Anwendung von EU-Recht durch deutsche Staatsorgane im Falle eines Europäischen Haftbefehls zur Strafvollstreckung. ► Verhältnis des EU-Rechts zum nationalen, deutschen Recht; Vorrang des EU-Rechts. ► Anwendung von EU-Grundrechten der Grundrechtecharta durch das BVerfG. ► Schutz vor inhumanen Haftbedingungen bei Überstellung einer Person an einen EU-Mitgliedstaat, Art. 4 EU-GRCh. ► Prüfungspflicht des deutschen Gerichts
BVerfG Beschluss vom 1.12.2020 (2 BvR 1645/18 und 2100/18) NJW 2021, 1518
Fall (Überstellung)
Der rumänische Staatsangehörige B war in Rumänien wegen versuchten Mordes rechtskräftig zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Nachdem es ihm gelungen war, nach Berlin zu entkommen, erließ das rumänische Gericht einen Europäischen Haftbefehl zur Strafvollstreckung und beantragte die Auslieferung des B. Grundlage hierfür ist der vom Rat der EU erlassene „Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten“. Danach darf der Ausstellungsmitgliedstaat einen Haftbefehl erlassen, den der Vollstreckungsmitgliedstaat zu vollstrecken hat; für die beteiligten Staaten handeln deren Justizbehörden. Der Rahmenbeschluss regelt die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der EU abschließend. Davon unberührt bleibt, dass nach dem ( Bundes-) Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) über die Auslieferung oder Überstellung das zuständige Oberlandesgericht - auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses - zu entscheiden hat (§§ 12, 13 IRG); in Berlin ist das Kammergericht (KG) zuständig. In dem Verfahren vor dem KG hatte B Material über ungünstige Verhältnisse im rumänischen Strafvollzug vorgelegt. Deshalb hatte das KG bei der zuständigen rumänischen Justizbehörde schriftlich angefragt, welche Haftbedingungen B zu erwarten hat. In der Antwort wurde ausgeführt, dass B in einer Gemeinschaftszelle untergebracht wird, in der ihm während des geschlossenen Strafvollzugs im ersten Jahr 3 qm Raum zur Verfügung stehen; beim anschließenden halboffenen Vollzug sind es mindestens 2 qm. Daraufhin erklärte das KG mit Beschluss vom 10. August die Überstellung für zulässig und begründete das damit, die raumbezogenen Haftbedingungen seien noch akzeptabel. Im Übrigen liege die Zuständigkeit f ür eine Prüfung der Haftbedingungen bei den rumänischen Behörden und Gerichten. Der Beschluss ist unanfechtbar.
Gegen den Haftbefehl und den Beschluss des KG hat B form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, die Haftbedingungen in rumänischen Haftanstalten seien menschenunwürdig, so dass er in seinen - von ihm näher bezeichneten - Grundrechten des Grundgesetzes und des EU-Rechts verletzt werde. Wie das von ihm vorgelegte Material zeige, seien sowohl die Überbelegung als auch die hygienischen Verhältnisse in den Haftanstalten unzumutbar. Die Bundesregierung hat im Verfassungsbeschwerdeverfahren Stellung genommen und hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig. Das folge bereits daraus, dass B rumänischer Staatsbürger ist. Vor allem dürfe das BVerfG nur die Verletzung von Grundrechten des GG prüfen, die aber beim Vollzug des auf EU-Recht gestützten Haftbefehls nicht anwendbar seien. Im Übrigen sei auch kein Grundrecht verletzt. Für die Haftbedingungen in Rumänien seien deutsche Staatsorgane nicht verantwortlich. Wie ist über die Verfassungsbeschwerde zu entscheiden?
Lösung
Vorbemerkung: Der hier behandelte Beschluss des BVerfG fasst zwei Fälle zusammen, wobei nur ein Fall davon Gegenstand der hier behandelten Aufgabe ist. – Da es bisher schon Fälle zum Europäischen Haftbefehl gab, wird dieser Beschluss auch mit „Europäischer Haftbefehl III“ zitiert.
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (VfB)
I. B müsste Beschwerdeführer (Bf.) einer VfB sein können, was ihm von der Bundesregierung unter Hinweis auf seine rumänische Staatsangehörigkeit abgesprochen wird. Jedoch kann nach § 90 I BVerfGG „Jedermann“ ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit VfB erheben, was insbesondere von Bedeutung ist, wenn sich die VfB auf ein Menschenrecht wie z. B. die Art. 2 und 5 GG stützt. Das BVerfG (NJW 2020, 2235) hat sogar einem im Ausland ansässigen U S-amerikanischen Journalisten das Recht zur Erhebung einer VfB gegen Maßnahmen des deutschen Bundesnachrichtendienstes zugesprochen.
II. Die VfB muss sich gegen einen Hoheitsakt, eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt (§ 90 I BVerfGG) richten (Beschwerdegegenstand).
1. B hat die VfB gegen den Europäischen Haftbefehl gerichtet. Dieser wurde vom rumänischen Gericht ausgestellt und ist deshalb kein Hoheitsakt der deutschen Staatsgewalt; insoweit ist die VfB nicht zulässig.
2. Hoheitsakt ist der ebenfalls angegriffene Beschluss des KG vom 10. August. Da der Beschluss einem Urteil gleicht, handelt es sich um eine Urteils-VfB.
III. B muss behaupten, in einem Grundrecht verletzt zu sein (§ 90 I BVerfGG; Beschwerdebefugnis).
1. B behauptet, er werde in Grundrechten des deutschen Rechts und des europäischen Rechts verletzt und hat diese auch näher bezeichnet.
2. Allerdings reicht eine reine Verbalbehauptung für die Beschwerdebefugnis nicht aus. Vielmehr muss ein bestimmtes Grundrecht zitiert werden (vgl. § 92 BVerfGG), das dem Beschwerdeführer zusteht und das in die Kontrollzuständigkeit des BVerfG fällt. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist angesichts des Vorbringens der Bundesregierung unter Verweis auf EU-Recht problematisch. Deshalb wäre es vertretbar, die diese Frage betreffenden, unter B I angestellten Überlegungen bereits hier, bei der Zulässigkeitsprüfung einzufügen. Jedoch reicht für die Beschwerdebefugnis aus, dass die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung besteht. Die im Sachverhalt angesprochene Begründung durch B erlaubt es, eine solche Möglichkeit zu bejahen. BVerfG [32] hat es ausreichen lassen, dass sich der Bf. unter Bezugnahme auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der Europäischen Union mit der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Haftraumgröße auseinandergesetzt und dargelegt hat, weshalb gegen die Menschenwürdegarantie verstoßen worden sein soll. (Ebenso knapp BVerfG NJW 2020, 2235 Rn. 61.) Die Beschwerdebefugnis des B ist somit ohne eine genauere Prüfung zu bejahen.
IV. Die Notwendigkeit, den Rechtsweg auszuschöpfen (§ 90 II BVerfGG), entfällt, weil der angegriffene Beschluss unanfechtbar ist.
V. Die VfB wurde form- und fristgerecht erhoben und ist, soweit sie sich gegen den Beschluss des KG richtet, zulässig.
B. Begründetheit der VfB
Die gegen den Beschluss des KG gerichtete VfB ist begründet, wenn der Beschluss ein Grundrecht des B verletzt.
I. Zunächst ist zu klären, welcher Grundrechtsart das anzuwendende Grundrecht zu entnehmen ist. Würde für den Beschluss des KG ein Grundrecht des GG gelten, wäre ein solches Grundrecht auch Grundlage für das BVerfG und das VfB-Verfahren.
1. Welche Grundrechtsart anzuwenden ist, richtet sich grundsätzlich nach der Rechtsgrundlage für den Hoheitsakt.
a) Ergeht ein deutscher Hoheitsakt in Ausführung deutschen Rechts, sind die Grundrechte des GG auf den Hoheitsakt anzuwenden und sind auch im VfB-Verfahren des BVerfG maßgebend.
b) Ergeht der Hoheitsakt in Ausführung von EU-Recht, gilt die Charta der Grundrechte der EU (Art. 51 I 1 GRCh: sie gilt „für die Mitgliedstaaten…bei der Durchführung des Rechts der Union“); die Entscheidung über die richtige Anwendung des EU-Rechts ist grundsätzlich Aufgabe des EuGH (vgl. Art. 258-277 AEUV). EU-Grundrechte sind auch maßgebend, wenn ein Hoheitsakt zwar in Ausführung deutschen Rechts ergeht, dieses Recht aber zur Umsetzung von EU-Recht erlassen wurde und der deutsche Gesetzgeber dabei keinen Spielraum hatte, das deutsche Gesetz also vollständig durch EU-Recht determiniert ist.
c) Der Beschluss des KG vom 10.8. erging in Anwendung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, der vom Rat der EU auf der Grundlage des Art. 82 Abs. 1 UA II d AEUV erlassen wurde. Der Rahmenbeschluss ist deshalb EU-Recht, das in Deutschland unmittelbar gilt und Anwendungsvorrang gegenüber dem deutschen Recht hat, auch gegenüber deutschem Verfassungsrecht. Darüber hinaus enthält der Rahmenbeschluss, wie bereits der Sachverhalt feststellt, eine abschließende Regelung der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Somit richtete sich die vom KG zu entscheidende Frage, ob B den rumänischen Behörden überstellt wird, ausschließlich nach EU-Recht. In diesem Fall sind die Grundrechte des GG nicht anwendbar. BVerfG [35, 36] Das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ist vollständig unionsrechtlich determiniert (vgl. BVerfGE 140, 317, 343 Rn. 52; 147, 364, 382 Rn. 46). Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind nicht die deutschen Grundrechte, sondern die Unionsgrundrechte maßgeblich (vgl. BVerfGE 152, 216, 233 ff. Rn. 42 ff.). Die Nichtanwendung der deutschen Grundrechte als unmittelbarer Kontrollmaßstab beruht auf der Anerkennung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts…
d) Nach vorstehenden Grundsätzen wäre das BVerfG, wenn seine Zuständigkeit entsprechend dem Vorbringen der Bundesregierung auf die Anwendung der Grundrechte des GG beschränkt wäre, nicht befugt, die Vereinbarkeit des KG-Beschlusses mit Grundrechten zu prüfen.
2. B könnte aber auch nicht den EuGH anrufen. Zwar obliegt dem EuGH grundsätzlich die Überprüfung und Anwendung des EU-Rechts. Jedoch sind nach Art. 288 ff. AEUV vor dem EuGH nur bestimmte Verfahrensarten zulässig. Eine Verfassungsbeschwerde ist dort nicht vorgesehen. Die Art. 288 ff. AEUV enthalten auch kein anderes Verfahren, in dem eine Privatperson den EuGH zwecks Prüfung einer Grundrechtsverletzung durch das Gericht eines Mitgliedstaates anrufen kann. Die in Art. 263 IV AEUV vorgesehene Direktklage kann sich nur gegen Hoheitsakte der EU-Organe richten, nicht gegen das Urteil eines deutschen OLG. BVerfG NVwZ 2020, 63 Rn. 61: Eine Möglichkeit Einzelner, die Verletzung von Unionsgrundrechten durch ein mitgliedstaatliches Fachgericht vor dem EuGH geltend zu machen, besteht nicht.
3. Würde es bei dieser Rechtslage bleiben, bestünde in einer Situation wie der des B kein Rechtsschutz gegenüber einer Grundrechtsverletzung durch ein deutsches Fachgericht.
a) Um das zu vermeiden, hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde des deutschen Rechts auf den Schutz der Grundrechte der GRCh ausgedehnt. BVerfG [36] Gegenstand der Verfassungsbeschwerden ist die Kontrolle einer Entscheidung eines deutschen Fachgerichts daraufhin, ob es bei der ihm obliegenden Anwendung des Unionsrechts den hierbei zu beachtenden Anforderungen der Grundrechtecharta Genüge getan hat. In solchen Fällen kann sich das BVerfG nicht aus der Grundrechtsprüfung zurückziehen. Vielmehr gehört es zu seinen Aufgaben, Grundrechtsschutz am Maßstab der Unionsgrundrechte zu gewährleisten. Deshalb kontrolliert das BVerfG, soweit die Grundrechte des GG im konkreten Fall durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden, dessen Anwendung durch deutsche Behörden und Gerichte am Maßstab der Unionsgrundrechte (vgl. BVerfGE 152, 216, 236 Rn. 50 und 237 Rn. 52).
Bereits in der vorstehend zitierten Entscheidung („Vergessen II“ ) hatte es bei Rn. 60 ausgeführt: „ Ohne Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstab des BVerfG bliebe der Grundrechtsschutz gegenüber der fachgerichtlichen Rechtsanwendung nach dem heutigen Stand des Unionsrechts unvollständig. Dies gilt insbesondere für Regelungsmaterien, die durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlicht sind. Da hier die Anwendung der deutschen Grundrechte ausgeschlossen ist, ist ein verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz nur gewährleistet, wenn das BVerfG für die Überprüfung fachgerichtlicher Rechtsanwendung die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab nimmt. Würde es sich hier aus dem Grundrechtsschutz herausziehen, könnte es diese Aufgabe mit zunehmender Verdichtung des Unionsrechts immer weniger wahrnehmen.“
Rn. 67: „ Eine Einbeziehung der Unionsgrundrechte verbietet auch nicht der Wortlaut der Verfassung, insbesondere nicht Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG. Zwar hat diese Vorschrift von ihrer Entstehungsgeschichte her nur die Grundrechte des GG im Blick. Jedoch folgt aus der dem BVerfG nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG aufgetragenen Mitwirkung an der Anwendung von Unionsrecht im Rahmen der hiermit verbundenen Integrationsverantwortung zugleich, dass Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG insoweit auf Rügen einer Verletzung von Rechten der Charta der Grundrechte der EU entsprechend Anwendung findet.“
b) Zur weiteren Unterstützung dieser These führt BVerfG [37] im vorliegenden Fall „Europäischer Haftbefehl III“ aus: Die Unionsgrundrechte gehören heute zu den gegenüber der deutschen Staatsgewalt durchzusetzenden Grundrechtsgewährleistungen und bilden ein Funktionsäquivalent zu den Grundrechten des GG. Wie diese dienen sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts nach Art. 51 Abs. 1 GRCh dem Schutz der Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger und sind Maßstab für jede Art unionsrechtlichen Handelns, der gegebenenfalls auch gerichtlich durchsetzbar ist (vgl. BVerfGE 152, 216, 239 f. Rn. 59).
c) Damit stellt sich die Frage des Verhältnisses der Grundrechte der GRCh zu den Grundrechten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und zu den Grundrechten der mitgliedstaatlichen Verfassungen, in Deutschland denen des GG. BVerfG [37] Art. 52 Abs. 3 GRCh bestimmt, dass Rechte der Charta, die den in der EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. In Art. 52 Abs. 4 GRCh wird zudem festgehalten, dass Rechte der Charta, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt werden. Daraus folgt, dass bei der Auslegung der Rechte der Charta sowohl die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte konkretisierten Konventionsrechte (EMRK) als auch die von den Verfassungs- und Höchstgerichten der Mitgliedstaaten ausgeformten mitgliedstaatlichen Grundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben, mit heranzuziehen sind.
d) [38] Die EU ist ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund (…). Im Rahmen des Verfassungsgerichtsverbunds gewährleistet das BVerfG den Grundrechtsschutz in enger Kooperation mit dem EuGH, dem EGMR und den Verfassungs- und Höchstgerichten der anderen Mitgliedstaaten. Also entspricht der unter c) beschriebenen Geltung der verschiedenen Grundrechtsarten nebeneinander ein kooperativer Grundrechtsschutz durch BVerfG, EuGH und EGMR; dazu Britz NJW 2021, 1489.
e) [39] Die Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen am Maßstab der in der Charta gewährleisteten Grundrechte durch das BVerfG kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der EuGH deren Auslegung bereits geklärt hat oder die anzuwendenden Auslegungsgrundsätze aus sich heraus offenkundig sind - etwa auf der Grundlage der Rechtsprechung des EGMR… Andernfalls müssen Fragen zur Auslegung der Rechte der Charta dem EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV vorgelegt werden (vgl. BVerfGE 152, 216, 244 Rn. 70).
Folglich ist die Auffassung der Bundesregierung, dass das BVerfG nur die Verletzung von Grundrechten des GG prüfen dürfe, nicht (mehr) zutreffend; es prüft vielmehr in der hier gegebenen Situation Grundrechte der GRCh.
II. Als im vorliegenden Fall anzuwendende Vorschrift kommt Art. 4 GRCh in Betracht.
1. Danach darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine erniedrigende Behandlung könnte sich aus den in Rumänien zu erwartenden Haftbedingungen ergeben. Ein Verbot erniedrigender Haftbedingungen ergibt sich auch aus der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 I GG) und aus dem dem Art. 4 GRCh entsprechenden Art. 3 EMRK. Obwohl es nach dem Grundsatz des kooperativen Grundrechtsschutzes geboten sein kann, auch diese Vorschriften mit heranzuziehen (oben B I 3c, d), besteht im vorliegenden Fall dafür kein Grund, weil Art. 1 I GG und Art. 3 EMRK keine abweichenden oder weitergehenden Anforderungen stellen (BVerfG [57] zu Art. 1 GG; [47] zu Art. 3 EMRK). Es reicht deshalb die Heranziehung des Art. 4 GRCh aus.
2. Eine Verletzung des Art. 4 GRCh durch den Beschluss des KG kann nur angenommen werden, wenn dem Auslieferungsbeschluss eines deutschen Gerichts die ausländischen Haftbedingungen zuzurechnen sind. Nach den Ausführungen im Beschluss des KG und dem Vorbringen der Bundesregierung sind deutsche Staatsorgane für Haftbedingungen im Ausland nicht verantwortlich, auch obliegt ihre Überprüfung den ausländischen Gerichten. Das ist zwar grundsätzlich zutreffend. Jedoch hat ein Beschluss, der die Überstellung einer Person an das Ausland für zulässig erklärt, die Folge, dass die Person den dortigen Haftbedingungen ausgesetzt wird, und trägt deshalb für diese Folge eine Mitverantwortung.
BVerfG [42-44] In der Rspr. des EuGH ist geklärt, dass das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht ein durch einen Europäischen Haftbefehl eingeleitetes Überstellungsverfahren beenden muss, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass eine Übergabe zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der betreffenden Person im Sinne von Art. 4 GRCh führt… Zwar gelten im europäischen Rechtshilfeverkehr die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung… Insbesondere ist ein Europäischer Haftbefehl für den Vollstreckungsmitgliedstaat grundsätzlich verbindlich.
Jedoch sind nach der Rspr. des EuGH unter „außergewöhnlichen Umständen“ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Gefahr besteht, dass die Übergabe zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der betreffenden Person im Sinne von Art. 4 GRCh führt (folgen Nachw. auf die Rspr. des EuGH). [64] Zwar endet die grundrechtliche Verantwortlichkeit der deutschen öffentlichen Gewalt grundsätzlich dort, wo ein Vorgang in seinem wesentlichen Verlauf von einem fremden souveränen Staat nach dessen eigenem, von der BRD unabhängigen Willen gestaltet wird (…). Gleichwohl darf die deutsche Hoheitsgewalt die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen (vgl. BVerfGE 59, 280, 282 f.;…140, 317, 347 Rn. 62 und 355 Rn. 83).
3. Ob „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen und die Überstellung Art. 4 GRCh verletzt, ist nach der Rspr. des BVerfG, des EuGH und des EGMR in zwei Schritten zu prüfen.
a) BVerfG [45] Im ersten, die allgemeine Haftsituation in dem Ausstellungsmitgliedstaat betreffenden Schritt ist das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht verpflichtet, sich auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen in den Haftanstalten zu stützen, um zu prüfen, ob konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen in diesem Mitgliedstaat besteht. Konkrete Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat können sich aus Entscheidungen internationaler Gerichte, von Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats oder anderer Mitgliedstaaten sowie aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder der Vereinten Nationen ergeben (…). Auch die deutsche Auslandsvertretung in dem Ausstellungsmitgliedstaat kann darüber Auskunft geben.
b) [46] In einem zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen Prüfungsschritt ist das Gericht verpflichtet, genau zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im Anschluss an ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird (vgl. EuGH, Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15, Rn. 92 und 94; …Urteil vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C-128/18, Rn. 55). Dies erfordert eine aktuelle und eingehende Prüfung der Situation, wie sie sich zum Entscheidungszeitpunkt darstellt (…). Da das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung absoluten Charakter hat, darf die vom Gericht vorzunehmende Prüfung der Haftbedingungen nicht auf offensichtliche Unzulänglichkeiten beschränkt werden, sondern muss auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen. Angaben und Zusicherungen des Ausstellungsstaates sind Grundlage der Prüfung, dürfen aber nicht ungeprüft übernommen werden (BVerfG [56]).
aa) [47] Dabei muss eine Misshandlung, um unter Art. 4 GRCh zu fallen, ein Mindestmaß an Schwere erreichen, wofür sämtliche Umstände des Falles, wie die Dauer der Behandlung, deren physische und psychische Auswirkungen sowie, in manchen Fällen, Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers bedeutsam sind (…).
bb) Eine besondere Bedeutung hat die Raumfrage, bei der das BVerfG dem EuGH und dem EGMR folgt, [49-52]:
(1) Nach dieser Rspr. begründet der Umstand, dass der einem Inhaftierten zur Verfügung stehende Raum in einer Gemeinschaftszelle unter 3 qm liegt, eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK. Diese Vermutung kann normalerweise nur widerlegt werden, wenn es sich kumulativ um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums gegenüber dem geforderten Minimum von 3 qm handelt, diese Reduzierung mit genügend Bewegungsfreiheit und ausreichenden Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergeht sowie die Haftanstalt allgemein angemessene Haftbedingungen bietet… (EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, Haftbedingungen in Ungarn, C-220/18 PPU, Rn. 92 f.; Urteil vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C-128/18, Rn. 72 f.). (2) Verfügt ein Gefangener in einer Gemeinschaftszelle über einen persönlichen Raum zwischen 3 qm und 4 qm, kann ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK vorliegen, wenn zu dem Raummangel weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten… (3) Bei mehr als 4 qm persönlichem Raum bleiben die weiteren Aspekte der Haftbedingungen für die erforderliche Gesamtbeurteilung relevant (…).
Mit diesem Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Aus Art. 4 GRCh folgt nach der Rspr. des EuGH die Pflicht, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob das Grundrecht des zu Überstellenden aus Art.4 GRCh gewahrt ist (diese Pflicht wird in [53-56] konkretisiert). [65] Den Betroffenen trifft keine Beweislast (…). Stellt sich nach Abschluss der Ermittlungen heraus, dass der geforderte Mindeststandard vom Ausstellungsmitgliedstaat nicht eingehalten wird, darf das zuständige Gericht die Überstellung nicht für zulässig erklären.
c) Vor der Prüfung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall ist zu überlegen, ob Einschränkungen gelten. Die VfB des B richtet sich gegen die Entscheidung eines Fachgerichts, des KG. Grundsätzlich gilt, dass bei einer Urteils-VfB nur spezifische Verfassungsverletzungen zu prüfen sind (BVerfGE 18, 85, 92; NJW 2018, 2385 Rn. 69-71). Diese Voraussetzung dient der Abgrenzung zu Rechtsfehlern lediglich bei der Anwendung der ein Grundrecht einschränkenden einfachen Gesetze, also im Rechtfertigungsbereich des Grundrechts. Ein solcher Fall ist zwar auch bei einem Grundrecht der GRCh möglich (vgl. Art. 52 I 1 GRCh), nicht jedoch bei Art. 4 GRCh. Bei diesem Grundrecht ist das vorstehend dargestellte zweistufige Prüfprogramm abschließend und kennt keine zusätzlichen einfachen Gesetze. Deshalb besteht bei Art. 4 GRCh für eine Beschränkung der Prüfung auf spezifische Verfassungsverletzungen kein Grund (das BVerfG hat diesen Aspekt auch nicht behandelt).
III. Es sind die unter II 3 entwickelten Anforderungen auf den Beschluss des KG vom 10. August anzuwenden.
1. Zum ersten Prüfungsschritt, der allgemeinen Haftsituation in Rumänien, enthält der Beschluss offenbar keine Feststellungen. Auch wenn davon ausgegangen wird, dass der Sachverhalt den Inhalt des KG-Beschlusses nicht vollständig wiedergibt, fehlt jede Andeutung, dass der Beschluss dahingehende Ausführungen enthält. Auch die Anfrage an die rumänische Justiz bezog sich nur auf die Haftbedingungen für B. Eine Prüfung der allgemeinen Haftbedingungen in Rumänien war im Fall des B insbesondere deshalb erforderlich, weil nicht bekannt ist, in welcher Haftanstalt B beispielsweise das 3. bis 5. Jahr der Strafvollstreckung verbringen muss. Das Unterlassen einer Prüfung auf der ersten Stufe führt deshalb bereits zu einer Verletzung des Art. 4 GRCh.
2. Ob bei der zum zweiten Prüfungsschritt gehörenden Raumfrage die 3 qm, die während des geschlossenen Vollzugs zur Verfügung stehen, zu einem weiteren Verletzungsgrund führen, kann offen bleiben. Denn in der nachfolgenden Zeit des halboffenen Vollzugs sind es nur 2 qm. BVerfG [76, 77] Die dauerhafte Unterbringung in einer Gemeinschaftszelle mit einem individuellen Raum von nur 2 qm ist mit Art. 4 GRCh nicht vereinbar. Auch wenn eine erniedrigende und unmenschliche Unterbringung nicht allein mit der Quadratmeterzahl der Haftraumgröße begründet werden kann, besteht jedenfalls bei der Unterschreitung eines persönlichen Raums von 3 qm eine starke Vermutung für eine Verletzung von Art. 4 GRCh… Umstände, die die Vermutung für eine Verletzung von Art. 4 GRCh widerlegen können – vgl. oben B II 3 b bb (1) - , sind nicht ersichtlich. Der im halboffenen Regime des rumänischen Strafvollzugs üblicherweise garantierte persönliche Raum von mindestens 2 qm ist schon keine kurzfristige, gelegentliche und lediglich geringe Unterschreitung der als Minimum erforderlichen 3 qm Raum pro Gefangenen. Auch der erforderliche Schweregrad der Verletzung wird bei einer Beschränkung des Raumes auf 2 qm für voraussichtlich mehrere Jahre erreicht. Sie ist ein weiterer Grund für die Verletzung des Art. 4 GRCh.
3. Zu dem Vorbringen des B, das vorgelegte Material zeige auch andere Mängel wie die hygienischen Umstände auf, führt das BVerfG aus, [72] Außerdem ist das bloße Abstellen auf die von den rumänischen Behörden mitgeteilte Mindesthaftraumgröße für die erforderliche Gesamtwürdigung der Haftbedingungen nicht ausreichend, weil der dem Inhaftierten zur Verfügung stehende Raum zwar ein bedeutender, aber nicht der alleinige Faktor für deren Bewertung ist. Auch bei einem persönlichen Raum in einer Gemeinschaftszelle von 3 qm bzw. zwischen 3 qm und 4 qm können erniedrigende und unmenschliche Haftbedingungen im Sinne von Art. 4 GRCh vorliegen, wenn zum Raummangel noch weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten… Da dem KG neben dem Raumfaktor keine weiteren Haftbedingungen bekannt waren, war es aufgrund seiner Aufklärungspflicht zunächst verpflichtet, diese Informationen bei den rumänischen Behörden anzufordern. Ohne zusätzliche Informationen kann die erforderliche, gründlich vorzunehmende Gesamtwürdigung der Haftbedingungen nicht auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage erfolgen. Somit liegt ein Aufklärungsdefizit vor, das zu einem weiteren Verstoß des KG-Beschlusses gegen Art. 4 GRCh führt.
Ergebnis: Der Beschluss des KG verletzt B in seinem Grundrecht aus Art. 4 GRCh. Die gegen den Beschluss des KG gerichtete VfB ist begründet. Das BVerfG hebt den Beschluss auf (§ 95 II 1 BVerfGG). Im Originalfall hat es außerdem die Sache an das KG zurückverwiesen (Tenor 2c).
Ergänzender Hinweis: In einem ähnlichen Fall hat das BVerfG mit Beschluss vom 27.4.2021 (2 BvR 156/21, „Auslieferung nach Lettland“) in gleichem Sinn entschieden.
Zusammenfassung