Der folgende Fall beruht auf einer Entscheidung des BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde. Inhaltlich betrifft er aber wesentlich das Versammlungs- und Polizeirecht. Er wird deshalb hier so umgestaltet, dass die Fragestellung primär zu den verwaltungsrechtlichen Fragen führt. Auch wird der Text insofern der neuen Rechtslage angepasst, als der bisherige § 15 II VersG durch die Änderung BGBl I 2005, 969 – nach Einfügen eines neuen Abs. II zum Schutz von Gedenkstätten – zum Abs. III geworden ist.

Platzverweis und Ingewahrsamnahme nach Polizeirecht. Versammlungsrecht; Auflösung einer Versammlung und Ausschluss von Teilnehmern; §§ 15 III, 18 III VersG. Verhältnis zwischen PolR und VersR; Polizeifestigkeit einer Spontanversammlung. Grundrecht der Versammlungsfreiheit, Art. 8 GG. Rechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Polizei

BVerfG Beschluss vom 26. 10. 2004 (1 BvR 1726/01)  NVwZ 2005, 80

Fall (Verhaftung nach Protest gegen NPD)

Die örtliche Parteiorganisation der NPD hatte für den 7. 10. auf dem Karlsplatz der im Lande L gelegenen Großstadt S einen Informationsstand genehmigt erhalten und im Zusammenhang damit eine Versammlung angemeldet (der Originalfall spielte in München). Als eine von P geleitete Polizeistreife um 9.15 Uhr dort vorbei kam, stellte sie fest, dass sich auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes eine Personengruppe befand, die gegen die NPD-Veranstaltung protestierte. Zu dieser gehörte der der Polizei bekannte und der linksextremistischen Szene zugeordnete B. Dieser hatte sich eine Woche vorher an einer Demonstration gegen eine Versammlung der NPD beteiligt, diese durch Rufe gestört und mit anderen zusammen versucht, den Abmarsch der Versammlungsteilnehmer und die Abfahrt des Lautsprecherwagens der NPD zu verhindern. P ging davon aus, dass B auch diesmal die Aktivitäten der NPD stören würde. P teilte dies dem B mit und forderte ihn auf, den Platz zu verlassen, widrigenfalls er in Gewahrsam genommen würde. Auf die Versammlungsfreiheit könne B sich nicht berufen, weil er an keiner Versammlung teilnehme. Als B dem nicht nachkam, wurde er gegen 9.30 Uhr in Polizeigewahrsam genommen und bis 12.00 Uhr dort festgehalten. Waren die polizeilichen Maßnahmen rechtmäßig ? In welchem Verfahren kann darüber entschieden werden ? Nach § 16 des im Lande L geltenden Polizeigesetzes kann eine Person vorübergehend von einem Platz verwiesen werden, wenn das zur Gefahrenabwehr erforderlich ist. Nach § 17 PolG ist eine Ingewahrsamnahme zulässig, u. a. um einen Platzverweis durchzusetzen.

A. Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahmen

I. Da die Ingewahrsamnahme der Durchsetzung des Platzverweises diente, steht im Vordergrund die Rechtmäßigkeitdes Platzverweises. Hierfür anwendbare Ermächtigungsgrundlage ist § 16 PolG. Die Frage des Verhältnisses zum Versammlungsrecht stellt sich an dieser Stelle noch nicht, weil das Versammlungsrecht keine Vorschrift über einen Platzverweis enthält, insoweit also nur das PolG in Betracht kommt.

II. Formelle Bedenken gegen den Platzverweis bestehen nicht. Die Polizei ist zur Durchführung der Vorschriften des PolG zuständig. Im Zusammenhang mit der Mitteilung durch P hatte B Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen, wurde also angehört. Eine mündliche Verfügung reichte aus (§ 37 II VwVfG).

III. In materieller Hinsicht ist für die Rechtmäßigkeit des Platzverweises erforderlich, dass die Ermächtigungsgrundlage des § 16 PolG eingreift.

1. Fraglich ist allerdings, ob dabei allein auf die in § 16 enthaltenen Voraussetzungen abgestellt werden darf. Aus den Vorschriften des Versammlungsrechts könnte sich ergeben, dass im Falle einer Versammlung ein Platzverweis gegenüber einem Versammlungsteilnehmer nicht bereits bei Vorliegen einer Gefahr, sondern nur nach Erfüllung zusätzlicher, möglicherweise vorrangiger Voraussetzungen ausgesprochen werden darf.

a) Ein Schutz durch dasVersammlungsrecht hat zur Voraussetzung, dass dieses anwendbar ist.

aa) Hierfür ist das Vorliegen einer Versammlung erforderlich. Das BVerfG prüft das unter dem Aspekt des Art. 8 GG, grundsätzlich gelten die Voraussetzungen nach Art. 8 I GG aber auch für das VersG. BVerfG S. 80 unter aa):   Versammlung i. S. des Art. 8 GG ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfGE 104, 92 [104]). Danach war das Zusammentreffen des Bf. und weiterer Personen auf dem Karlsplatz eine Versammlung.   B und die zu dessen Gruppe gehörenden anderen Personen   hatten sich zusammengefunden, um gegen den Informationsstand der NPD auf dem Karlsplatz zu protestieren. Entgegen der rechtlichen Würdigung durch das LG war daher nicht nur eine bloße Ansammlung von Personen gegeben.

bb) Entsprechend Art. 8 I GG könnte ein Schutz durch das Versammlungsrecht dann ausscheiden, wenn die Versammlung nicht friedlich ist. BVerfG unter bb):   Unfriedlich ist eine Versammlung erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit durch aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden (vgl. BVerfGE 104, 92 [105 f.]). Für einen unfriedlichen Verlauf der Versammlung war vorliegend nichts ersichtlich.

cc) Nach BVerfG S. 80 unter cc) ist die Anwendbarkeit des Versammlungsrechts, insbesondere auch der Schutz des Art. 8 GG, unabhängig davon, ob die Versammlung nach § 14 VersG ordnungsgemäß angemeldet wurde (wovon im vorliegenden Fall bei der Gegendemonstration nicht ausgegangen werden kann).

(1) Möglicherweise handelte es sich hier um eine Spontanversammlung. Auf diese ist § 14 VersG   nicht anwendbar, soweit der mit der Spontanversammlung verfolgte Zweck bei Einhaltung dieser Vorschrift nicht erreicht werden könnte (vgl. BVerfGE 69, 315 [350 f.]; 85, 69 [74 f,]).

(2) Aber auch wenn die Versammlung nicht als Spontanversammlung zu bewerten wäre, würde aus dem Verstoß gegen die Anmeldepflicht lediglich folgen, dass die Auflösung der Versammlung nach § 15 III VersG in Betracht kam (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 13. Aufl. 2004, § 15 Rdnr. 68 m. w. Nachw.). Die Entscheidung darüber liegt im Ermessen der Behörde. Bis zu einer wirksamen Auflösung besteht der versammlungsrechtliche Schutz fort.   Somit ist das VersG anwendbar.

b) Die Anwendbarkeit des VersG hat zur Folge, dass vor einem weiteren Vorgehen gegen die Versammlung oder ihre Teilnehmer

BVerfG S. 80 unter b):   Erst nach Auflösung der Versammlung gem. § 15 III VersG oder nach versammlungsrechtlich begründetem Ausschluss des Teilnehmers aus der Versammlung kommt ein Platzverweis nach Polizeirecht in Betracht, an den sich eine Ingewahrsamnahme anschließen kann… Art. 8 GG erlaubt Beschränkungen von Versammlungen unter freiem Himmel nur nach Maßgabe des Absatzes 2. Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen richten sich dementsprechend nach dem Versammlungsgesetz… Seine im Vergleich zum allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Maßnahmen sind Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit. Dementsprechend geht das Versammlungsgesetz als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor (vgl. BVerwGE 82, 34 [38]; VGH Mannheim DVBl 1998, 837 [839]). Ein auf allgemeines Polizeirecht – hier Art. 16 BayPAG – gegründeter Platzverweis scheidet deshalb aus, solange sich eine Person in einer Versammlung befindet und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen kann.   Diese Rechtslage wird als Polizeifestigkeit von Versammlungen bezeichnet. Sie erfasst auch Spontanversammlungen.

aa) Eine diesen Schutz beseitigende Auflösung ist im vorliegenden Fall nicht erfolgt. BVerfG S. 81 unter (1):   Auflösung ist die Beendigung einer bereits durchgeführten Versammlung mit dem Ziel, die Personenansammlung zu zerstreuen. Verbot und Auflösung einer Versammlung stellen die intensivsten Eingriffe in das Grundrecht dar (vgl. BVerfGE 87, 399 [409]). Der Schutz der Versammlungsfreiheit erfordert, dass die Auflösungsverfügung, deren Nichtbefolgung nach § 26 VersG strafbewehrt ist, eindeutig und nicht missverständlich formuliert ist und für die Betroffenen erkennbar zum Ausdruck bringt, dass die Versammlung aufgelöst ist.   Eine solche Auflösungsverfügung ist hier nicht ergangen. Allein die Aufforderung an B, den Platz zu verlassen, ist keine Auflösung der Versammlung insgesamt.

bb) Auch ein Ausschluss des B von der Versammlung kann nicht festgestellt werden. BVerfG S. 81:

(a) Der Ausschluss eines Versammlungsteilnehmers ist ein belastender VA, durch den dem Betroffenen verboten wird, weiter an der Versammlung teilzunehmen (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel,, § 18 Rdnr. 32). Damit endet der versammlungsrechtliche Schutz der Teilnahme (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel,, § 18 Rdnr. 36). Ein Ausschluss von Teilnehmern an einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel ist insbesondere in §§ 18 III und 19 IV VersG vorgesehen, wenn sie die Ordnung der Versammlung gröblich stören.

(b) Die Ausschlussverfügung muss…hinreichend bestimmt sein. Dem Versammlungsteilnehmer muss unmissverständlich bedeutet werden, dass gerade er mit dem Ausschluss gemeint ist.   Damit erteilt das BVerfG der Annahme einer konkludenten Auflösung oder Ausschlussverfügung eine Absage. Im vorliegenden Fall hatte die polizeiliche Maßnahme schon deshalb nicht den klaren Inhalt einer versammlungsrechtlichen Ausschlussverfügung, weil die Polizei, wie sie selbst erklärt hat, bei der Gegendemonstration gar nicht vom Vorliegen einer Versammlung ausgegangen ist.

Außerdem lagen die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen, wie das BVerfG näher ausführt, nicht vor: Die eigene Gegendemonstration hat B nicht gestört, sondern sich im Einklang mit ihrem Ziel verhalten. Für ein unzulässiges Einwirken des B auf die Veranstaltung der NPD gab es noch keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die Berufung der Polizei auf ein Verhalten des B in der Woche vorher und darauf, B gehöre zur linksextremistischen Szene, reichen zur Annahme einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nicht aus. Selbst wenn eine Gefahr von den Teilnehmern der Gegendemonstration ausgegangen wäre, hätte als milderes Mittel zur Verfügung gestanden, den Teilnehmern der Gegendemonstration aufzugeben, einen bestimmten Abstand von dem Info-Stand der NPD einzuhalten. Erst wenn B sich an eine solche Beschränkung nicht gehalten hätte, wäre ein weiteres Vorgehen gegen ihn möglich gewesen.

2. Somit stand B noch unter dem Schutz des Versammlungsrechts und war zur weiteren Teilnahme an der Gegendemonstration berechtigt. Daraus folgt, dass ein Platzverweis ihm gegenüber nicht verhängt werden durfte. Der gleichwohl ausgesprochene Platzverweis war rechtswidrig.

IV. Wenn § 17 PolG eine Ingewahrsamnahme zur Durchsetzung eines Platzverweises zulässt, ist damit nur ein rechtmäßiger Platzverweis gemeint. An diesem fehlte es hier. Somit war auch die Ingewahrsamnahme rechtswidrig.

Ergebnis zu A: Die polizeilichen Maßnahmen waren rechtswidrig.

B. Das dem B zur Verfügung stehende Verfahren

I. Über den gegenüber B ergangenen schärfsten Eingriff, die Ingewahrsamnahme entscheiden nach dem Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen (FreihEntzG, Sartorius Nr. 617), auf das die landesrechtlichen Polizeigesetze verweisen, die ordentlichen Gerichte (§§ 3, 13 II). Das gilt in erster Linie für die Anordnung einer Freiheitsentziehung und die Rechtmäßigkeit ihrer Fortdauer, muss aber auch auf die nachträgliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit erstreckt werden. Deshalb hatten im Fall des BVerfG das Amtsgericht und das Landgericht die Entscheidungen getroffen, dabei allerdings – was Anlass zu der Verfassungsbeschwerde gab – zu Unrecht die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen festgestellt. In diesem Verfahren wird auch als Vorfrage (inzidenter) darüber entschieden, ob der Platzverweis rechtmäßig war.

II. Will B sich auf ein Vorgehen gegen den Platzverweis beschränken, steht ihm der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 I VwGO zur Verfügung, weil es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher (verwaltungsrechtlicher) Art handelt. Die Streitigkeit wegen des Platzverweises ist auch keinem anderen Gericht zugewiesen. Klageart ist nach Erledigung des Platzverweises durch Zeitablauf (§ 43 II VwVfG) die ursprüngliche Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 I 4 VwGO. Das Feststellungsinteresse ergibt sich aus einer Wiederholungsgefahr. Die Klage führt zu einem Urteil des VG, in dem festgestellt wird, dass der Platzverweis rechtswidrig war.

III. Hat B in dem Rechtsweg nach I oder II keinen Erfolg, kann er Verfassungsbeschwerde nach § 90 BVerfGG erheben und diese zunächst auf eine Verletzung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) stützen. Sowohl der Platzverweis als auch die Ingewahrsamnahme hinderten B daran, weiter an der Gegendemonstration teilzunehmen, und enthielten deshalb einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 I GG. Der Eingriff war nicht gerechtfertigt, wie sich aus den Ausführungen oben A. ergibt. Mit den dort zitierten Ausführungen hat das BVerfG eine Verletzung des Art. 8 GG bejaht und der VfB des B – als „offensichtlich begründet“ – stattgegeben. Außerdem kann mit der VfB die Verletzung des Art. 2 II 2 GG durch die unberechtigte Ingewahrsamnahme gerügt werden.

Zusammenfassung