Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Einschreiten gegenüber einer rechtsextremen Versammlung, § 15 VersG. ► Begriff der öffentlichen Ordnung i. S. des § 15 I VersG. ► Einschränkende Auslegung des § 15 VersG unter dem Blickwinkel der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG)
BVerfG Beschluss vom 26. 1. 2006 (1 BvQ 3/06) NVwZ 2006, 585 = DVBl 2006, 368
(ähnliche Fallgestaltungen behandeln BVerfG NVwZ 2006, 586 und 815)
Vorbemerkung: Es handelt sich um die Entscheidung über eine im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde beantragten einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG. Deren eigentliche Bedeutung liegt aber auf dem Gebiet des Versammlungsrechts. Der Fall wird deshalb als versammlungsrechtlicher Fall dargestellt, wobei sich die Lösung aus der Entscheidung des BVerfG ergibt.
Fall („§ 130 kippen“)
Die örtliche Parteiorganisation der NPD (P) meldete am 13. 1. 2006 bei der zuständigen Polizeibehörde B eine öffentliche Versammlung zum 28. 1. 2006 an. Das von P bezeichnete Thema lautete: „Keine Demonstrationsverbote – Meinungsfreiheit erkämpfen – § 130 StGB kippen.“ B erließ am 20. 1. nach Anhörung der P eine Verfügung, wonach die Versammlung verboten wurde. Begründet wurde das damit, eine Versammlung mit rechtsradikalem Inhalt in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum 27. 1., dem Gedenktag der Opfer des Holocaust, und zum 30. 1., dem Jahrestag der „Machtergreifung“ Hitlers, sei eine unerträgliche Provokation eines Teils der Bevölkerung. Auch die Forderung nach einer Abschaffung des § 130 StGB, der sich gegen Volksverhetzungen richtet, bedeute mittelbar eine Förderung strafbarer Handlungen und verhöhne die Menschenwürde der Opfer. Hiergegen hat P Widerspruch erhoben und, nachdem B formell fehlerfrei die sofortige Vollziehung der Verfügung vom 20. 1. angeordnet hat, beim VG die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs beantragt. Wie ist darüber zu entscheiden ?
Es handelt sich um einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des von P eingelegten Rechtsbehelfs nach § 80 V VwGO, gegen dessen Zulässigkeit keine Bedenken bestehen. Begründet ist der Antrag, wenn das Aussetzungsinteresse der P Vorrang vor dem von B geltend gemachten Vollzugsinteresse hat. Das ist wiederum der Fall, wenn das Versammlungsverbot rechtswidrig ist, da am Vollzug eines rechtswidrigen VA kein öffentliches Interesse besteht.
I. Anwendbare Ermächtigungsgrundlage für die Verbotsverfügung der B-Behörde ist § 15 I VersG. Danach kann eine öffentliche Versammlung verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn bei ihrer Durchführung die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet ist. Die von P angemeldete Veranstaltung ist eine öffentliche Versammlung: Es handelt sich um die Zusammenkunft einer Mehrzahl von Personen, bei der eine gemeinschaftliche, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgabe stattfinden soll. Da der Kreis der Teilnehmer nicht beschränkt ist, ist die Versammlung öffentlich.
II. In formeller Hinsicht bestehen keine Bedenken. Die B-Behörde ist zuständig. P wurde angehört (§ 28 VwVfG). Die Verfügung wurde begründet (§ 39 VwVfG).
III. Bei Prüfung der materiellen Voraussetzungen des § 15 I VersG ist zunächst festzustellen, dass eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit nicht besteht. Es sind weder der Staat und seine Einrichtungen noch Rechtsgüter Einzelner unmittelbar gefährdet. Auch droht keine Verletzung von Rechtsvorschriften. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass auf der Versammlung Äußerungen beabsichtigt sind, die den Tatbestand der Volksverhetzung i. S. des § 130 StGB erfüllen. Die Forderung nach Abschaffung des § 130 StGB erfüllt den Tatbestand dieser Vorschrift nicht.
IV. Es könnte eine Gefahr für die öffentliche Ordnung vorliegen. Bei dieser recht unbestimmten Voraussetzung besteht am ehesten die Gefahr, dass ihre Auslegung und Anwendung mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG; ferner auch mit der nach Art. 5 I GG geschützten Meinungsfreiheit) in Konflikt gerät. Das BVerfG achtet deshalb in st. Rspr. sorgsam darauf, dass § 15 I VersG nur grundrechtskonform und damit eng ausgelegt und angewendet wird, so auch wiederum im hier behandelten Beschluss.
1. Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung kann sich aus den Modalitäten der Versammlung ergeben.
a) BVerfG Rdnr. 12: Ein Ordnungsverstoß liegt vor, wenn er sich aus der sonstigen Art und Weise der Durchführung der Versammlung ergibt. Danach kann die öffentliche Ordnung verletzt sein, wenn Rechtsextremisten einen Aufzug an einem speziell der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus und den Holocaust dienenden Gedenktag so durchführen, dass von seiner Art und Weise Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigen (vgl. BVerfG NJW 2001, 1409 = DVBl 2001, 558).
b) Aus der bloßen zeitlichen Nähe des Zeitpunkts der Versammlung zu einem solchen Gedenktag allein kann eine solche provokative Wirkung jedoch nicht abgeleitet werden… Einem in bloßer Nähe zu einem dem Gedenken an das nationalsozialistische Unrechtsregime und seine Opfer gewidmetem Gedenktag liegenden Termin kommt in der Gesellschaft kein eindeutiger Sinngehalt zu, der bei Durchführung eines Aufzugs an solchen Tagen in einer Weise angegriffen wird, dass hierdurch in gleicher Weise grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt werden…
c) Im Übrigen würden grob ordnungswidrige Modalitäten der Versammlungsdurchführung i. d. R. nur zu Auflagen i. S. des § 15 I führen und kein vollständiges Verbot rechtfertigen.
2. Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung kann sich auch aus dem Motto der Versammlung und den dort beabsichtigten Meinungsinhalten ergeben.
a) Allerdings ist eine ordnungs- oder polizeirechtliche Verfügung, die sich auf den Inhalt von Aussagen bezieht – dies ist bei der Anknüpfung an das Motto der Versammlung und die zu erwartenden Äußerungen der Versammlungsteilnehmer der Fall –, auch am Maßstab des Art. 5 I, II GG zu beurteilen (vgl. BVerfG NJW 2001, 2069 [2070]). Die Äußerung verliert den Schutz des Art. 5 I GG nicht allein wegen rechtsextremistischer Inhalte… Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Inhalte einer auf einer Versammlung geäußerten Meinung richten sich nicht nach Art. 8 II GG, sondern nach Art. 5 II GG (vgl. BVerfGE 90, 241 [246]). Es gilt hierbei die Vermutung zu Gunsten freier Rede in öffentlichen Angelegenheiten (vgl. BVerfGE 7, 198 [208]; st. Rspr.). Die Bürger sind grundsätzlich auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen oder die Änderung tragender Prinzipien zu fordern (vgl. BVerfG NVwZ 2004, 90). Gleiches gilt für die Rechtsordnung im Übrigen, also auch die Strafrechtsordnung. Eine Grenze besteht nach Art. 5 II GG, soweit Meinungsäußerungen auf verfassungsmäßige Weise rechtlich verboten,insbesondere unter Strafe gestellt sind.
b) Dass auf der Versammlung keine strafbaren Äußerungen zu erwarten sind, wurde bereits oben III. festgestellt. Die zu erwartenden rechtsextremistischen Äußerungen rechtfertigen wegen Art. 8, 5 I, II GG weder ein Versammlungsverbot noch Auflagen.
c) Im Fall des BVerfG hatten die B-Behörde und die VGe, insbesondere das OVG Lüneburg, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung mit der Begründung angenommen (so BVerfG Rdnr. 17), schon in der bloßen Erhebung der rechtspolitischen Forderung nach einer Abänderung oder Abschaffung der Strafnorm des § 130 StGB sei ein unmittelbarer Angriff auf die von dieser Strafnorm geschützte Würde der Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes zu sehen, wenn eine solche Forderung durch Vertreter rechtsextremistischer Auffassungen erhoben werde.
Wie aber bereits oben unter 2a) ausgeführt wurde, wird von der Meinungsfreiheit auch umfasst, selbst grundlegende Wertungen und Prinzipien in Frage zu stellen sowie die Abschaffung von Strafrechtsnormen zu fordern. Allerdings zieht auch die Menschenwürde (Art. 1 I GG) der Meinungsfreiheit Grenzen. BVerfG Rdnr. 18: Der Umstand, dass diese rechtspolitische Forderung, wenn sie in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu einem dem Gedenken an das nationalsozialistische Unrechtsregime gewidmeten Gedenktag erhoben wird, von Teilen der Bevölkerung als Provokation empfunden wird, vermag den schweren Vorwurf einer Verletzung der Menschenwürde der Opfer noch nicht zu rechtfertigen.
Somit liegt eine Gefahr für die öffentliche Ordnung nicht vor. Die Voraussetzungen des § 15 I VersG sind nicht gegeben. Auch verletzt das Versammlungsverbot Art. 8 und 5 I GG. Es ist rechtswidrig. An seinem Vollzug besteht kein öffentliches Interesse. Dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist statt zu geben.
(Im Originalfall hat das BVerfG im Rahmen einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG die aufschiebende Wirkung der von P erhobenen Anfechtungsklage wieder hergestellt.)
Zusammenfassung