Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Organstreitverfahren, Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 63 ff. BVerfGG. Verfassungsrechtlicher Status der politischen Parteien, Art. 21 GG. Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit im Wahlkampf. Neutralitätspflicht der Bundesregierung; Verletzung durch Einwirken in den Wahlkampf. Beschränkungen von Regierungsmitgliedern bei Teilnahme am politischen Meinungskampf unter Inanspruchnahme der Autorität des Amtes

BVerfG
Urteil vom 16. 12. 2014 (2 BvE 2/14) NVwZ 2014, 209

Fall
(Fall Schwesig)

Frau S ist Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und stellvertretende Vorsitzende der SPD. Am 23. 6. 2014 nahm sie in ihrer Eigenschaft als Bundesministerin in Weimar an der Eröffnung des Thüringer Landesprogramms für Demokratie, Weltoffenheit und Toleranz und der in diesem Rahmen stattfindenden Verleihung des Thüringer Demokratiepreises teil. Anschließend gab sie der Thüringer Landeszeitung ein Interview. In dessen erstem Teil wurde sie zu ihrer Regierungstätigkeit und den Projekten ihres Ministeriums befragt, u. a. zur Bekämpfung des Rechtsextremismus, zur Frauenquote und zum Elterngeld. Im zweiten Teil wurde sie auf den möglichen Einzug der NPD in den Thüringer Landtag bei den bevorstehenden Wahlen am 14. 9. 2014 angesprochen. Dazu verwies sie auf ihre Erfahrungen mit der NPD im Landtag von Mecklenburg-Pommern und erklärte abschließend: „Aber ich werde im Thüringer Wahlkampf mithelfen, alles dafür zu tun, dass es erst gar nicht so weit kommt bei der Wahl im September. Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt.“ Das Interview erschien am 25. 6. 2014. Im Begleittext wurde sowohl auf das Ministeramt als auch auf die Stellung der S in der SPD hingewiesen.

Die NPD hält es für unzulässig, dass ein Mitglied der Bundesregierung entgegen ihrer Pflicht zur parteipolitischen Neutralität derart massiv in den Wahlkampf eingreift. Sie hat beim Bundesverfassungsgericht form- und fristgemäß den Antrag gestellt, festzustellen, dass die Antragsgegnerin S das Recht der NPD auf Chancengleichheit dadurch verletzt hat, dass sie öffentlich erklärt hat, sie werde alles tun, damit die NPD nicht in den Landtag komme. S hält den Antrag für unzulässig, weil ihre Äußerungen keine rechtserheblichen Maßnahmen darstellten, die allein Gegenstand eines Organstreits sein könnten. Er sei auch unbegründet, weil ein Mitglied der Bundesregierung die Öffentlichkeit über ihre Vorstellungen in einer wichtigen politischen Frage informieren dürfe und außerdem zur Beteiligung am Wahlkampf berechtigt sei. Wie wird das BVerfG über den Antrag entscheiden?

A. Der Antrag beim BVerfG müsste zulässig sein.

I. Beim BVerfG sind Anträge nur in bestimmten Verfahren zulässig; diese sind grundsätzlich in Art. 93 GG und näher im BVerfGG geregelt. Im vorliegenden Fall könnte es sich um einen Antrag im Organstreitverfahren nach Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 - 67 BVerfGG handeln. Danach entscheidet das BVerfG „ über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind.“

II. Beim Organstreitverfahren können grundsätzlich nur die in § 63 BVerfGG Aufgeführten Beteiligte am Verfahren sein.

1. S ist als Mitglied und damit als Teil des Organs Bundesregierung, das im GG mit eigenen Rechten ausgestattet ist (Art. 64, 65), beteiligtenfähig.

2. Politische Parteien sind in § 63 BVerfG nicht auf geführt.

a) Sie haben aber durch Art. 21 GG einen verfassungsrechtlichen Status erhalten, der darauf beruht, dass sie eine politische Vorformung des Volkswillens bewirken und ihre Zielsetzung auf die Ausübung von Macht im Staat gerichtet ist. In diesem Bereich erfüllen die Parteien öffentliche Aufgaben und haben eine Rechtsstellung, die der von Staatsorganen ähnlich ist. Daraus hat das BVerfG die prozessuale Konsequenz gezogen, dass einer Partei das Organstreitverfahren zur Verfügung steht, wenn sie sich gegen die Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status durch ein Verfassungsorgan wendet und „um Rechte streitet, die sich aus ihrem besonderen in Art. 21 GG umschriebenen, verfassungsrechtlichen Status ergeben“ (BVerfGE 73, 1, 27; 84, 290, 299 und 304, 317/8). Zum vorliegenden Fall BVerfG [22] Der Antragstellerin steht zur Verfolgung ihres Anliegens der Organstreit gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG offen. Sie verteidigt ihr Recht auf unbeeinträchtigte Teilnahme an den Thüringischen Landtagswahlen gegenüber der S als Bundesorgan.

b) In solchem Fall ist die Partei auch beteiligtenfähig. Mit § 63 BVerfG lässt sich das dadurch vereinbaren, dass in verfassungskonformer Auslegung angenommen wird, dass § 63 nur die Beteiligtenfähigkeit der obersten Bundesorgane und ihrer Teile abschließend regelt, nicht jedoch die der „anderen Beteiligten“ i. S. des Art 93 I Nr 1. Somit sind sowohl S als auch die NPD (künftig: „N“) beteiligtenfähig.

III. Welche Anforderungen an den Streitgegenstand zu stellen sind, ergibt sich aus dem oben I. zitierten Text des Art. 93 I Nr. 1 GG. Es muss eine Streitigkeit über den Umfang der Rechte oder Pflichten eines Beteiligten vorliegen, die durch Auslegung des GG zu entscheiden ist. Im vorliegenden Fall ist streitig, ob S zu der von N beanstandeten Äußerung berechtigt war, was durch Auslegung des Art. 21 I GG zu entscheiden ist.

IV. N müsste die nach § 64 I BVerfG erforderliche Antragsbefugnis haben. Voraussetzung hierfür ist das Geltendmachen einer Verletzung oder Gefährdung der vom GG übertragenen Rechte oder Pflichten des Antragstellers durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners.

1. Maßnahme der S ist die Äußerung in dem Zeitungsinterview.

2. Sie müsste für die Rechtsstellung der N nachteilig sein. Hierfür ist eine Regelung im Sinne einer Rechtsnorm oder eines VA nicht erforderlich. Die Maßnahme muss aber rechtserheblich sein. BVerfG [24] Die angegriffene Aussage der Antragsgegnerin stellt eine rechtserhebliche Maßnahme im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG dar (vgl. BVerfGE 118, 277, 317 m. w. N.). Es erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Antragsgegnerin dadurch das Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit bei Wahlen verletzt hat (vgl. BVerfGE 40, 287, 293; 44, 125, 146; 63, 230, 243…).

V. Da der Antrag auch form- und fristgerecht erhoben wurde, ist er zulässig.

B. Ein Antrag im Organstreitverfahren ist nach § 67 Satz 1 BVerfGG begründet, wenn die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt. Im vorliegenden Fall könnte die Äußerung der S gegen ein der N zustehendes Recht aus Art. 21 I 1 GG verstoßen.

I. Art. 21 I GG ist im Zusammenhang mit den grundlegenden Vorschriften des GG über das Demokratieprinzip und über die Bildung von Staatsorganen durch Wahlen zu verstehen.

1. BVerfG [27, 28] In der freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und wird von ihm in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Wahlen vermögen demokratische Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG nur zu verleihen, wenn sie frei sind. Dies erfordert nicht nur, dass der Akt der Stimmabgabe frei von Zwang und unzulässigem Druck bleibt, wie es Art. 38 Abs. 1 GG gebietet, sondern auch, dass die Wähler ihr Urteil in einem freien, offenen Prozess der Meinungsbildung gewinnen und fällen können (vgl. BVerfGE 20, 56, 97; 44, 125, 139). Im Wahlakt muss sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen hin vollziehen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin (vgl. BVerfGE 44, 125, 140). In einem freiheitlichen Staat, in dem der Mehrheitswille in den Grenzen der Rechtsstaatlichkeit entscheidet, müssen Minderheitsgruppen die Möglichkeit haben, zur Mehrheit zu werden. Demokratische Gleichheit fordert, dass der jeweils herrschenden Mehrheit und der oppositionellen Minderheit bei jeder Wahl aufs Neue grundsätzlich die gleichen Chancen im Wettbewerb um die Wählerstimmen offengehalten werden. Die Gewährleistung gleicher Chancen im Wettbewerb um Wählerstimmen ist ein unabdingbares Element des vom Grundgesetz gewollten freien und offenen Prozesses der Meinungs- und Willensbildung des Volkes (vgl. BVerfGE 44, 125, 145). - Da im vorliegenden Fall eine Landtagswahl bevorstand, ergeben sich die genannten Anforderungen genaugenommen aus Art. 28 I 1, 20 I, II GG.

2. [29, 30] Dieser Prozess freier und offener Meinungs- und Willensbildung setzt in der modernen parlamentarischen Demokratie die Existenz politischer Parteien voraus (vgl. BVerfGE 44, 125, 145). Der hervorragenden Bedeutung, die in diesem Prozess den politischen Parteien zukommt, hat das Grundgesetz dadurch Ausdruck verliehen, dass es ihnen in Art. 21 GG einen verfassungsrechtlichen Status zuerkannt hat. Er gewährleistet nicht nur ihre freie Gründung und Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes, sondern sichert diese Mitwirkung auch durch Regeln, die ihnen gleiche Rechte und gleiche Chancen gewähren (BVerfGE 44, 125, 139). Damit die Wahlentscheidung in voller Freiheit gefällt werden kann, ist es unerlässlich, dass die Parteien, soweit irgend möglich, gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Von dieser Einsicht her empfängt der Verfassungsgrundsatz der gleichen Wettbewerbschancen der politischen Parteien das ihm eigene Gepräge. Die Formalisierung des Gleichheitssatzes im Bereich der politischen Willensbildung des Volkes hat zur Folge, dass auch der Verfassungssatz von der Chancengleichheit der politischen Parteien in dem gleichen Sinne formal verstanden werden muss (vgl. BVerfGE 24, 300, 340 f.; 44, 125, 146). Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit im Wettbewerb gilt nicht nur für den Wahlvorgang selbst, sondern auch für die Wahlvorbereitung (vgl. BVerfGE 44, 125, 146).

II. Im vorliegenden Fall könnte das Recht auf Chancengleichheit dadurch verletzt sein, dass sich ein Mitglied des Verfassungsorgans Bundesregierung parteiergreifend und damit unzulässig zum Nachteil einer Partei in den Wahlkampf eingemischt hat.

1. BVerfG [31] Das Recht politischer Parteien, gleichberechtigt am Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes teilzunehmen, wird verletzt, wenn Staatsorgane als solche parteiergreifend zugunsten oder zulasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern in den Wahlkampf einwirken (vgl. BVerfGE 44, 125, 141, 146; NJW 2014, 1156 Rn. 25).

a) Eine solche Einwirkung verstößt gegen das Gebot der Neutralität des Staates im Wahlkampf und verletzt die Integrität der Willensbildung des Volkes durch Wahlen und Abstimmungen (vgl. BVerfGE 44, 125, 144). [33] Danach ist es den Staatsorganen in amtlicher Funktion verwehrt, durch besondere Maßnahmen auf die Willensbildung des Volkes bei Wahlen und in ihrem Vorfeld einzuwirken, um dadurch Herrschaftsmacht in Staatsorganen zu erhalten oder zu verändern. Staatsorgane haben als solche allen zu dienen und sich im Wahlkampf neutral zu verhalten (vgl. BVerfGE 44, 125, 143 f.).

b) Allerdings hat das BVerfG im Urteil NVwZ 2014, 1156 dem Bundespräsidenten zugebilligt, in einer Diskussion mit Schülern unter Hinweis auf die NPD zu äußern: „ Wir brauchen Bürger, die auf die Straße gehen und den Spinnern ihre Grenzen aufweisen.“ Nunmehr entscheidet es, dass die dort aufgestellten Grundsätze auf die Bundesregierung und ihre Mitglieder nicht übertragbar sind, und hat das wie folgt begründet:

aa) [36] Der Bundespräsident repräsentiert Staat und Volk der Bundesrepublik Deutschland nach außen und innen und soll die Einheit des Staates verkörpern (…). Wie er seine Repräsentations- und Integrationsaufgaben mit Leben erfüllt, entscheidet der Amtsinhaber grundsätzlich selbst (…). Den verfassungsrechtlichen Erwartungen an das Amt des Bundespräsidenten und der gefestigten Verfassungstradition entspricht es zwar, dass der Bundespräsident eine gewisse Distanz zu den Zielen und Aktivitäten von politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen wahrt (….). Daraus allein folgen indes keine justiziablen Vorgaben für seine Amtsausübung (…).

[37] Im Unterschied zur Bundesregierung und deren Mitgliedern steht der Bundespräsident weder mit den politischen Parteien in direktem Wettbewerb um die Gewinnung politischen Einflusses noch stehen ihm in vergleichbarem Umfang Mittel zur Verfügung, die es ermöglichten, durch eine ausgreifende Informationspolitik auf die Meinungs- und Willensbildung des Volkes einzuwirken (…). Der Bundespräsident kann vor diesem Hintergrund weitgehend frei darüber entscheiden, bei welcher Gelegenheit und in welcher Form er sich äußert. Namentlich sind Äußerungen des Bundespräsidenten nicht zu beanstanden, solange sie erkennbar einem Gemeinwohlziel verpflichtet und nicht auf die Ausgrenzung oder Begünstigung einer Partei um ihrer selbst willen angelegt sind (…). Nicht mehr mit seiner Repräsentations- und Integrationsaufgabe in Einklang stehen Äußerungen, die keinen Beitrag zur sachlichen Auseinandersetzung leisten, sondern ausgrenzend wirken, wie dies grundsätzlich bei beleidigenden, insbesondere solchen Äußerungen der Fall ist, die in anderen Zusammenhängen als „Schmähkritik“ qualifiziert werden (…).

bb) [39] Demgegenüber ist die Bundesregierung das oberste Organ der vollziehenden Gewalt (vgl. BVerfGE 9, 268, 282). Gemeinsam mit den anderen dazu berufenen Verfassungsorganen obliegt ihr die Aufgabe der Staatsleitung (…). [41] Bei der Wahrnehmung der ihr übertragenen Aufgaben ist die Bundesregierung an die Grundrechte sowie an Gesetz und Recht gebunden (Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG). [43] Infolgedessen hat die Bundesregierung die Pflicht, das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG und das daraus folgende Neutralitätsgebot zu beachten.

c) [45] Die der Bundesregierung verliehene Autorität und die Verfügung über staatliche Ressourcen in personeller, technischer, medialer und finanzieller Hinsicht ermöglichen ihr nachhaltige Einwirkungen auf die politische Willensbildung des Volkes und beinhalten das Risiko erheblicher Wettbewerbsverzerrungen zwischen den politischen Parteien. Daher ist sie zur Beachtung des Neutralitätsgebotes verpflichtet. Sie hat jede über das bloße Regierungshandeln hinausgehende Maßnahme, die auf die Willensbildung des Volkes einwirkt und in parteiergreifender Weise auf den Wettbewerb zwischen den politischen Parteien Einfluss nimmt, zu unterlassen.

Zwar darf die Bundesregierung Öffentlichkeitsarbeit betreiben. [46] Die zulässige Öffentlichkeitsarbeit endet aber dort, wo die Wahlwerbung beginnt (vgl. BVerfGE 63, 230, 243). Insoweit hat das BVerfG Kriterien entwickelt, mit denen verhindert werden soll, dass unter Einsatz öffentlicher Mittel Regierungsparteien unterstützt und Oppositionsparteien bekämpft werden (vgl. BVerfGE 44, 125, 148 ff.; 63, 230, 243 f.).

d) [49] Für das einzelne Mitglied der Bundesregierung kann nichts anderes gelten als für die Bundesregierung als Ganzes. Bei seiner Mitwirkung an der Wahrnehmung der Aufgaben der Bundesregierung nach Maßgabe des Art. 65 GG ist es ebenfalls an die Grundrechte sowie an Gesetz und Recht gebunden (Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG). Soweit ein Mitglied der Bundesregierung im Rahmen seiner Ressortzuständigkeit ihm übertragene Regierungsaufgaben wahrnimmt, ist es daher in gleicher Weise wie die Bundesregierung als Ganzes zur Beachtung des Grundsatzes der Chancengleichheit politischer Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verpflichtet.

2. Eine Verletzung der unter 1. dargelegten Grundsätze hat zur Voraussetzung, dass ein Mitglied der Bundesregierung in dieser Funktion handelt. Das dürfte auf den ersten Teil des Interviews der S zutreffen; hierbei hat S aber keine Erklärungen zum Nachteil der N abgegeben. Nachteilige Erklärungen enthielt der - gegenüber dem ersten Teil unterscheidbare - zweite Teil des Interviews. Bei diesem hat S aber nicht als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gehandelt. Themen waren ihre Erfahrungen mit der NPD im Landtag von Mecklenburg-Pommern und ihr Auftreten im Thüringer Wahlkampf. Diese Themen fielen nicht unter den Kompetenzbereich ihres Ministeriums. Auch sonst bestand mit diesem kein Zusammenhang. BVerfG [74] Zwar wurde im Begleittext des Interviews sowohl auf deren Amt als Bundesministerin als auch auf ihre Parteizugehörigkeit hingewiesen. Daraus kann entgegen der Ansicht der Antragstellerin aber nicht geschlossen werden, dass das Interview als einheitliches Statement der Bundesfamilienministerin anzusehen ist.

Somit hat S in ihrer Funktion als Bundesministerin die Rechte der N nicht verletzt.

III. S könnte durch ein Verhalten außerhalb ihrer Funktion als Ministerin gegen Art. 21 I GG verstoßen haben.

1. Das ergibt sich noch nicht daraus, dass sie überhaupt parteipolitisch tätig geworden ist. Es könnte aber eine Folge davon sein, dass auch bei parteipolitischer Betätigung einer Bundesministerin Beschränkungen gelten.

a) BVerfG [51, 52] Im Parteienstaat des Grundgesetzes entspricht es der Ratio von Art. 21 GG, dass die Inhaber eines Regierungsamtes einer Partei angehören und in dieser auch Führungsverantwortung wahrnehmen. Die bloße Übernahme des Regierungsamtes soll insoweit gerade nicht dazu führen, dass dem Amtsinhaber die Möglichkeit parteipolitischen Engagements nicht mehr offensteht (…). Würde die Übernahme eines Regierungsamtes dazu führen, dass der Amtsinhaber durch die Bindung an das Neutralitätsgebot gehindert wäre, am politischen Wettbewerb teilzunehmen, würde dies zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung der die Regierung tragenden Parteien führen. Parteien, die als Sieger aus einer Wahlauseinandersetzung hervorgegangen sind, würden durch die fehlende Möglichkeit, auf die Mitarbeit der mit Regierungsämtern betrauten Parteimitglieder zurückzugreifen, in ihrem Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb beschränkt. Mit der parteienstaatlichen Konzeption des Grundgesetzes, wie sie in Art. 21 GG Ausdruck gefunden hat, ist dies nicht zu vereinbaren.

b) Jedoch gilt auch in diesen Fällen nach BVerfG [53] Soweit der Inhaber eines Regierungsamtes am politischen Meinungskampf teilnimmt, muss sichergestellt sein, dass ein Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten unterbleibt. Nimmt das Regierungsmitglied für sein Handeln die Autorität des Amtes oder die damit verbundenen Ressourcen in spezifischer Weise in Anspruch, ist es dem Neutralitätsgebot unterworfen.

2. Also liegt eine Verletzung des Art. 21 I GG bei Teilnahme am politischen Meinungskampf vor, wenn 1.) ein Mitglied der Bundesregierung für ihr Handeln die Autorität des Amtes oder andere spezifische Ressourcen in Anspruch nimmt und 2.) gegen das Neutralitätsgebot verstößt. Normalerweise wären diese Voraussetzungen in der vorstehend aufgezeigten Reihenfolge zu prüfen. Das BVerfG [64 ff.] - und dem wird hier gefolgt - prüft sie in umgekehrter Reihenfolge, wofür spricht, dass die zweite Voraussetzung leicht zu bejahen ist, während das bei der ersten eher fraglich ist.

a) S könnte gegen das Neutralitätsgebot verstoßen haben. BVerfG [65, 66] Die angegriffene Erklärung der Antragsgegnerin beinhaltet einen gegen die Antragstellerin gerichteten Wahlaufruf… Mit der Aussage, primäres Ziel bei der Wahl im September müsse es sein, den Einzug der ausdrücklich benannten Antragstellerin in den Thüringer Landtag zu verhindern, fordert die Antragsgegnerin zu deren Nichtwahl auf… Insoweit handelt es sich um ein parteiergreifendes Einwirken zulasten der Antragstellerin in den Landtagswahlkampf in Thüringen.

b) Hierfür müsste S die Autorität des Amtes oder andere spezifische Ressourcen in Anspruch genommen haben.

aa) Wann das der Fall ist, wird vom BVerfG differenzierend beurteilt [57-61] und im Streitfall uneingeschränkt überprüft [62, 63].

(1) Ein spezifischer Rückgriff auf die mit seinem Regierungsamt verbundene Autorität liegt regelmäßig vor, wenn ein Bundesminister bei einer Äußerung ausdrücklich auf sein Ministeramt Bezug nimmt oder die Äußerung ausschließlich Maßnahmen oder Vorhaben des von ihm geführten Ministeriums zum Gegenstand hat. Amtsautorität wird ferner in Anspruch genommen, wenn der Amtsinhaber sich durch amtliche Verlautbarungen etwa in Form offizieller Publikationen, Pressemitteilungen oder auf offiziellen Internetseiten seines Geschäftsbereichs erklärt. Auch aus äußeren Umständen, wie der Verwendung von Staatssymbolen und Hoheitszeichen oder der Nutzung der Amtsräume, kann sich ein spezifischer Amtsbezug ergeben. Gleiches gilt für den äußerungsbezogenen Einsatz sonstiger Sach- oder Finanzmittel, die einem Regierungsmitglied aufgrund seines Amtes zur Verfügung stehen (vgl. BVerfGE 44, 125, 143). Schließlich findet eine Inanspruchnahme der Autorität des Amtes statt, wenn ein Bundesminister sich im Rahmen einer Veranstaltung äußert, die von der Bundesregierung ausschließlich oder teilweise verantwortet wird, oder wenn die Teilnahme eines Bundesministers an einer Veranstaltung ausschließlich aufgrund seines Regierungsamtes erfolgt.

(2) Demgegenüber ist eine schlichte Beteiligung am politischen Wettbewerb anzunehmen, wenn ein Regierungsmitglied im parteipolitischen Kontext agiert. Äußerungen auf Parteitagen oder vergleichbaren Parteiveranstaltungen wirken regelmäßig nicht in einer Weise auf die Willensbildung des Volkes ein, die das Recht politischer Parteien auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb tangiert, da die handelnden Personen primär als Parteipolitiker wahrgenommen werden.

(3) Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses (Talkrunden, Diskussionsforen, Interviews) bedürfen differenzierter Betrachtung. Der Inhaber eines Regierungsamtes kann hier sowohl als Regierungsmitglied als auch als Parteipolitiker oder Privatperson angesprochen sein. Häufig dienen derartige Veranstaltungen insbesondere bei der Beteiligung einer Mehrzahl von Personen dem themenbezogenen Austausch politischer Argumente und Positionen und sind daher vorrangig dem politischen Meinungskampf zuzuordnen. Dass dabei die Amtsbezeichnung verwendet wird, ist noch kein Indiz für die Inanspruchnahme von Amtsautorität, weil staatliche Funktionsträger ihre Amtsbezeichnung auch in außerdienstlichen Zusammenhängen führen dürfen.

bb) Danach ist das Zeitungsinterview der S zu beurteilen [70-78].

(1) Dass die Antragsgegnerin die beanstandete Äußerung unter Inanspruchnahme staatlicher Autorität oder Ressourcen ihres Amtes gemacht hat, lässt sich den äußeren Umständen, unter denen das Interview mit der Thüringischen Landeszeitung geführt wurde, nicht entnehmen. Insbesondere ergibt sich dies nicht aus der Tatsache, dass die Antragsgegnerin in Wahrnehmung ihres Amtes als Bundesministerin an der Eröffnung der Sommertagung des Landesprogramms für Demokratie, Weltoffenheit und Toleranz und der in diesem Rahmen stattfindenden Verleihung des Thüringer Demokratiepreises am 23. Juni 2014 in Weimar teilgenommen hat. Die Eröffnung der Tagung und das Interview der Antragsgegnerin mit der Thüringischen Landeszeitung stellen zwei unterschiedliche Sachverhalte dar, die getrennt voneinander zu beurteilen sind. Der bloße örtliche und zeitliche Zusammenhang führt nicht dazu, dass das Handeln in amtlicher Funktion bei der Veranstaltung des Freistaats Thüringen auf das am Rande geführte Interview ausstrahlt… Auch die übrigen äußeren Umstände führen zu keinem anderen Ergebnis. Weder hat die Antragsgegnerin bei der Führung des Interviews auf die Verwendung von Staatssymbolen oder Hoheitszeichen zurückgegriffen noch ist ein äußerungsbezogener Einsatz von Sach- oder Finanzmitteln feststellbar, die der Antragsgegnerin aufgrund ihres Regierungsamtes zur Verfügung stehen.

(2) Andererseits hat S nicht in einem eindeutigen parteipolitischen Zusammenhang gehandelt.

(3) Dem Interview selbst kann nicht entnommen werden, dass die streitbefangene Äußerung der Antragsgegnerin unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität ihres Amtes erfolgte. Im Begleittext des Interviews wird sowohl auf deren Amt als Bundesministerin als auch auf ihre Parteizugehörigkeit hingewiesen. Daraus kann entgegen der Ansicht der Antragstellerin nicht geschlossen werden, dass das Interview als einheitliches Statement der Bundesfamilienministerin anzusehen ist.

Somit ist die angegriffene Äußerung dem politischen Meinungskampf zuzuordnen. Dabei hat S nicht in spezifischer Weise auf die mit ihrem Regierungsamt verbundene Autorität zurückgegriffen und war daher auch nicht an die Beachtung des aus dem Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit folgenden Neutralitätsgebots gebunden.

3. S hat folglich auch durch ein Verhalten außerhalb ihrer amtlichen Funktion als Ministerin nicht gegen Art. 21 I GG verstoßen

IV. Ein Verstoß gegen Art. 21 I GG liegt nicht vor. Der Antrag der N im Organstreitverfahren ist unbegründet und wird zurückgewiesen.


Zusammenfassung