Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Informationelle Selbstbestimmung, Art. 2 I, 1 I GG. ► Unterlassungsklage und Unterlassungsanspruch bei nicht gerechtfertigtem Eingriff. ► Eingriff durch anlasslose Videoüberwachung der Polizei. ► Rechtfertigung der Videoüberwachung durch § 15 a PolG NRW. ► Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern für die Gefahrenabwehr durch Verhütung von Straftaten, für die Gefahrenvorsorge, für die Strafverfolgung und die Strafverfolgungsvorsorge, Art. 70 I, 74 I Nr. 1 (gerichtliches Verfahren), 72 I GG; Verhältnismäßigkeit der Videoüberwachung
BVerwG Urteil vom 25. 1. 2012 (6 C 9.11) BVerwGE 141, 329
Fall (Videoüberwachung der Reeperbahn)
In der in Nordrhein-Westfalen gelegenen Großstadt S gibt es die Reeperstraße, die teilweise unübersichtlich ist und auf der über längere Zeit überdurchschnittlich viele, allerdings meist kleinere Straftaten begangen wurden; sie gilt als Kriminalitätsbrennpunkt. Zur Bekämpfung der Straftaten hat die zum Polizeipräsidium gehörende Polizeieinsatzzentrale (PEZ) auf der Reeperstraße - deutlich sichtbar - Videokameras aufgestellt. Diese können um 360° geschwenkt und variabel geneigt werden, verfügen über eine Zoomfunktion und werden in der PEZ gesteuert. Dort können die Bilder auf eine Monitorwand übertragen werden, die aus 12 Bildschirmen für die einzelnen Kamerastandorte und einem größeren, mittig angeordneten Bildschirm besteht, auf dem jeweils ein Kamerabild als Großbild aufgeschaltet werden kann. Die Videobilder wurden bisher durch Mitarbeiter der PEZ täglich 24 Stunden lang überwacht und können gespeichert werden.
Frau F ist Mieterin im Hause Reeperstraße 15a, zweites Obergeschoss. Eine der Kameras wurde gegenüber diesem Gebäude an einem Pfahl auf dem Mittelstreifen der Reeperstraße in ungefähr 4 m Höhe befestigt und kann in ihrem Schwenkbereich auch die von F bewohnten Räume erfassen. F hat sich an das Polizeipräsidium gewandt und verlangt, Videoaufnahmen der Fenster ihrer Wohnung zu unterlassen. In einem ablehnenden Schreiben hat die Polizei erklärt, zum Schutz privater Bereiche gebe es die Möglichkeit, die Bilder zu verpixeln. Vor allem verweist sie darauf, dass die Kriminalität derzeit nachgelassen hat, so dass die anlasslose Dauerüberwachung eingestellt werden konnte. Die Kameras sollen nur dann wieder in Betrieb genommen werden, wenn wieder mit mehr Straftaten zu rechnen ist. Durch diese Entwicklung habe sich das Anliegen der F erledigt.
F hat sich davon überzeugt, dass die Kameras abgeschaltet und nach unten gerichtet wurden. Sie hält aber daran fest, der Polizei Videoaufnahmen, die ihre Wohnung erfassen, untersagen zu lassen. Die Aufnahmen seien ein Eingriff in ihre Grundrechte. Eine bundesrechtliche Rechtfertigung gebe es dafür nicht. Dem Landesgesetzgeber fehle es für eine Regelung, die sich gegen Straftaten richte, an der Gesetzgebungszuständigkeit. Hätte eine verwaltungsgerichtliche Klage der F Aussicht auf Erfolg ?
A. Eine verwaltungsgerichtliche Klage müsste zulässig sein.
I. Der Verwaltungsrechtsweg könnte nach § 40 I VwGO eröffnet sein.
1. Die Klage der F führt zu einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit. F wendet sich gegen Maßnahmen der Polizei, die nur auf öffentlich-rechtliche Rechtsgrundlage gestützt werden können. Streitentscheidende Norm kann insbesondere § 15 a PolG NRW sein.
2. Eine abdrängende Sonderzuweisung nach § 23 I 1 EGGVG an die ordentlichen Gerichte greift nicht ein. Hierfür müsste es sich um die Maßnahme einer Justizbehörde auf dem Gebiet der Strafrechtspflege handeln. Die offene Videoüberwachung soll Straftäter abschrecken und der Polizei ein rechtzeitiges Eingreifen ermöglichen, dient also der präventiven Verhütung von Straftaten. In diesem Bereich wird die Polizei nicht als Justizbehörde, sondern als Verwaltungsbehörde tätig. Soweit die Videoüberwachung - worauf noch einzugehen ist - auch der Strafverfolgung dient, liegt eine sog. doppelfunktionale Maßnahme vor. Bei ihr kann der Rechtsweg nach dem Schwerpunkt der Maßnahme bestimmt werden (BVerwGE 47, 255, 265). Die offene Videoüberwachung dient nach ihrem Schwerpunkt der Verhütung von Straftaten (Siegel NVwZ 2012, 740 m. Nachw. Fn. 40), was zur Bejahung des Verwaltungsrechtswegs führt. Nach OVG Münster NWVBl 2012, 364 (LS 1) ist der Verwaltungsrechtsweg bereits dann eröffnet, wenn zumindest auch eine präventivpolizeiliche Ermächtigung in Betracht kommt. Das ist bei der hier angegriffenen Videoüberwachung der Fall, weil als Ermächtigung § 15 a PolG NRW eine mögliche Ermächtigungsgrundlage ist. Somit wird § 40 I VwGO nicht durch § 23 EGGVG verdrängt.
II. Es ist die statthafte Klageart zu bestimmen.
1. F wendet sich gegen den Betrieb der Videokamera. Dieser zielt nicht auf die Herbeiführung von Rechtsfolgen, enthält also keine Regelung i. S. des § 35, 1 VwVfG. Folglich wendet sich F nicht gegen einen Verwaltungsakt, die zu erhebende Klage ist keine Anfechtungsklage i. S. des § 42 I VwGO.
2. F wendet sich vielmehr gegen ein faktisches Handeln (Realhandeln, schlichtes Verwaltungshandeln) der Polizei. Die hiergegen gerichtete Klage ist eine (allgemeine) Leistungsklage, im vorliegenden Fall in der Form der Unterlassungsklage. Im Originalfall hatte F beantragt (BVerwG [10]), die Beklagte zu verurteilen, die Videoüberwachung des öffentlichen Straßenraums durch die auf dem Mittelstreifen der Reeperbahn in Höhe des Hauses ... angebrachte Videokamera zu unterlassen. Dieser Antrag dürfte aber zu weit gehen. Entsprechend dem im Sachverhalt wiedergegebenen Begehren der F hat diese den Antrag zu stellen, der Polizei Videoaufnahmen zu untersagen, die ihre Wohnung erfassen.
III. Auf die allgemeine Leistungsklage ist, jedenfalls wenn sie auf Abwehr eines Verwaltungshandelns gerichtet ist, § 42 II VwGO analog anzuwenden. F kann geltend machen, durch den Betrieb der Kamera vor ihrer Wohnung in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG) verletzt zu werden. Ihr steht die Klagebefugnis zu.
IV. Eine Klage, für die kein Rechtsschutzinteresse besteht, ist unzulässig. Das Rechtsschutzinteresse der F könnte dadurch weggefallen sein, dass sich ihr Unterlassungsbegehren infolge der Abschaltung der Kamera erledigt hat.
1. BVerwG [18]: Die Hauptsache des Rechtsstreits hat sich objektiv erledigt, wenn der Kläger infolge eines nachträglich eingetretenen Ereignisses sein Klagebegehren nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg weiterverfolgen kann, seinem Klagebegehren vielmehr rechtlich oder tatsächlich die Grundlage entzogen worden ist. Es muss eine Lage eingetreten sein, die eine Entscheidung über seinen Klageanspruch erübrigt oder ausschließt. Das ist der Fall, wenn das Rechtsschutzziel in dem Prozess nicht mehr zu erlangen ist, weil es entweder außerhalb des Prozesses bereits erreicht ist oder überhaupt nicht mehr erreicht werden kann (…).
2. BVerwG [19]: Die Klägerin hat ihr Rechtsschutzziel - was hier allein in Betracht kommt - nicht bereits erreicht. Das wäre nur der Fall, wenn aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen die beanstandete Videoüberwachung des öffentlichen Straßenraums durch die inmitten stehende Videokamera ausgeschlossen wäre. Tatsächlich wäre dies der Fall, wenn die Videokamera abgebaut würde; rechtlich wäre dies der Fall, wenn die Beklagte sich gegenüber der Klägerin in rechtlich verbindlicher Weise verpflichtet hätte, die Videokamera nicht mehr für die streitige Maßnahme…einzusetzen. Die bloße Mitteilung über die rein faktische Abschaltung der Videokamera genügt hingegen nicht… Jedenfalls solange eine Wiederholungsgefahr…noch gegeben ist, erledigt sich die Unterlassungsklage nicht in der Hauptsache. Die Klage der F richtet sich also nach wie vor gegen eine auch anlasslos vorgenommene Videobeobachtung ihrer Wohnung.
BVerwG [15]: Die Klage ist…zulässig. Das mit ihr verfolgte Unterlassungsbegehren hat sich nicht in der Hauptsache mit der Folge erledigt, dass das Rechtsschutzinteresse der Klägerin entfallen wäre.
V. Zu richten ist die Klage gegen das Land NRW als juristische Person (§ 61 Nr. 1 VwGO), deren Behörde Polizeipräsidium (§§ 1, 2 I Nr. 1 POG) die Videokamera aufgestellt hat und über sie verfügt.
B. Begründet ist eine auf Unterlassung gerichtete Leistungsklage, wenn der F ein Unterlassungsanspruch gegen das durch die Polizei handelnde Land zusteht.
I. Für einen Unterlassungsanspruch bedarf es - ebenso wie bei § 1004 I 2 BGB - der Gefahr weiterer beeinträchtigender Maßnahmen, also einer Wiederholungsgefahr. Üblicherweise wird diese Voraussetzung erst nach der Bejahung eines rechtswidrigen Eingriffs geprüft. Hier soll aber dem BVerwG gefolgt werden, das diese Voraussetzung als erste prüft. BVerwG [21]: Die für den Unterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr (…) liegt vor. Dass weitere Eingriffe drohen, kann ohne weiteres angenommen werden, wenn bereits eine Beeinträchtigung stattgefunden hat. Im Regelfall wird die Behörde ihre Maßnahme für rechtmäßig halten und keinen Anlass sehen, von ihr Abstand zu nehmen. Sie wird sie in der Zukunft aufrechterhalten und in diesem Sinne wiederholen wollen (…). Im vorliegenden Fall hat die Beklagte die anlasslose offene Überwachung der Reeperbahn und insbesondere des Abschnittes vor der Wohnung der Klägerin nicht etwa deshalb aufgegeben, weil sie sich deren Rechtsstandpunkt zu eigen gemacht hätte, sondern weil sie den damit verbundenen Aufwand nicht mehr für gerechtfertigt gehalten hat. Aus der Sicht der Klägerin kann somit nicht ausgeschlossen werden, dass die Beklagte ihre Rechtsansicht einmal wieder ändern könnte und sie dann ohne gerichtliche Entscheidung dem rechtlichen Eingriff erneut ausgesetzt wäre.
II. Erforderlich ist eine Rechtsgrundlage für den Unterlassungsanspruch der F. In Betracht kommt - analog dem (Folgen-)Beseitigungsanspruch - ein verwaltungsrechtlicher Unterlassungsanspruch; dessen wesentliche Voraussetzung wäre ein nicht gerechtfertigter Eingriff in ein (Grund-)Recht der F. Anstelle dessen könnte der Anspruch unmittelbar aus der Abwehrfunktion eines Grundrechts hergeleitet werden. Das BVerwG stellt unmittelbar auf Grundrechte ab. [22]: Als Rechtsgrundlage für ihren Unterlassungsanspruch kommen die Grundrechte der Klägerin aus Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG in Betracht. Die Grundrechte schützen den Bürger vor rechtswidrigen Beeinträchtigungen jeder Art, auch solchen durch schlichtes Verwaltungshandeln (Verwaltungsrealakt). Infolgedessen kann der Bürger, wenn ihm - wie dies hier von der Klägerin geltend gemacht wird - eine derartige Rechtsverletzung droht, unmittelbar gestützt auf das jeweils berührte Grundrecht Unterlassung verlangen… (BVerwGE 44, 235, 243; NJW 1985, 1481 und BVerwGE 71, 183, 189, 199).
III. Für eine Verletzung des Grundrechts der F auf informationelle Selbstbestimmung müsste ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts vorliegen.
1. BVerwG [23]: Den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung berührt auch die beobachtende und observierende Tätigkeit der Polizei (BVerfGE 115, 320, 342, Rasterfahndung). Das gilt nicht nur für die Anfertigung von Bildaufnahmen im Straßenverkehr (BVerfGE 120, 378, 397 ff., KFZ-Kennzeichen-Erfassung; BVerfG DVBl 2009, 1237, Verkehrsüberwachung…), sondern auch für eine offene Videoüberwachung des öffentlichen Raums (BVerfG DVBl 2007, 497, Videoüberwachung).
Im vorliegenden Fall kann durch die installierte Kamera die Fensterfront der Wohnung der F erfasst werden, die bereits zur Privatsphäre gehört. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Kamera durch die Wohnungsfenster hindurch auch in das Innere der Wohnung hinein blickt, was noch stärker zum geschützten Privatbereich gehört. Die damit erfassten Informationen sind personenbezogen und unterliegen dem Schutz der informationellen Selbstbestimmung, so dass der vorliegende Vorgang unter den Schutzbereich dieses Grundrechts fällt.
2. Bei der Frage, welche Maßnahmen Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung sind,ist zunächst von der hier vorliegenden offenen Videoüberwachung auszugehen. Unstreitig dürfte sein, dass die Beobachtung mit anschließender Speicherung ein Eingriff ist. BVerwG [24]: Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung greift die Videoüberwachung jedenfalls insoweit in das Recht der Klägerin auf informationelle Selbstbestimmung ein, als sie mittels Bildaufzeichnung…erfolgt. Ob die Beobachtung ohne Aufzeichnung (von BVerwG [26] als „Kamera-Monitor-Prinzip“ bezeichnet) ein Eingriff ist, wurde vom BVerfG noch nicht entschieden und wird auch vom BVerwG offen gelassen. Nach Siegel NVwZ 2012, 739 und Waldhoff JuS 2013, 95 (jeweils m. Nachw.) ist es inzwischen h. M., dass auch die Videobeobachtung ohne Speicherung ein Eingriff ist. Folglich sind im vorliegenden Fall sowohl die Beobachtung als auch die mögliche Speicherung Eingriffe.
Wenn bereits die offene Videobeobachtung ein Eingriff ist, ist es die verdeckte Videoüberwachung erst recht (Siegel NVwZ 2012, 739). Nach Siegel a. a. O. enthält auch die Scheinvideoüberwachung durch eine Kameraattrappe einen Eingriff.
IV. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.
1. BVerwG [27]: Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wird nicht schrankenlos gewährleistet. Beschränkungen bedürfen aber einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage, die dem verfassungsrechtlichen Gebot der Normenklarheit und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen muss (BVerfGE 65, 1, 44, Volkszählung). Dass das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung in dieser Weise einschränkbar ist, folgt daraus, dass seine wesentliche Grundlage das in Art. 2 I GG geschützte Persönlichkeitsrecht ist und dass dieses unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung steht, die als verfassungsmäßige Rechtsordnung verstanden wird und jede verfassungsmäßige Rechtsnorm umfasst.
2. Eine solche Rechtsnorm, die eine Ermächtigungsgrundlage für die hier möglichen Maßnahmen enthält, könnte sich aus Bundesrecht ergeben.
a) In der StPO ist die Videoüberwachung als Beweismittel in § 100 h (Herstellung von Bildaufnahmen) und in 163 f (längerfristige Observation) geregelt. Nach § 81 b dürfen Lichtbilder einer Person aufgenommen werden. Diese Maßnahmen müssen sich aber gegen einen Beschuldigten richten oder zur Überführung eines Täters vorgenommen werden. Es muss also mindestens der Anfangsverdacht für eine konkrete Straftat vorliegen. Gegen Dritte dürfen sich die Maßnahmen nur richten, wenn diese unvermeidbar mit betroffen werden (§§ 100 h III, 163 f II). Die Videoüberwachung durch die Kameras der Polizei in S wird anlasslos, ohne Vorliegen einer konkreten Straftat vorgenommen. Sie lässt sich deshalb nicht auf Vorschriften der StPO stützen.
b) Nach § 12 a des in NRW noch geltenden (Bundes-)Versammlungsgesetzes darf die Polizei bei öffentlichen Versammlungen Bildaufnahmen von Personen anfertigen, von denen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Bei der hier vorgenommenen anlasslosen Überwachung werden nicht nur Versammlungen erfasst, die Überwachung erfolgt also gerade ohne die in § 12 a VersG genannten Voraussetzungen. § 12 a VersG ist deshalb ebenfalls keine geeignete Ermächtigungsgrundlage. (Aus demselben Grund scheidet auch § 15 PolG NRW aus.)
3. Ermächtigungsgrundlage könnte § 15 a I 1 PolG NRW sein. Danach darf die Polizei zur Verhütung von Straftaten einzelne öffentlich zugängliche Orte, an denen wiederholt Straftaten begangen wurden und deren Beschaffenheit die Begehung von Straftaten begünstigt, mittels Bildübertragung beobachten und die übertragenen Bilder aufzeichnen, solange Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass an diesem Ort weitere Straftaten begangen werden. Nach Satz 2 erfolgt die Videobeobachtung offen.
a) Diese Vorschrift ist keine rechtswirksame Ermächtigungsgrundlage, wenn sie - wie F geltend macht - verfassungswidrig ist.
(1) Um verfassungsmäßig zu sein, müsste dem Land die Gesetzgebungszuständigkeit zu ihrem Erlass zugestanden haben. Nach Art. 70 I GG haben die Länder die grundsätzliche Gesetzgebungszuständigkeit. Diese entfällt aber, wenn der Bund zuständig ist. Unter eines der Sachgebiete der ausschließlichen Bundeskompetenz (Art. 73 GG) fällt die hier vorgenommene Videoüberwachung nicht. Es könnte aber ein Sachgebiet der konkurrierenden Gesetzgebung eingreifen. Dann ist das Land zwar ebenfalls grundsätzlich zuständig. Seine Zuständigkeit ist aber ausgeschlossen, soweit der Bund in verfassungsmäßiger Weise von seiner Kompetenz Gebrauch gemacht hat (Art. 72 I, II GG).
aa) Die Abwehr von Gefahren, die nicht im Zusammenhang mit einer bundesrechtlich geregelten Materie (wie z. B. des Gewerberechts, Art. 74 I Nr. 11 GG) stehen, fällt unter keines der Sachgebiete des Art. 74 I GG. Für das allgemeine Ordnungs- und Polizeirecht mit dem Ziel der Gefahrenabwehr liegt deshalb die Gesetzeskompetenz gemäß Art. 70 I GG ausschließlich beim Land. Ein wichtiger Anwendungsfall der Gefahrenabwehr ist die Verhütung von Straftaten (vgl. § 1 I 2 1. Fall PolG NRW). Diesem Zweck dient § 15 a PolG. BVerwG [30]: Die offen ausgewiesene Beobachtung soll potentielle Straftäter von vornherein von der Begehung einer Straftat abschrecken und diese dadurch verhindern. Zur Abschreckung gehört die Bildaufzeichnung. Sie erhöht die Effektivität der Abschreckung, weil der potentielle Täter damit rechnen muss, dass seine Tat aufgezeichnet wird und die Aufzeichnung nicht nur für seine Identifizierung, sondern auch als Beweismittel in einem Strafverfahren zur Verfügung stehen wird. Die Beobachtung ermöglicht es zudem den damit betrauten Beamten, sich anbahnende Gefahrenlagen, aus denen sich typischerweise Straftaten entwickeln können, rechtzeitig zu erkennen und Beamte vor Ort gezielt einzusetzen.
Dagegen könnte eingewendet werden, vielfach werde es, wenn eine Videobeobachtung durchgeführt wird, an einer konkreten Gefahr fehlen. Der Gesetzgeber ist aber berechtigt, über die Abwehr konkreter Gefahren hinaus auch Maßnahmen der Gefahrenvorsorge vorzusehen. BVerwG [29]: Zur Aufgabe der Gefahrenabwehr gehört auch die Gefahrenvorsorge, bei der bereits im Vorfeld konkreter Gefahren staatliche Aktivitäten entfaltet werden, um die Entstehung von Gefahren zu verhindern bzw. eine wirksame Bekämpfung sich später realisierender, momentan aber noch nicht konkret drohender Gefahren zu ermöglichen. Die Gefahrenvorsorge umfasst auch die Verhütung von noch nicht konkret drohenden Straftaten (Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, § 1 Rn. 10)… Nach der Rspr. des BVerfG liegt die Verhütung von Straftaten in der Gesetzgebungskompetenz der Länder für die Gefahrenabwehr, und zwar auch dann, wenn sie vorbeugend für den Zeitraum vor dem Beginn einer konkreten Straftat vorgesehen wird… (BVerfGE 113, 348, 368).
§ 15 a PolG ist deshalb durch Art. 70 I GG kompetenzmäßig abgedeckt, soweit durch die Videobeobachtung Straftaten verhütet werden sollen.
bb) Die Verfolgung von Straftaten fällt unter das gerichtliche Verfahren i. S. des Art. 74 I Nr. 1 GG und ist vom Bund in der StPO und im GVG geregelt. Die anlasslose offene Videobeobachtung gehört im Wortsinne nicht zum gerichtlichen Verfahren. Für ihre Einordnung wurde der Begriff der Strafverfolgungsvorsorge gefunden. BVerwG [31, 32]: Die Videoüberwachung ist nicht auf die Ziele beschränkt, Straftaten zu verhüten und deren Abwehr vorzubereiten, sondern sie soll daneben auch der Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten dienen. Diesem Ziel dient die Datenspeicherung, also die Bildaufzeichnung einschließlich der…Aufbewahrung. Bei der Strafverfolgungsvorsorge handelt es sich um eine Kategorie des Sicherheitsrechts, die von der Gefahrenvorsorge ebenso wie von der Strafverfolgung zu unterscheiden ist… Sie dient der zukünftigen Durchführung der Strafverfolgung in Bezug auf mögliche spätere bzw. später bekannt werdende Straftaten.
Die Videoüberwachung ist deshalb eine doppelfunktionale Maßnahme: der Straftatenverhütung und der Strafverfolgungsvorsorge (Waldhoff JuS 2013, 96). Dass § 15 a PolG NRW auch der Strafverfolgungsvorsorge dient, entspricht auch der Literatur: Tetsch/Baldarelli, PolG NRW, 2011, § 15 a Anm. 1; Tegtmeyer/Vahle, PolG NRW, 10. Aufl. 2011, § 15 a Rdnr. 9.
BVerwG [33, 34]: Nach der Rspr. des BVerfG ist die Strafverfolgungsvorsorge kompetenzmäßig dem „gerichtlichen Verfahren“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zuzuordnen, nämlich der Sicherung von Beweismitteln für ein künftiges Strafverfahren (BVerfGE 113, 348, 369; vgl. auch Schenke, a.a.O. § 2 Rn. 30)… Zwar fehlt es im Zeitpunkt der Überwachungsmaßnahme, anders als bei der Strafverfolgung im herkömmlichen Sinne, an einer bereits begangenen Straftat. Die Verfolgungsvorsorge erfolgt in zeitlicher Hinsicht präventiv, betrifft aber gegenständlich das repressiv ausgerichtete Strafverfahren. Die Daten werden zu dem Zweck der Verfolgung einer in der Zukunft möglicherweise verwirklichten konkreten Straftat und damit letztlich nur zur möglichen Verwertung in einem künftigen Strafverfahren erhoben…. Es geht - jenseits eines konkreten Anfangsverdachts - um die Beweisbeschaffung zur Verwendung in künftigen Strafverfahren, nicht um eine präventive Datenerhebung zur Verhütung von Straftaten… Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG enthält keine Einschränkungen dahingehend, dass vorsorgende Maßnahmen, die sich auf die Durchführung künftiger Strafverfahren beziehen, von der Zuweisung zur konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nicht erfasst sein sollen (vgl. BVerfGE 103, 21,30). § 15 a PolG fällt somit für den Anwendungsbereich Strafverfolgungsvorsorge unter das gerichtliche Verfahren i. S. des Art. 74 I Nr. 1 GG (vgl. auch Waldhoff JuS 2013, 96). Unmittelbare Folge ist, dass der Bund diese Frage regeln könnte.
cc) Ein Ausschluss des Landes von der Gesetzgebungskompetenz hat aber weiter zur Voraussetzung, dass der Bund für diesen Bereich der Strafverfolgungsvorsorge von seiner konkurrierenden Kompetenz i. S. des Art. 72 I GG auch Gebrauch gemacht hat. Eine inhaltlich dem § 15 a PolG entsprechende Vorschrift gibt es im Bundesrecht nicht. BVerwG [35, 36]: Der Bund macht von seiner Kompetenz nicht nur dann Gebrauch, wenn er eine Regelung getroffen hat. Vielmehr kann auch das absichtsvolle Unterlassen eine Sperrwirkung für die Länder erzeugen (BVerfGE 32, 319, 327; 98, 265, 300)… Ein absichtsvolles Unterlassen liegt vor bei der abschließenden Regelung eines Sachgebiets (sog. Kodifikationsprinzip). Das Kodifikationsprinzip gilt nach § 6 StPO nur für die Strafverfolgung nach Vorliegen eines Anfangsverdachts i. S. des § 152 II StPO. Auf die Strafverfolgungsvorsorge erstreckt es sich nicht. Für diese hat der Bundesgesetzgeber nur einzelne Regelungen getroffen, z.B. in § 81 b Alt. 2 StPO, § 81 g StPO und § 484 StPO. Der Bundesgesetzgeber hat aber keine allgemeine abschließende Regelung hinsichtlich der Strafverfolgungsvorsorge getroffen. So bestimmt denn auch § 484 Abs. 4 StPO ausdrücklich, dass sich die Verwendung personenbezogener Daten, die für Zwecke künftiger Strafverfahren in Dateien der Polizei gespeichert sind oder werden, grundsätzlich nach den Polizeigesetzen richtet…
Zwar berührt nach BVerwG [37] die polizeirechtliche Regelung der Videoüberwachung den Regelungsbereich des § 81 b Alt. 2 StPO, der die Aufnahme von Lichtbildern eines Beschuldigten für Zwecke künftiger Strafverfolgung ermöglicht. § 81 b Alt. 2 StPO regelt aber nicht abschließend, unter welchen Voraussetzungen Bilder für Zwecke künftiger Strafverfolgung angefertigt werden dürfen… Dasselbe gilt mit Blick auf § 100 h und § 163 f StPO. Bei der Observation nach diesen Bestimmungen handelt es sich um eine verdeckte, auf bestimmte Zielpersonen fokussierte Ermittlungsmaßnahme, die im Hinblick auf ihr äußeres Gepräge, ihren Einsatzzweck und die grundrechtliche Betroffenheit der observierten Person bedeutsame Unterschiede zur offenen Beobachtung von Kriminalitätsschwerpunkten mittels Bildübertragung und -aufzeichnung aufweist.
Folglich fällt § 15 a PolG, auch soweit danach eine Videoaufzeichnung zum Zweck der Strafverfolgungsvorsorge möglich ist, unter die Gesetzgebungskompetenz des Landes NRW (Art. 70 I GG). § 15 a PolG ist formell verfassungsmäßig.
(2) § 15 a PolG ist hinreichend bestimmt gefasst. Insbesondere lässt sich die Frage, ob ein Kriminalitätsbrennpunkt im Sinne des § 15 a I 1 gegeben ist, anhand der Statistik und durch Augenschein vor Ort feststellen. (Vgl. auch BVerwG [39 - 41])
(3) Die Regelung des § 15 a PolG müsste auch verhältnismäßig sein (ausführlich zur Verhältnismäßigkeit der Videoüberwachung Siegel NVwZ 2012, 740/1). BVerwG [43 - 52]:
aa) Die anlasslose Videoüberwachung…dient einem legitimen Zweck. Die damit beabsichtigte Gefahrenvorsorge dient dem Schutz von Personen und Sachen… Dass eine Videoüberwachung dazu geeignet ist, die Abwehr drohender Straftaten der Straßenkriminalität vorzubereiten, liegt…auf der Hand. Durch das aufgezeichnete und gespeicherte Bildmaterial können Straftaten erkannt und ggf. Täter ermittelt werden. Durch die offene Ausgestaltung der Überwachungsmaßnahme können potentielle Straftäter wirksam abgeschreckt werden.
bb) Das eingesetzte Mittel ist auch erforderlich. Insbesondere ist ein milderes, gleichermaßen wirksames Mittel als die Videoüberwachung des öffentlichen Raums zur Gefahrenvorsorge nicht ersichtlich. Der stattdessen erwägenswerte größere Personaleinsatz der Polizei trifft auf Finanzierungsgrenzen…
cc) Der vom Gesetzgeber ermöglichte Eingriff ist auch nicht unverhältnismäßig im engeren Sinn… Die anlasslose Überwachung des öffentlichen Straßenraums stellt zwar einen erheblichen Grundrechtseingriff dar, insbesondere für Menschen, die aus persönlichen oder beruflichen Gründen gezwungen sind, sich dieser Beobachtung häufig auszusetzen. Der damit verfolgte Gesetzeszweck der Gefahrenvorsorge und der Strafverfolgungsvorsorge dient jedoch in ebenso großem Maße nicht nur dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit, sondern auch dem Individualrechtsschutz, insofern damit Eingriffe in hochwertige Rechtsgüter wie Leben und körperliche Unversehrtheit abgewehrt werden sollen. Die engen Voraussetzungen des § 15 a I 1 sorgen dafür, dass die Videoüberwachung ein Ausnahmefall bleibt. Schließlich wird das Gewicht des Eingriffs dadurch gemildert, dass die Beobachtung offen erfolgt.
§ 15 a I PolG ist somit verfassungsmäßig und rechtswirksam.
b) Die konkreten Aktivitäten der Polizei, die sich auf F auswirken, müssten auch durch § 15 a I 1 PolG gedeckt sein. Die Reeperstraße war ein Ort, an dem wiederholt Straftaten begangen wurden. Dabei war nicht notwendig, dass es sich um Straftaten von erheblicher Bedeutung handelt (diese strengere Voraussetzung findet sich z. B. in § 17 I Nr. 2 PolG). Dass die Zahl der Straftaten derzeit zurückgegangen ist, ist ohne Bedeutung, weil sich die Polizei für den Fall ihrer Zunahme die Wiederaufnahme vorbehält und F ihr dies auch für einen solchen Fall untersagen lassen will. Da die Straße unübersichtlich ist, werden dadurch die Straftaten begünstigt. In dem Fall, in dem die Polizei die Videoüberwachung wieder aufnimmt, bildet die Reeperstraße einen Kriminalitätsbrennpunkt. In solchem Fall liegt auch die weitere Voraussetzung vor, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort weitere Straftaten begangen werden. Die Videoüberwachung insgesamt ist somit durch § 15 a PolG gerechtfertigt. Insoweit bestehen auch keine Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit (§ 2 PolG).
c) Von der generellen Zulässigkeit der Videoüberwachung zu unterscheiden ist die Frage, ob die Kamera die Wohnung der F erfassen darf. Der Sachverhalt enthält keine Hinweise darauf, dass hierfür eine Notwendigkeit i. S. des § 2 PolG besteht. Das macht auch die Polizei nicht geltend. Vielmehr hat diese erklärt, zum Schutz privater Bereiche gebe es die Möglichkeit, die Bilder zu verpixeln. Dadurch kann zumindest verhindert werden, dass die Wohnung der F auf den Bildschirmen in der PEZ sichtbar und dass sie aufgezeichnet wird. Dabei handelt es sich um eine im Verhältnis zu F mildere Maßnahme, die die Wirkung der Videoüberwachung insgesamt aber nicht beeinträchtigt. Folglich ist der in der bildlichen Erfassung der Wohnung der F liegende Eingriff in deren informationelle Selbstbestimmung nicht gerechtfertigt. In diesem Sinne hatte auch das OVG Hamburg als Vorinstanz des BVerwG, das diese Frage nicht mehr zu entscheiden hatte, geurteilt (dazu auch Siegel NVwZ 2012, 741: „Der grundsätzlichen Untersagung der staatlichen Videoüberwachung von Privatgelände ist zuzustimmen“).
Ergebnis: F kann von der Polizei verlangen, dass im Falle der Wiederaufnahme der Videoüberwachung in der Reeperstraße die Wohnung der F nur mit der Einschränkung erfasst wird, dass die Sichtbarkeit der Wohnung als Folge der Videoüberwachung durch technische Mittel verhindert wird. Das Unterlassungsbegehren der F hat im Wesentlichen Erfolg.
Zusammenfassung