Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

BVerwG Urteil vom 26. 4. 2006 (6 C 19.05) www.bundesverwaltungsgericht.de

Inzidenterkontrolle von Rechtsnormen. Normsetzungsermessen bei untergesetzlicher Rechtsnorm; Kontrolle durch Verwaltungsgericht, § 114 VwGO. Verstoß gegen Art. 3 I GG durch Gleichbehandlung

Fall (Handwerkskammerbeitrag)

Die im Bundesland L tätige Firma F betreibt das Zimmererhandwerk, vor allem den Ausbau von Dachgeschossen. Sie ist in der Handwerksrolle eingetragen und Pflichtmitglied der Handwerkskammer H. Sie ist außerdem freiwilliges Mitglied in der örtlichen Zimmerer-Innung.

Die Handwerkskammer H hat eine auf § 113 HandwO gestützte und als Satzung verabschiedete Beitragsordnung erlassen, nach der sie ihre Mitglieder zu Beiträgen veranlagt. F macht geltend, § 113 II HandwO lasse eine unterschiedliche Beitragsbemessung zu. Dabei könne auch berücksichtigt werden, ob ein Betrieb zugleich Mitglied in einer Innung ist. Eine solche Berücksichtigung sei geboten, weil sich nach Ansicht der F die Aufgaben der Kammer und der Innung in verschiedener Weise überschneiden und die Betriebe, die zugleich Mitglied der Innung sind, Aufgaben unterstützten, die auch den Nur-Kammermitgliedern zu Gute kämen. Ausweislich des Protokolls bei Erlass der Beitragssatzung sei aber überhaupt nicht erkannt worden, dass eine solche Ermäßigungsmöglichkeit bestehe. Die bestehende Beitragsregelung verletze auch das Gleichheitsgebot.

Die zuständigen Organe der Kammer H haben die von F erhobenen Bedenken zurückgewiesen und veranlasst, dass F auch im laufenden Jahr zum vollen Kammerbeitrag in Höhe von 1.182 € veranlagt wurde. F fragt, ob ihr eine Rechtsschutzmöglichkeit zur Verfügung steht, und ob diese Aussicht auf Erfolg hat. Ein Normenkontrollverfahren nach § 47 I Nr. 2 VwGO ist im Lande L nicht vorgesehen.

A. Die der F zur Verfügung stehenden Klagemöglichkeiten

I. Eine Klagemöglichkeit direkt gegen die Beitragssatzung besteht nicht:

1. Eine Normenkontrollklage gemäß § 47 I Nr. 1 VwGO vor dem OVG / VGH ist nur zulässig, wenn sie durch Landesrecht eingeführt worden ist, was im Lande L nicht der Fall ist (so wie in Berlin, Hamburg, NRW).

2. Eine Feststellungsklage (§ 43 VwGO) setzt einen Streit um ein Rechtsverhältnis voraus, der aber noch nicht vorliegt, wenn F lediglich auf Feststellung der (Teil-) Nichtigkeit der Beitragssatzung klagt. Er könnte vorliegen, wenn F Klage auf Feststellung erhebt, dass ihr gegenüber keine volle Beitragspflicht besteht, weil die Beitragssatzung insoweit nichtig ist. Jedoch wird die Beitragspflicht der F durch Beitragsbescheid der H, der ein Verwaltungsakt ist, geltend gemacht. Hiergegen ist eine Anfechtungsklage möglich (dazu II), die die Feststellungsklage wegen deren Subsidiarität verdrängt (§ 43 II VwGO: Anfechtungsklage als Gestaltungsklage i. S. dieser Vorschrift). Somit wäre auch eine Feststellungsklage nicht zulässig.

II. In Betracht kommt eine Anfechtungsklage gegen den Beitragsbescheid.

1. Sie ist zulässig nach §§ 40 I, 42 I, II, 68 I VwGO. Der Beitragsbescheid ist ein anfechtbarer VA, erlassen von der Handwerkskammer als einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Zuvor muss F Widerspruch erheben. Davon, dass dieser erfolglos bleibt, kann ausgegangen werden, weil H selbst über den Widerspruch entscheidet (§ 73 I Nr. 3 VwGO, Beitragserhebung als Selbstverwaltungsangelegenheit der Kammer).

2. Die Anfechtungsklage ist begründet, wenn der Beitragsbescheid rechtswidrig ist. Das ist der Fall, wenn seine Rechtsgrundlage, die Beitragssatzung, zumindest teilweise rechtswidrig und nichtig ist. Die Frage der Gültigkeit oder Ungültigkeit der Beitragssatzung ist somit Vorfrage der Entscheidung über die Rechtswidrigkeit des Beitragsbescheids. Auf diese Weise kommt es zu einer Inzidenter-Prüfung der Beitragssatzung, innerhalb derer F ihre Einwände gegen die Beitragssatzung geltend machen kann.

B. Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage

Wie bereits unter A II 2 ausgeführt, hängt der Erfolg der Anfechtungsklage davon ab, ob die Beitragssatzung als Rechtsgrundlage für den Beitragsbescheid rechtmäßig ist. Falls sie rechtswidrig ist, hat das ihre Nichtigkeit zur Folge, so dass der auf sie gestützte Beitragsbescheid rechtswidrig und aufzuheben ist.

I. Eine Beitragssatzung durfte die Handwerkskammer H nach § 113 HandwO erlassen. Das grundsätzliche Recht hierzu wird ihr von F auch nicht bestritten.

II. Da grundsätzlich keine Pflicht zum Erlass einer untergesetzlichen Norm (RechtsVO, Satzung) besteht und der Inhalt der zu erlassenden Norm dem Normgeber auch nicht vorgegeben ist, hat der Normgeber ein Normsetzungsermessen. Es fragt sich, welchen rechtlichen Bindungen er hierbei unterliegt.

1. Zunächst muss sich der Normgeber im Rahmen der Rechts- bzw. Ermächtigungsgrundlage halten und darf nicht gegen dort enthaltene Bindungen verstoßen. Bei Beitragssatzungen der Handwerkskammern sind nähere Regeln in § 113 II HandwO enthalten, deren Verletzung hier aber nicht in Betracht kommen.

2. Ermessensgrenzen werden vom höherrangigen Recht gebildet, insbesondere von den Grundrechten (ebenso wie beim Erlass formeller Gesetze).

3. Es könnten auch die Grundsätze über einen Ermessensfehlgebrauch (einschließlich Ermessensnichtgebrauch, Ermessensunterschreitung, Ermessensausfall) gelten.

a) Diese Grundsätze gelten

b) Es fragt sich, ob der Erlass untergesetzlicher Normen dem von formellen Gesetzen gleich zu stellen ist - oben (2) -, wofür sprechen könnte, dass es sich auch hier um den Erlass einer Rechtsnorm handelt, oder ob, weil eine Stelle der Exekutive tätig wird, die Regeln für VAe - oben (1) - gelten.

Das BVerwG folgt grundsätzlich der Überlegung (2), Rdnr. 16: Bei der richterlichen Kontrolle von (untergesetzlichen) Normen kommt es…auf das Ergebnis des Rechtssetzungsverfahrens, also auf die erlassene Vorschrift in ihrer regelnden Wirkung, nicht aber auf die die Rechtsnorm tragenden Motive dessen an, der an ihrem Erlass mitwirkt. Soweit der Normgeber zur Regelung einer Frage befugt ist, ist seine Entscheidungsfreiheit eine Ausprägung des auch mit Rechtssetzungsakten der Exekutive typischerweise verbundenen normativen Ermessens.

 Es wird erst dann rechtswidrig ausgeübt, wenn die getroffene Entscheidung in Anbetracht des Zweckes schlechterdings unvertretbar oder unverhältnismäßig ist. Demgemäß beschränkt sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle darauf, ob diese äußersten rechtlichen Grenzen der Rechtssetzungsbefugnis überschritten sind. Die Rechtsprechung hat zu respektieren, dass der parlamentarische Gesetzgeber, der in § 113 HandwO die Handwerkskammern ermächtigt hat, für die durch ihre Tätigkeit entstehenden Kosten nach einem von ihnen festzusetzenden Beitragsmaßstab die Pflichtmitglieder heranzuziehen, im Rahmen dieser Ermächtigung eigene Gestaltungsfreiräume an den Satzungsgeber weiterleitet und dass mit der Satzungsgebung vorbehaltlich gesetzlicher Beschränkungen die Bewertungsspielräume verbunden sind, die sonst dem parlamentarischen Gesetzgeber selbst zustehen… (zum Ganzen…BVerwG GewArch 1995, 425; BVerwGE 118, 128).

Da die Beitragssatzung auch in ihrem umstrittenen Teil nicht schlechterdings unvertretbar oder unverhältnismäßig ist, findet eine weitere Überprüfung außerhalb der bestehenden gesetzlichen Bindungen nicht statt. Die Satzung ist nicht wegen eines Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig.

III. Es bleibt daher eine Überprüfung anhand des Art. 3 I GG (vgl. oben II 2).

1. F wendet sich nicht gegen eine Ungleichbehandlung, denn sie wird zur Zahlung des Kammerbeitrags wie auch die anderen Mitglieder veranlagt, also gleich behandelt. Sie verlangt eine Ermäßigung, also eine Ungleichbehandlung, wendet sich somit gegen die Gleichbehandlung.

2. Da die Gleichbehandlung des Ziel des Gleichheitssatzes ist, ist eine Gleichbehandlung nur ausnahmsweise und unter strengen Voraussetzungen ein Verstoß gegen Art. 3 I. Voraussetzung ist, dass die Unterschiede bei den beiden gleich behandelten Fallgruppen so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtung beachtet werden müssen (BVerwG Rdnr. 22 im Anschluss an BVerfGE 98, 365, 385; 86, 87; BVerwGE 110, 265, 272, Kampfhundesteuer).

Im vorliegenden Fall müsste sich also aus dem Umstand, dass F zugleich Mitglied einer Innung ist, ein so bedeutsamer Unterschied zu den Nur-Kammermitgliedern ergeben, dass eine Ermäßigung zwingend geboten ist. Der Fall der F liegt aber im Vergleich zu den Nur-Kammermitgliedern wesentlich gleich: Sie sind Mitglied der Handwerkskammer und haben die Vorteile aus deren Tätigkeit. Die weitere Mitgliedschaft in einer Innung, die auf Freiwilligkeit beruht, prägt die Mitgliedschaft in der Kammer nicht wesentlich. Das ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass, wie F geltend macht, sich die Aufgaben der Kammer und der Innung in verschiedener Weise überschneiden, denn eine solche Überschneidung besteht im wesentlichen nicht (zu den Aufgaben von Kammer und Innung ausführlich BVerwG Rdnr. 23 - 32). Die zusätzliche Mitgliedschaft in der Innung ist somit kein Umstand, der für das Rechtsverhältnis zwischen F und H von wesentlicher Bedeutung ist. Er zwingt nicht zu einer Ungleichbehandlung durch Ermäßigung des Beitrags.

Art. 3 I wird durch die Beitragssatzung nicht verletzt.

Gesamtergebnis: Die Beitragssatzung ist rechtmäßig und rechtfertigt den Beitragsbescheid. Eine Anfechtungsklage der F wäre unbegründet.

Zusammenfassung