► Baurechtliche Nachbarklage; nachbarschützende Normen. ► Bauen im unbeplanten Innenbereich, § 34 BauGB; Begriff des Einfügens. ► Anwendung der BauNVO. ► Gebot der Rücksichtnahme
BVerwG Urteil vom 5. 12. 2013 (4 C 5.12) DVBl 2014, 530
Fall (Doppelhaus)
E und N sind Eigentümer zweier aneinander grenzender Grundstücke auf der Westseite der Lindenstraße in der nordrhein-westfälischen Stadt S. Die Grundstücke sind mit einem Wohnhaus in der Form eines Doppelhauses bebaut, d. h. es sind zwei Gebäudeteile durch Aneinanderbauen auf der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt. Beide Teile des Doppelhauses haben zwei Vollgeschosse und ein Dachgeschoss und verfügen über ein Satteldach. Die Abstände des Doppelhauses nach vorn zur Straße und seitlich zu den an die Grundstücke von E und N angrenzenden Nachbargrundstücken betragen jeweils mehrere Meter. Für das Gebiet der Lindenstraße gibt es keinen Bebauungsplan. Auf beiden Seiten der Straße überwiegt deutlich die Wohnbebauung mit freistehenden ein- und zweigeschossigen und auch einigen mehrgeschossigen Einzel- und Doppelhäusern. Zwei Häuser auf der Westseite der Straße stehen mit ihrer Vorderfront auf der Grenze zur Straße. In einem davon befindet sich ein Lebensmittelgeschäft. Nicht weit von den Grundstücken des E und N entfernt gibt es auch einige Handwerks- und andere Gewerbebetriebe.
E beabsichtigt, seinen 1954 errichteten Hausteil abzureißen und einen Neubau zu errichten. Geplant ist ein viergeschossiges Wohn- und Geschäftshaus mit einem zusätzlichen Staffelgeschoss und einem Flachdach. Der neue Gebäudeteil soll teilweise wieder an das Haus des N angebaut werden, wird dieses aber um mehrere Meter überragen. Nach vorn zur Straße will E den Platz vollständig nutzen und den Neubau bis an die Straßengrenze vorziehen. N hatte sich in einem Vorgespräch gegen das seiner Meinung nach überdimensionierte Vorhaben gewandt. Er hält auch die im Erdgeschoss vorgesehene Gaststätte für unzulässig. Das zuständige Bauamt der Stadt S hat das Vorhaben dem Planungsausschuss der Stadt vorgelegt und nach dessen Zustimmung die Baugenehmigung erteilt. Sie wurde damit begründet, dass wegen der Baulandknappheit in S die Möglichkeit eröffnet werden müsse, die vorhandenen Baugrundstücke stärker auszunutzen. Insbesondere stehe die Planung des E mit dem Prinzip in Einklang, dass die Innenbereichsentwicklung Vorrang vor einer Inanspruchnahme des Außenbereichs haben müsse. N bleibt bei seiner ablehnenden Haltung und fragt, ob eine verwaltungsgerichtliche Klage gegen die Baugenehmigung Aussicht auf Erfolg hat.
A. Zulässigkeit einer Klage
I. Für die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 I VwGO bedarf es einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit. Bei einer Klage gegen eine Baugenehmigung sind die Vorschriften des öffentlichen Baurechts die streitentscheidenden Normen, so dass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt. Da die Streitigkeit auch nichtverfassungsrechtlicher Art und keinem anderen Gericht zugewiesen ist, ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben.
II. Der Klageart nach handelt es sich um eine Anfechtungsklage (§ 42 I VwGO). Die angefochtene Baugenehmigung ist ein Verwaltungsakt gemäß § 35, 1 VwVfG. Ihr Regelungscharakter besteht darin, dass dem E die Errichtung des beabsichtigten Baues erlaubt wird. Da N dadurch belastet wird, handelt es sich um einen VA mit Doppelwirkung. Dass bei diesem die Anfechtungsklage die statthafte Klageart ist, ergibt sich auch aus § 80 I 1 und 2 VwGO, wenn dort bestimmt ist, dass auch eine Anfechtungsklage gegen einen VA mit Doppelwirkung aufschiebende Wirkung hat. Bei der dem E erteilten Baugenehmigung handelt sich um einen begünstigenden VA mit belastender Doppelwirkung, auf den beim vorläufigen Rechtsschutz § 80 a I, III VwGO anwendbar wäre.
III. N müsste klagebefugt sein (§ 42 II VwGO). Bei der hier gegebenen Situation der baurechtlichen Nachbarklage müsste N sich auf die Verletzung von Vorschriften mit ihn begünstigender, d. h. drittschützender, weil nachbarschützender Wirkung berufen können.
1. Im Normalfall sind diejenigen Vorschriften heranzuziehen, nach denen sich der Erlass des VA richtet oder die bei seinem Erlass zu beachten sind, und es ist zu fragen, ob diese Vorschriften drittschützenden Charakter haben und der Kläger zum geschützten Personenkreis gehört. Jedoch ist im vorliegenden Fall an dieser Stelle noch nicht erkennbar, welche Vorschriften aus dem Planungsrecht für den Erlass der dem E erteilten Baugenehmigung maßgeblich sind. Dies herauszufinden, bildet das Hauptproblem des Falles. Diese Prüfung bereits hier, bei der Frage der Zulässigkeit der Klage vorzunehmen, ist unzweckmäßig.
2. Deshalb soll hier der Möglichkeitstheorie gefolgt werden, wonach eine Rechtsverletzung nur dann ausscheidet, wenn offensichtlich und eindeutig die vom Kläger behaupteten Rechte nicht bestehen oder ihm nicht zustehen können (BVerwGE 18, 157; 83, 196; 92, 316). N behauptet, einen Abwehranspruch gegenüber der dem E erteilten Baugenehmigung zu haben. Als Rechtsgrundlagen für die Genehmigung kommen die planungsrechtlichen Vorschriften über die Art und das Maß der baulichen Nutzung und über die Bauweise in Betracht. Da der Neubau des E nicht zur vorhandenen Doppelhaushälfte des N passt, kann es durchaus sein, dass eine dieser Vorschriften verletzt ist und auch die Interessen des N schützt. Auch könnte das den N schützende Rücksichtnahmegebot verletzt sein. Eine Rechtsverletzung des N ist somit nicht offensichtlich und eindeutig ausgeschlossen, sondern möglich. N steht die Klagebefugnis zu.
IV. Das nach § 68 I 1 VwGO erforderliche Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) ist in NRW aufgrund der Ermächtigung in § 68 I 2 VwGO durch § 110 I JustizG grundsätzlich ausgeschlossen worden. Als Ausnahme bleibt ein Widerspruch nach § 110 III 1 zulässig für „ im Verwaltungsverfahren nicht beteiligte Dritte, die sich gegen den Erlass eines einen anderen begünstigenden Verwaltungsaktes wenden.“ N wendet sich gegen den Erlass der den E begünstigenden Baugenehmigung. Zweifelhaft ist, ob er dadurch, dass er an einem Vorgespräch teilgenommen hat, beteiligt wurde. Das kann jedoch offen bleiben. Als Gegen-Ausnahme zu § 110 III 1 bestimmt § 110 III 2 Nr. 7, dass es bei Verfahren gegen Entscheidungen der Bauaufsichts- und Baugenehmigungsbehörden beim Wegfall des Widerspruchsverfahrens bleibt. Da N sich gegen eine Entscheidung der Stadt S als Baugenehmigungsbehörde wendet, ist ein Widerspruch nicht erforderlich und auch nicht zulässig.
IV. Weitere Zulässigkeitsbedenken bestehen nicht. Die Anfechtungsklage des N gegen die dem E erteilte Baugenehmigung ist zulässig. Sie ist gegen die Stadt S als Trägerin des Bauamtes zu richten (§ 78 I Nr. 1 VwGO).
B. Begründetheit der Klage
I. Grundlage für die Prüfung ist § 113 I 1 VwGO, wonach die Rechtmäßigkeit des VA und im Falle seiner Rechtswidrigkeit die Rechtsverletzung des Klägers zu prüfen sind. Bei der hier gegebenen Drittanfechtungsklage wird wohl überwiegend die Rechtsverletzung des Klägers dergestalt in den Vordergrund gerückt, dass die Baugenehmigung nur insoweit auf ihre Rechtmäßigkeit geprüft wird, wie bei ihrem Erlass drittschützende Normen zugrunde lagen. OVG Münster DVBl 2014, 533 (m. w. Nachw.): „Nur daraufhin ist das genehmigte Vorhaben in einem nachbarrechtlichen Anfechtungsprozess zu prüfen.“ Dem kann gefolgt werden, wenn leicht zu erkennen ist, welche Vorschriften anzuwenden sind und ob sie nachbarschützend sind, beispielsweise wenn der Nachbar wegen der Verletzung der Vorschriften über den seitlichen Abstand des Bauvorhabens zu seinem Grundstück klagt. Dann kann die Rechtmäßigkeitsprüfung beim VA auf diesen Aspekt beschränkt werden. Im vorliegenden Fall sind dagegen weder die dem Vorhaben möglicherweise entgegenstehenden Vorschriften noch ihr drittschützender Charakter bekannt. Dann ist zulässig, in der von § 113 I 1 VwGO vorausgesetzten Reihenfolge zu prüfen (so BVerwG im vorliegenden Fall unter 1. und 2.; ebenso OVG Münster als Vorinstanz: Urteil vom 28. 2. 2012, AZ. 7 A 2444/09, abrufbar unter www.nrwe.de).
II. Eine Baugenehmigung ist rechtmäßig, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen (§ 75 I 1 BauO NRW). Im vorliegenden Fall besteht Anlass nur zur Prüfung der planungsrechtlichen Voraussetzungen, die im BauGB und der Baunutzungsverordnung enthalten sind. Welche Vorschriften anzuwenden sind, richtet sich nach dem Bereich, innerhalb dessen das Vorhabengrundstück liegt. § 30 BauGB greift nicht ein, weil es für die Lindenstraße keinen Bebauungsplan gibt. Offenbar ist das Gebiet im Zusammenhang bebaut, liegt also im nicht beplanten Innenbereich, so dass § 34 BauGB anwendbar ist. (Zugleich scheidet damit der dritte Baubereich, der in § 35 BauGB geregelte Außenbereich, aus.)
1. Entscheidende Voraussetzung für die Zulassung eines Bauvorhabens bei Anwendbarkeit des § 34 I 1 BauGB ist, dass sich das Bauvorhaben in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Ob das der Fall ist, richtet sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der zu überbauenden Grundstücksfläche.
a) Bei der Art der baulichen Nutzung findet sich eine Konkretisierung in § 34 II BauGB für den Fall, dass die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der BaunutzungsVO entspricht. Nach den Angaben im Sachverhalt dürften sowohl ein reines Wohngebiet i. S. des § 3 BauNVO als auch ein allgemeines Wohngebiet i. S. des 4 BauNVO daran scheitern, dass bei den erwähnten Handwerks- und Gewerbebetrieben nicht festgestellt werden kann, dass ihr Betrieb nur zur Deckung des Bedarfs für die Bewohner des Gebiets dient (§§ 3 III Nr. 1, § 4 II Nr. 2 BauNVO). Gegen ein Mischgebiet (§ 6 BauNVO) spricht das deutliche Überwiegen der Wohnbebauung. Somit ermöglicht eine Heranziehung der BauNVO keine Entscheidung darüber, ob sich das Bauvorhaben nach der Art der baulichen Nutzung in die Umgebung einfügt.
b) Es ist somit allein darauf abzustellen, dass einerseits E ein Wohn- und Geschäftshaus mit einer Gaststätte bauen will, andererseits es im Gebiet der Lindenstraße Wohnbebauung, ein Lebensmittelgeschäft und Handwerks- und andere Gewerbebetriebe gibt. Daraus folgt, dass ein Wohn- und Geschäftshaus mit einer Gaststätte mit der Nutzungsart im dortigen Gebiet nicht unvereinbar ist. An der Nutzungsart scheitert das Einfügen somit nicht.
c) Es bleiben als Kriterien das Maß der baulichen Nutzung, die Bauweise und die zu überbauende Grundstücksfläche. Nach diesen Maßstäben müsste der Neubau des E mit dem vorhandenen und bleibenden Bauteil des N, also der ihm am nächsten liegenden Bebauung, verträglich sein.
aa) Dabei kann zunächst auf die Bauweise abgestellt werden. Nach § 22 I BauNVO sind Bauweisen die offene und die geschlossene Bebauung. Zur offenen Bebauung gehört nach § 22 II BauNVO auch die Bebauung mit Doppelhäusern, d. h. Häusern, die einseitig bis auf die Grenze („grenzständig“) zum Nachbarn errichtet und an dessen Haus angebaut werden. § 22 BauNVO gilt zwar nur für Bebauungspläne (§ 22 I: „Im Bebauungsplan…“), kann nach BVerwG [12] aber auch im unbeplanten Innenbereich als Auslegungshilfe herangezogen werden.
Das dem N und dem E derzeit gehörende Gebäude ist ein Doppelhaus. Dazu hat OVG Münster (7 A 2444/09) als Vorinstanz, vom BVerwG gebilligt, unter [42] ausgeführt: Für ein Doppelhaus ist prägend, dass zwei Gebäude derart zusammen gebaut werden, dass sie einen Gesamtkörper bilden, dessen beide Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinander gebaut sind… Aufeinander abgestimmt sind die Hälften eines Doppelhauses, wenn sie sich…als harmonisches Ganzes darstellen, ohne disproportional, als zufällig an der Grundstücksgrenze zusammengefügte Einzelhäuser ohne hinreichende räumliche Verbindung zu erscheinen…. Dementsprechend muss ein Haus, soll es Teil eines Doppelhauses sein, ein Mindestmaß an Übereinstimmung mit dem zugehörigen Nachbarhaus aufweisen…
Geht diese Eigenschaft durch einen Neubau verloren, fügt sich der Neubau nicht mehr in die Umgebung ein. Diesen Fall haben OVG und BVerwG beim Bauvorhaben des E angenommen. OVG [48]: Nach den hier vorliegenden Umständen, insbesondere aufgrund der völlig unterschiedlichen Dachformen (Satteldach, daneben wesentlich höheres Flachdach) erwecken die Haushälften im Falle der Realisierung des Vorhabens den Eindruck disproportionaler, zufällig in grenzständiger Weise nebeneinander gestellter Baukörper. Von einem wechselseitigen verträglichen Abgestimmtsein kann danach nicht mehr die Rede sein. BVerwG [16]: Die Würdigung des OVG, bei Verwirklichung des Vorhabens des E entstände der Eindruck disproportionaler, zufällig in grenzständiger Weise nebeneinander gestellter Baukörper, wahrt den bundesrechtlichen Maßstab.
bb) Auch nach dem Maß der beabsichtigten Bebauung und der zu überbauenden Grundstücksfläche passt der Neubau nicht mehr zum Anbau des N. OVG [48]: Der vorgesehene grenzständige Baukörper auf dem Grundstück des E überschreitet die Dimensionen des Hauses des N in erheblicher Weise. Er verfügt über zusätzliche zwei Vollgeschosse sowie über ein zusätzliches Staffelgeschoss mit Flachdach… Dadurch übersteigt das Bauvolumen des Vorhabens dasjenige des Hauses des N erheblich.
cc) BVerwG [17]: Das Vorhaben des E fügt sich somit in den Rahmen der Umgebungsbebauung nicht ein. Seine Verwirklichung führt nicht zu einem Doppelhaus, sondern zu einer einseitig grenzständigen Bebauung, für die es in der Umgebung an Vorbildern fehlt.
2. Nach § 34 III a BauGB kann unter den dort enthaltenen Voraussetzungen 1. - 3. vom Erfordernis des Einfügens abgesehen werden.
a) Da es sich bei dem bisherigen Bauteil des E um ein Wohnhaus handelt, kommt als erste Voraussetzung Nr. 1 letzter Satzteil in Betracht. Danach muss es sich um die Erneuerung einer Wohnzwecken dienenden Anlage handeln. E will aber nicht nur ein Wohnhaus erneuern, sondern beabsichtigt auch eine Umwandlung in ein Geschäftshaus. Diese ist - im Unterschied zur im ersten Satzteil für zulässig erklärten Umnutzung eines Gewerbebetriebs in ein Wohngebäude - nicht vorgesehen.
b) Auch ist nach BVerwG [17] der Neubau städtebaulich nicht vertretbar (Nr. 2), weil er bodenrechtliche Spannungen auslöst. Das folgt daraus, dass der Neubau des E auch für andere Grundstückseigentümer Anlass zu einer entsprechenden Bebauung geben kann, so dass durch die größeren Baumassen sich der Charakter des Gebiets verändern könnte.
c) Schließlich führt die Würdigung der Belange des Nachbarn N (Nr. 3) dazu, dass vom Erfordernis des Einfügens nicht abgesehen werden kann.
3. Für die Feststellung, dass sich das Vorhaben des E nicht einfügt und deshalb nicht zulässig ist, ist unerheblich, dass der Planungsausschuss zugestimmt hat. Denn auch dieser bleibt an das Planungsrecht, hier an § 34 I BauGB gebunden, so dass dessen Zustimmung rechtswidrig war. Keine unmittelbaren Rechtswirkungen hat auch das - für sich genommen zutreffende - planerische Ziel, der Innenentwicklung den Vorrang vor einer Inanspruchnahme des Freiraums einzuräumen und die vorhandenen Baugrundstücke stärker auszunutzen; dieses Ziel kann aber nur mit den Mitteln des Planungsrechts, etwa durch Erlass eines Bebauungsplan, rechtmäßig verfolgt werden.
Ergebnis: Die dem E erteilte Baugenehmigung verstieß gegen § 34 I BauGB und war rechtswidrig.
II. Dadurch müsste N in seinen Rechten verletzt werden. Es müsste ein Verstoß gegen eine den N als Nachbarn schützende Norm erfolgen.
1. Bei der Rechtswidrigkeitsprüfung wurde festgestellt, dass zur Bauweise auch die offene Bebauung mit einem Doppelhaus i. S. des § 22 BauNVO gehört und dass das Bauvorhaben des E diese Voraussetzung nicht mehr erfüllt. § 22 BauNVO ist aber keine nachbarschützende Norm. BVerwG [19]: Ein Drittschutz kann weder direkt noch analog aus § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO hergeleitet werden. Die Vorschrift entfaltet selbst im beplanten Bereich keinen Nachbarschutz. Nachbarschutz vermittelt hier vielmehr die planerische Festsetzung (…), an der es im unbeplanten Bereich fehlt.
2. Nachbarschützend könnte die als verletzt festgestellte Norm des § 34 I BauGB sein.
a) Über die Frage, ob § 34 I eine nachbarschützende Funktion hat, lässt sich nicht generell entscheiden, weil die Gründe, aus denen sich ein Bauvorhaben nicht in die Umgebung einfügt, unterschiedlich sein können. Das zeigt ein Vergleich mit den Regelungen bei einem Bebauungsplan: Bei diesem ist d ie Art der Nutzung grundsätzlich nachbarschützend, so dass die Grundstückseigentümer in diesem Gebiet einen Gebietserhaltungsanspruch haben (VGH München NVwZ 2013, 1623; JuS 2012, 919, 920; auch im Falle des § 34 I, II BauGB: OVG Koblenz NVwZ 2013, 1627). Dagegen ist das zulässige Maß der baulichen Nutzung nicht nachbarschützend (vgl. JuS 2012, 922). Was die Bauweise betrifft, ist der bei der offenen Bauweise vorgeschriebene Grenzabstand nachbarschützend. Eine unmittelbare Übertragung dieser Grundsätze auf § 34 BauGB ist problematisch, würde im vorliegenden Fall aber auch nicht weiterhelfen, weil N sich bei der Bauweise auf die Eigenart eines Doppelhauses beruft und nicht auf die Nichteinhaltung des Grenzabstandes.
b) Nach BVerwG ist § 34 I BauGB nachbarschützend, soweit das Gebot des Einfügens zugleich das Gebot zur Rücksichtnahme enthält.
aa) Das baurechtliche Gebot zur Rücksichtnahme ist ein allgemeiner baurechtlicher Grundsatz, der aber nicht die Funktion einer eigenständigen Norm hat, sondern über andere Normen verwirklicht wird. In Gebieten mit Bebauungsplan erklärt § 15 I 2 BauNVO Bauvorhaben für unzulässig, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind. Zu § 34 I BauGB BVerwG [21]: Ein Nachbar, der sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im unbeplanten Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur durchdringen, wenn eine angefochtene Baugenehmigung gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt (st. Rspr.…). Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme…kann vorliegen, wenn sich ein Vorhaben objektiv-rechtlich nach seinem Maß der baulichen Nutzung, seiner Bauweise oder seiner überbauten Grundstücksfläche nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt (…). Drittschutz wird gewährt, wenn in qualifizierter und individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (…). Es kommt darauf an, ob sich aus den individualisierenden Tatbestandsmerkmalen der Norm ein Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet (…).
bb) [22]: Dies ist hier der Fall: Die Zulässigkeit einer Bebauung als Doppelhaus setzt den wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze voraus. Dieser Verzicht bindet die benachbarten Grundeigentümer bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessenausgleichs ein. Ihre Baufreiheit wird zugleich erweitert und beschränkt… Diese Interessenlage rechtfertigt es, dem Bauherrn eine Rücksichtnahmeverpflichtung aufzuerlegen, die eine grenzständige Bebauung ausschließt, wenn er den bisher durch das Doppelhaus gezogenen Rahmen überschreitet. Sie ist im beplanten und unbeplanten Bereich identisch.
Somit verstößt E dadurch gegen seine Pflicht zur Rücksichtnahme, dass er den bisherigen einheitlichen Baukörper des Doppelhauses zerstört, stattdessen zwei unabgestimmte Bauteile entstehen lassen will und dadurch den Bauteil des N gestalterisch als Fremdkörper erscheinen lässt. BVerwG [18]: Das OVG hat in Übereinstimmung mit Bundesrecht angenommen, dass dieser Rechtsverstoß Rechte des Klägers verletzt. Diese Auffassung wird in der Literatur geteilt (Blechschmidt, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Juni 2013, § 22 BauNVO Rn. 50; Upmeier, Mampel, BRS-Info 4/2012, S. 19; Aschke, in: Ferner/Kröninger/Aschke, BauGB, 3. Aufl. 2013, § 22 BauNVO Rn. 16; Wolf, Drittschutz im Bauplanungsrecht, Band 11, 2012, S. 175 f.).
c) Folglich wird N durch die rechtswidrige Baugenehmigung in seinen Rechten verletzt. Die Anfechtungsklage ist begründet und führt zur Aufhebung der dem E erteilten Baugenehmigung.
Zusammenfassung