Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Maßnahme zum Schutz vor einer übertragbaren Krankheit nach dem Infektionsschutzgesetz, § 28 IfSG. Anhörungsmangel, Absehen von der Anhörung, § 28 VwVfG; Heilung, § 45 VwVfG; Unbeachtlichkeit, § 46 VwVfG. ► Voraussetzungen für einen Gefahrenverdacht im Fall des „Ansteckungsverdächtigen“ nach § 28 I IfSG. Störerbegriff i. S. des § 28 IfSG. Bindung und Ermessen im Fall des § 28 IfSG. Notwendige Schutzmaßnahme

BVerwG
Urteil vom 22. 3. 2012 (3 C 16.11) NJW 2012, 2823

Fall (Schulbesuchsverbot)

K, der damals 14 Jahre alt war, ist Schüler der G-Gesamtschule in der Großstadt S. In einer mehrere hundert Meter entfernten Grundschule erkrankte am 29. 5. ein Schüler an Masern. Beim Auftreten von Masernviren besteht eine hohe Ansteckungsgefahr und die Gefahr schwerer Krankheitsverläufe. Die Schüler der G-Schule und der Grundschule nutzen Bibliothek, Bushaltestelle und Spielmöglichkeiten gemeinsam. Die G-Schule führt in den Räumlichkeiten der Grundschule einen Kochkurs durch. K hat weder die Bibliothek noch die gemeinsame Bushaltestelle genutzt und auch nicht das Gelände der Grundschule betreten, insbesondere dort nicht an einem Kochkurs teilgenommen. Er hatte auch keine privaten Kontakte zu dem erkrankten Grundschüler oder einem anderen Schüler aus dessen Umgebung.

Die zuständige B-Gesundheitsbehörde der Stadt S ergriff zur Verhinderung einer Verbreitung der Masern verschiedene Schutzmaßnahmen, in die sie neben der Grundschule auch die G-Schule einbezog. Mitarbeiter des Gesundheitsamtes überprüften Anfang Juni die Impfausweise der Schülerinnen und Schüler und boten eine Schutzimpfung an. K war – wie acht andere Schülerinnen und Schüler - weder gegen Masern geimpft noch hatte er eine Masernerkrankung durchgemacht. Die angebotene Schutzimpfung wurde von K und dessen Eltern abgelehnt. Am 5. 6. wurde K auf Anordnung der B ins Schulsekretariat bestellt und ihm dort erklärt, dass er die Schule für die Dauer von zwei Wochen nicht besuchen dürfe. Dabei stützte B sich auf § 28 I Infektionsschutzgesetz (IfSG), der, soweit er für den vorliegenden Fall Bedeutung hat, wie folgt lautet: „Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt…, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.“ Auf Anfrage der Eltern des K begründete B die Anwendung der Vorschrift damit, bei einem Masernausbruch in einer Gemeinschaftseinrichtung sei es geboten, alle Besucher der Einrichtung als denkbare Kontaktpersonen anzusehen und demzufolge die für eine Infektion empfänglichen Personen als Ansteckungsverdächtige zu betrachten. Zwar sei im vorliegenden Fall die Krankheit nur in einer Nachbarschule aufgetreten; jedoch könne wegen der organisatorischen Verbindung nicht ausgeschlossen werden, dass K Masernviren aufgenommen habe. Ein Ermessensspielraum habe angesichts der großen Gefährlichkeit der Masern nicht bestanden.

Die Eltern des K stellten namens des K beim VG einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz und begründeten diesen damit, die Maßnahme sei weit überzogen. Nachdem die B-Behörde das Schulbesuchsverbot auf insgesamt vier Tage reduziert hatte, erklärten die Beteiligten das Verfahren für erledigt. Nunmehr beabsichtigt K, ordnungsgemäß vertreten durch seine Eltern, die Erhebung einer Klage in der Hauptsache, um die Rechtmäßigkeit des Schulbesuchsverbots überprüfen zu lassen. Hat die Klage Aussicht auf Erfolg ?

A. Die Klage müsste zulässig sein.

I. Die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs ergibt sich aus § 40 I VwGO. K wendet sich gegen eine auf die öffentlich-rechtliche Norm des § 28 I IfSG gestützte Maßnahme, so dass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt. Eine abdrängende Rechtswegzuweisung ist nicht ersichtlich.

II. Der Klageart nach handelt es sich um eine ursprüngliche Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 I 4 VwGO.

1. Das Schulbesuchsverbot (künftig: „SB-Verbot“) war als hoheitliches Verbot im Einzelfall ein VA i. S. des § 35, 1 VwVfG. Nachdem B es auf vier Tage begrenzt hatte, war es teils durch Rücknahme, im übrigen durch Zeitablauf am 10. 6. erledigt (§ 43 II VwVfG).

2. Ein Feststellungsinteresse wird bejaht bei einem Grundrechtseingriff, dessen direkte Belastung sich auf einen Zeitraum beschränkt, in dem der Betroffene primären Rechtsschutz praktisch nicht erlangen kann. Der Ausschluss von der Schule greift in das von Art. 2 I GG umfasste Recht auf Bildung ein. Bei einem SB-Verbot von zwei Wochen kann Rechtsschutz in der Hauptsache nicht innerhalb dieses Zeitraums erlangt werden. Vorläufiger Rechtsschutz ist kein Ersatz, weil Rechtsbehelfe nach § 16 II IfSG keine aufschiebende Wirkung haben und ein Antrag nach § 80 V VwGO nur zu einer summarischen Prüfung führt. Auch kann eine Wiederholungsgefahr nicht ausgeschlossen werden.

III. D a die Fortsetzungsfeststellungsklage eine umgewandelte Anfechtungsklage ist, muss dem Kläger analog § 42 II VwGO die Klagebefugnis zugestanden haben. Wie bereits ausgeführt, kann K geltend machen, durch das SB-Verbot in seinem Recht auf Bildung (Art. 2 I GG) verletzt zu sein.

IV. Für die Fortsetzungsfeststellungsklage selbst gilt keine Frist. Der VA war auch nicht vor Erhebung der Fortsetzungsfeststellungsklage unanfechtbar geworden. Folglich ist die gegen die Stadt S (§ 78 I Nr. 1 VwGO) zu richtende Klage zulässig.

B. Begründet ist die Fortsetzungsfeststellungsklage, wenn die Voraussetzungen des § 113 I 1 VwGO vor Erledigung des VA vorgelegen haben. Das SB-Verbot müsste rechtswidrig gewesen sein.

I. Anwendbare Ermächtigungsgrundlage für das SB-Verbot ist § 28 I IfSG.

II. In formeller Hinsicht war die B-Behörde zuständig. Sie hat das SB-Verbot auch i. S. des § 39 VwVfG begründet.

1. Ein Verfahrensfehler könnte in einem Verstoß gegen § 28 VwVfG zu sehen sein. Dann müsste eine erforderliche Anhörung unterblieben sein.

a) B beabsichtigte den Erlass eines in Art. 2 I GG des K eingreifenden VA. Nach § 28 I VwVfG hatte sie grundsätzlich den Beteiligten vorher anzuhören. Im vorliegenden Fall war K als 14jähriger selbst nicht handlungsfähig (vgl.§ 12 I Nr. 1 und 2 VwVfG), statt seiner waren seine Eltern oder wenigstens ein Elternteil anzuhören. Jedoch ist K das SB-Verbot ohne vorherige Anhörung bekanntgegeben worden.

b) Möglicherweise konnte von der Anhörung nach § 28 II Nr. 1 VwVfG abgesehen werden.

aa) BVerwG [13 – 17]: Hiernach ist eine Anhörung entbehrlich, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten ist, weil eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug notwendig erscheint… Gefahr im Verzug im Sinne von § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG ist anzunehmen, wenn durch eine vorherige Anhörung auch bei Gewährung kürzester Anhörungsfristen ein Zeitverlust einträte, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass die behördliche Maßnahme zu spät käme, um ihren Zweck noch zu erreichen. Ob eine sofortige Entscheidung objektiv notwendig war oder die Behörde eine sofortige Entscheidung zumindest für notwendig halten durfte, ist vom Gericht aus ex-ante-Sicht zu beurteilen (BVerwGE 68, 267, 271 f.). Hierbei ist wegen der Bedeutung des Anhörungsrechts als tragendem Prinzip des rechtsstaatlichen Verfahrens ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Aufl. 2011, § 28 Rn. 3 und Rn. 46 m. w. N.). Richtig ist, dass das Auftreten eines Masern-Indexfalls wegen der hohen Ansteckungsfähigkeit der Erreger und der Gefahr schwerer Krankheitsverläufe ein schnelles Eingreifen der Behörde verlangt. Das kann es rechtfertigen, die aus ihrer Sicht erforderlichen Schutzmaßnahmen ohne vorherige Anhörung der betroffenen Person anzuordnen, wenn sich der Zweck, eine (weitere) Ausbreitung der Infektion zu verhindern, andernfalls nicht erreichen ließe. Jedoch hat die Behörde auch bei infektionsschutzrechtlichen Sachverhalten anhand der konkreten Einzelfallumstände zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für ein Absehen von der Anhörung vorliegen.

Im Zeitpunkt der Anordnung des Schulbetretungsverbots am 5. Juni waren die Kontrolle der Impfausweise sowie die Durchführung der Schutzimpfungen in der Schule des Klägers nahezu abgeschlossen. Insgesamt neun Schüler und Schülerinnen der Gesamtschule hatte die Beklagte als „ungeschützt“ eingestuft, weil sie weder an Masern vorerkrankt waren oder nach dem Impfpass über einen ausreichenden Impfschutz verfügten, noch an der von der Beklagten angebotenen Impfung teilgenommen hatten. Aus Sicht der Beklagten stand demnach der Erlass von maximal neun Schulbetretungsverboten im Raum. Hiernach spricht vieles dafür, dass die Beklagte zu Unrecht annahm, wegen Gefahr in Verzug auf eine vorherige Anhörung des Klägers bzw. seiner Erziehungsberechtigten (vgl. § 12 VwVfG) verzichten zu dürfen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Anordnung des Betretungsverbots unaufschiebbar war und zuvor nicht die Mutter des Klägers hätte zumindest mündlich (telefonisch) angehört werden können. Dadurch wäre nur eine geringe zeitliche Verzögerung eingetreten, die nicht erkennen lässt, dass das Ziel der Beklagten gefährdet gewesen wäre, eine weitere Ausbreitung der Maserninfektion zu verhindern. Ebenso wenig ist davon auszugehen, dass der Beklagten wegen des Infektionsgeschehens der personelle und zeitliche Aufwand für die Anhörung unzumutbar war…

bb) Jedenfalls aber durfte die Beklagte ohne vorherige Anhörung lediglich eine vorläufige Entscheidung treffen. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit war sie verpflichtet, ihr Eingreifen zunächst auf solche Maßnahmen zu beschränken, die ohne jegliche Verzögerung erforderlich erschienen (BVerwGE 68, 267, 272; Kopp/Ramsauer § 28 Rn. 55). Zur Abwehr der von der Beklagten besorgten Verbreitung des Masernerregers durch den Kläger hätte es zunächst ausgereicht, ihn nach Hause zu schicken und ein vorläufiges Schulbetretungsverbot für den 5. Juni auszusprechen. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die Anhörung nicht im Laufe des Tages hätte nachgeholt werden können. Im Anschluss hätte die Beklagte - unter Einbeziehung der aus der Anhörung gewonnenen Erkenntnisse - endgültig entscheiden können, ob und gegebenenfalls welche Schutzmaßnahme zu treffen ist.

cc) Ohne Erfolg bleibt der Einwand der Beklagten, in Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen lasse sich fast nie sicher feststellen, ob und welche Schüler einen infektionsrelevanten Kontakt gehabt hätten, weil sich Erinnerungslücken nicht ausschließen ließen. Damit lässt sich ein Absehen von der Anhörung schon deshalb nicht rechtfertigen, weil darin unter den gegebenen Umständen eine unzulässige Vorwegnahme des Ergebnisses der Anhörung liegt. Die Beklagte durfte nicht von vornherein ausschließen, dass der Kläger bzw. seine Erziehungsberechtigten sich entscheidungserheblich zu dem Sachverhalt äußern würden. Folglich liegt ein Verstoß gegen § 28 I VwVfG vor.

2. Der Anhörungsmangel könnte nach § 45 I Nr. 3 VwVfG geheilt worden sein.

a) BVerwG [18]: Eine Heilung setzt voraus, dass die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird.

b) Äußerungen und Stellungnahmen von Beteiligten im gerichtlichen Verfahren erfüllen diese Voraussetzungen nicht (BVerwGE 137, 199). Die Äußerung des Klägers im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vor dem VG konnte mithin eine Heilung nicht bewirken. Weniger streng allerdings OVG Münster NWVBl 2013, 37/8: § 45 II VwVfG „lässt sowohl eine Heilung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens als auch eine solche im Gerichtsverfahren zu. Entscheidend ist, dass die nachgeholte Anhörung die ihr zukommende Funktion im Rahmen des behördlichen Entscheidungsprozesses erfüllen kann.“ Jedoch kann sie das im vorliegenden Fall, nachdem sich der VA durch Zeitablauf erledigt hat, nicht mehr. Dazu auch BVerwG [18]: Hinzu kommt, dass der Zweck der Anhörung nicht mehr erreicht werden konnte, nachdem sich das Schulbetretungsverbot infolge Zeitablaufs erledigt hatte. Erst recht keine Heilung mehr bewirken können die in einem künftigen Verwaltungsprozess zu erwartenden Stellungnahmen der Klägerseite.

Somit ist der Anhörungsfehler nicht geheilt worden.

3. Der Anhörungsmangel könnte nach § 46 VwVfG unbeachtlich sein.

a) BVerwG [19, 20]: Nach dieser Bestimmung kann die Aufhebung eines VA… nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Offen bleiben kann, ob § 46 VwVfG - wofür einiges spricht - außer bei Anfechtungsklagen auch Anwendung findet, wenn wie hier die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten VA begehrt wird (bejahend etwa Schemmer, in: Bader/Ronellenfitsch, Beck'scher Online-Kommentar VwVfG, Stand: 1. Januar 2012, § 46 Rn. 9; Kopp/Ramsauer, § 46 Rn. 43…). Wird letztgenannter Auffassung gefolgt, ist § 46 VwVfG im vorliegenden Fall anwendbar. Der Verstoß gegen § 28 VwVfG ist die Verletzung einer Vorschrift über das Verfahren.

b) Jedoch ist nicht offensichtlich, dass der Anhörungsmangel die von der Beklagten getroffene Entscheidung nicht beeinflusst hat… (zur hierfür anzustellenden hypothetischen Betrachtung vgl. BVerwGE 137, 199; NVwZ 2011, 115…). Der Kläger hat vor dem VG geltend gemacht, er habe weder das Gelände der Grundschule betreten noch die Bibliothek, noch gehe er auf seinem Schulweg an der Grundschule vorbei oder nutze den Bus; auch bestünden keine privaten Kontakte zu dem erkrankten Grundschüler. Es liegt nahe, dass er bzw. seine Erziehungsberechtigten im Rahmen einer Anhörung gleichermaßen vorgetragen hätten. Die Äußerung wäre auch objektiv geeignet gewesen, die Entscheidung der Beklagten zu beeinflussen. Davon ist schon deshalb auszugehen, weil es sich bei der streitigen Maßnahme nicht um eine gebundene Entscheidung handelte. Die Ermächtigungsgrundlage in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG) räumt der Behörde ein Auswahlermessen in Bezug auf die zu treffende Schutzmaßnahme ein (dazu noch III 2a). Ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null lag nicht vor, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen zur materiellen Rechtslage ergibt.

Das SB-Verbot war somit wegen Verstoßes gegen § 28 VwVfG rechtswidrig.

III. Es könnte auch materiell rechtswidrig gewesen sein. BVerwG [22]: Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 IfSG trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, die notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Da diese Vorschrift eine recht unbestimmt gefasste Generalklausel ist, muss sie für die Subsumtion aufbereitet werden.

1. Entsprechend dem Zweck des Infektionsschutzgesetzes generell und des § 28 IfSG muss zunächst eine übertragbare Krankheit vorliegen. BVerwG [23]: Mit dem an der Grundschule aufgetretenen Masernfall war eine an einer übertragbaren Krankheit (§ 2 Nr. 3, § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. h IfSG) erkrankte Person und damit ein Kranker im Sinne von § 2 Nr. 4 IfSG festgestellt worden. Daran knüpft das BVerwG die Rechtsfolge: Demzufolge war die Beklagte zum Handeln verpflichtet (gebundene Entscheidung). Somit war rechtmäßig, dass B überhaupt gehandelt hat. BVerwG [24]: Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen - „wie“ des Eingreifens - ist der Behörde Ermessen eingeräumt (BRDrucks 566/99 a.a.O.). Dieses Ermessen darf aber nur im Rahmen der nachfolgenden Anforderungen ausgeübt werden.

2. BVerwG [27, 28]: Notwendige Schutzmaßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG kann auch ein Schulbetretungsverbot sein…

3. Bei den möglichen Adressaten differenziert das BVerwG entsprechend dem Gesetz zwischen 1) Kranken und Ausscheidern, 2) Krankheitsverdächtigen und 3) Ansteckungsverdächtigen. Diese sind im Sinne des Polizei- und Ordnungsrechts Störer.

a) [25]: Vorrangige Adressaten sind die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG benannten Personengruppen. Bei ihnen steht fest oder besteht der Verdacht, dass sie Träger von Krankheitserregern sind, die bei Menschen eine Infektion oder eine übertragbare Krankheit im Sinne von § 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSG verursachen können. Wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten, sind sie nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts als „Störer“ anzusehen (…). § 2 Nr. 7 IfSG (Ansteckungsverdächtiger) definiert ebenso wie § 2 Nr. 5 IfSG (Krankheitsverdächtiger) eine Gefahrenverdachtslage, also einen Sachverhalt, bei dem zwar objektive Anhaltspunkte für eine Gefahr (Aufnahme von Krankheitserregern) sprechen, die aber eine abschließende Beurteilung der Gefahrensituation nicht ermöglichen. Beim Krankheitsverdächtigen sind die objektiven Anhaltspunkte angesichts einschlägiger Krankheitssymptome dichter als beim Ansteckungsverdächtigen, bei dem sich die Verdachtslage allein aus dem (möglichen) Kontakt mit infizierten Personen oder Gegenständen ergibt. Beim Kranken (§ 2 Nr. 4 IfSG) und beim Ausscheider (§ 2 Nr. 6 IfSG) besteht demgegenüber Gewissheit über die Aufnahme von Krankheitserregern…


b) Allerdings begrenzt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG den Handlungsrahmen der Behörde nicht dahin, dass allein Schutzmaßnahmen gegenüber der festgestellten Person in Betracht kommen. Wie sich aus der Prüfung des BVerwG unter [36] ergibt, werden auch Maßnahmen gegenüber einem Nichtstörer zugelassen, allerdings unter zusätzlichen Voraussetzungen.

c) Das BVerwG sieht das Hauptproblem in der Frage, ob K richtiger Adressat des SB-Verbots war, und nimmt dazu wie folgt Stellung. [30]: Unstreitig war der Kläger im Zeitpunkt des Verbots nicht an Masern erkrankt, Krankheitsverdächtiger oder Ausscheider. K könnte aber Ansteckungsverdächtiger gewesen sein.


aa) BVerwG [31, 32]: Ansteckungsverdächtiger ist nach der Legaldefinition in § 2 Nr. 7 IfSG eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Die Aufnahme von Krankheitserregern ist im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG „anzunehmen“, wenn der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Kontakt zu einer infizierten Person oder einem infizierten Gegenstand hatte (…). Die Vermutung, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, muss naheliegen. Eine bloß entfernte Wahrscheinlichkeit genügt nicht… Erforderlich und ausreichend ist, dass die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil (…). Damit steht fest, dass die Auffassung der B, alle Besucher einer Einrichtung seien denkbare Kontaktpersonen und es reiche aus, wenn nicht ausgeschlossen werden könne, dass eine Person Masernviren aufgenommen habe, zu weitgehend und damit unzutreffend ist.

bb) Für die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckungsgefahr gilt allerdings kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab…Vielmehr ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts um so geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (z.B. BVerwGE 45, 51, 61…). …Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt.

cc) Beim bloß Ansteckungsverdächtigen trägt BVerwG [33, 34] noch dem Umstand Rechnung, dass ein bloßer Gefahrenverdacht vorliegt. Die Feststellung eines Ansteckungsverdachts setzt voraus, dass die Behörde zuvor Ermittlungen zu infektionsrelevanten Kontakten des Betroffenen angestellt hat; denn ohne aussagekräftige Tatsachengrundlage lässt sich nicht zuverlässig bewerten, ob eine Aufnahme von Krankheitserregern anzunehmen ist. Die Ermittlungspflicht der Behörde folgt bereits aus dem allgemein für das Verwaltungsverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 24 Abs. 1 VwVfG)…. Die Behörde entscheidet über Art und Umfang der Ermittlungen (§ 24 Abs. 1 Satz 2 VwVfG). Die gebotene Ermittlungstiefe zu möglichen Kontakten des Betroffenen mit infizierten Personen oder Gegenständen wird insbesondere durch die Eigenheiten der Krankheit, namentlich die Ansteckungsfähigkeit des Krankheitserregers…vorgegeben. Diese Überlegungen entsprechen dem allgemeinen polizei- und ordnungsrechtlichen Grundsatz, wonach ein Gefahrenverdacht zunächst nur zur weiteren Gefahrerforschung berechtigt.

dd) Werden dies Grundsätze auf den Fall des K angewendet, so ist davon auszugehen, dass es sich bei der Masernerkrankung zwar um eine gefährliche Krankheit handelt, die es rechtfertigt, keine strengen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Infektion zu stellen. Jedoch war der Verdacht im Fall des K ausgesprochen gering. BVerwG [35]: Der Kläger war weder „Fahr-” noch „Kochschüler“; er hatte auch keine sonstigen privaten Kontakte zum Masern-Indexfall an der Grundschule… Ein Ansteckungsverdacht ließ sich zwar nicht von vornherein ausschließen. Jedoch war aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls (getrennte Schulen; begrenzte Durchmischung der beiden Schülerpopulationen; marginale Kontaktpunkte des Klägers mit Grundschülern) die Annahme, der Kläger habe Krankheitserreger aufgenommen, nicht wahrscheinlicher als das Gegenteil. Weitergehende Erkenntnisse bestanden nicht, weil B nicht weiter ermittelt hat. Die Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, (weitere) Ermittlungen zur Kontaktsituation des Klägers seien nicht veranlasst gewesen. Eine Sachverhaltsaufklärung war nach § 28 Abs. 1 IfSG vorausgesetzt und der Beklagten angesichts der begrenzten Zahl von neun betroffenen Schülern auch zumutbar. Jedenfalls ohne solche durfte nicht davon ausgegangen werden, K sei ansteckungsverdächtig.

K war somit keine Person, die unter den in § 28 I IfSG aufgeführten Personenkreis fiel, und damit kein Störer im ordnungsrechtlichen Sinn.

d) Zur Frage einer Inanspruchnahme des K als Nichtstörer führt BVerwG [36] lediglich aus: Ebenso wenig lagen die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme des Klägers als Nichtstörer vor. Im OBG NRW, das in solchem Fall als das allgemeine Gefahrenabwehrgesetz subsidiär herangezogen werden kann, ist die Inanspruchnahme des Nichtstörers in § 19 geregelt. Davon lassen sich die Voraussetzungen Nr. 2 und Nr. 3, dass die Gefahr nicht auf andere Weise abgewehrt werden kann, im Zeitpunkt des 5. 6. nicht feststellen. Ohne weitere Sachverhaltsaufklärung kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Masernfall nur durch ein SB-Verbot gegenüber K wirksam bekämpft werden konnte. Vielmehr ist anzunehmen, dass Maßnahmen gegenüber dem in § 28 I IfSG aufgeführten Personenkreis ausreichten.

BVerwG [36]: Das Schulbetretungsverbot erweist sich insoweit nicht als notwendige Schutzmaßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Damit steht fest, dass die Maßnahme auch gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstößt.

4. Da das BVerwG (oben III 1) der Behörde bei der Auswahl der Maßnahmen Ermessen zugebilligt hat, ist außerdem - im vorliegenden Fall hilfsweise, weil der VA bereits nicht durch eine Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist und die Behörde deshalb kein Ermessen mehr hatte - die Ermessensausübung zu überprüfen (§ 114 VwGO). In ihrer Begründung hat B ausgeführt, ein Ermessensspielraum habe angesichts der großen Gefährlichkeit der Masern nicht bestanden. Das war unzutreffend. Bei der Frage, ob gerade gegenüber K ein SB-Verbot auszusprechen war und wie dies ggfs. zu befristen war, konnten durchaus auch Zweckmäßigkeitserwägungen angestellt werden. BVerwG [36]: Unabhängig davon hat das OVG zutreffend angenommen, dass es an der Ausübung des erforderlichen Auswahlermessens fehlte.

Ergebnis: Das SB-Verbot gegenüber K ist wegen Verstoßes gegen § 28 VwVfG, wegen Verletzung des § 28 I IfSG durch Auswahl einer Person, die kein nach dieser Vorschrift zulässiger Adressat war, wegen Verstoßes gegen die Voraussetzung des § 28 I IfSG, wonach nur notwendige Schutzmaßnahmen gestattet sind, und wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig. Es verletzte K in seinem Grundrecht aus Art. 2 I GG. Eine Fortsetzungsfeststellungsklage wäre begründet.


Zusammenfassung