Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Jugendschutz; jugendgefährdende Medien, §§ 17 ff. JuSchG. Eintragung in die Liste nach §§ 17, 18 JuSchG. Freiheit der Kunst (Art. 5 III GG); verfassungsimmanente Schranken. Verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte. Überprüfbarkeit der Indizierungsentscheidung der Bundesprüfstelle durch das VG. Abwägung zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit

BVerwG Urteil vom 30.10.2019 (6 C 18.18) NJW 2020, 785

Fall (Bushido)

Der unter dem Künstlernamen Bushido auftretende B hat das Studioalbum Sonny Black aufgenommen, das 15 Titel der Musikrichtung Gangsta-Rap enthält. Gegen das - von der Firma Sony vertriebene - Album leitete die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPM) ein Indizierungsverfahren nach §§ 17 ff. Jugendschutzgesetz (JuSchG) ein.

Nach § 17 JuSchG wird die BPM als Bundesbehörde errichtet und entscheidet ü ber die Aufnahme in die Liste jugendgefährdender Medien. § 18 (1) JuSchG bestimmt: „Träger- und Telemedien, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden, sind“ von der BPM in die Liste aufzunehmen. Dazu zählen vor allem unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit oder Verbrechen anreizende Medien. § 18 (3) „Ein Medium darf nicht in die Liste aufgenommen werden…2. wenn es der Kunst…dient.“ Die eingetragenen Medien unterliegen den Beschränkungen des § 15 I Nr. 1-7, insbesondere dürfen sie einem Kind oder einer jugendlichen Person nicht überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden; auch gelten Werbeverbote.

Nach § 19 JuSchG entscheidet über die Indizierung ein aus zwölf Personen bestehendes Gremium („Zwölfer-Gremium“). Dessen Mitglieder sind fachkundige Personen auf den Gebieten der Kunst und Literatur sowie Vertreter der Jugendhilfe und der Lehrerschaft. Sie unterliegen keinen Weisungen.

In der Sitzung vom 9.4. beschloss das Gremium der BPM formell fehlerfrei und nach Anhörung des B die Indizierung des Albums Sonny Black. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Texte enthielten Bezüge zur Person des B. Dieser werde als Gangsterboss Sonny Black dargestellt, der Konflikte ausschließlich durch Gewalt löse. Fast jeder Titel enthalte Schilderungen, wie er aus beliebigen Anlässen brutale Gewalt anwende, als Drogendealer oder Waffenhändler tätig sei, ohne dafür belangt zu werden. Die Texte seien durchsetzt mit Äußerungen, in denen Frauen und Homosexuelle in vulgärer Sprache herabgewürdigt und verächtlich gemacht werden. Das Album vermittle die Botschaft, dass ein Lebensstil zum Erfolg führt, der sich auf die Begehung von Straftaten, hemmungslose Gewalttätigkeit, Demütigungen und das Fehlen jeglicher Empathie gründet. Dadurch gefährdet seien insbesondere Jugendliche, die in einem Umfeld mit patriarchalischen Verhältnissen und homophoben Einstellungen lebten. Wissenschaftliche Studien bestätigten die Annahme, dass diese Jugendlichen die gewalttätige und vulgär diskriminierende Sprache des Albums in ihren Wortschatz übernehmen und sich darüber hinaus an dem Verhalten des Sonny Black orientieren. Nach Abwägung mit der Kunstfreiheit habe der Jugendschutz Vorrang, insbesondere weil das Album Unterhaltung darstelle, bei dem die Musik keine Bedeutung für den Aussagegehalt der Texte habe.

Nach Auffassung des B liegt darin eine Verkennung seines künstlerischen Anspruchs. Dieser gehe dahin, zu zeigen, dass ein Leben nach den dargestellten Maximen möglich und erfolgreich sei. Er beabsichtigt, durch Klage die Entscheidung vom 9.4. verwaltungsgerichtlich überprüfen zu lassen. Er kündigt an, das Gutachten eines Literaturwissenschaftlers vorzulegen, das den künstlerischen Gehalt des Albums attestiert. Demgegenüber macht die BPM geltend, das Zwölfer-Gremium sei eine besonders sachkundige und pluralistisch besetzte, weisungsfreie Instanz, deren Entscheidung nach dem Willen des Gesetzgebers auch für das Verwaltungsgericht verbindlich und deshalb nicht weiter überprüfbar sei.

Hat eine verwaltungsgerichtliche Klage des B Aussicht auf Erfolg?

Lösung

Vorbemerkung: Besprochen wird das Urteil des BVerwG von Liesching NJW 2020, 735; Beisel NVwZ 2020, 241; Kenkmann DÖV 2020, 565.

A. Zulässigkeit einer verwaltungsgerichtlichen Klage

I. Die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges ergibt sich aus der aufdrängenden Spezialzuweisung des § 25 I JuSchG, wonach f ür Klagen gegen eine Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, ein Medium in die Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen, der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist. Ohne diese Vorschrift würde er sich aus § 40 I VwGO ergeben, da es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art handelt, die keinem anderen Gericht zugewiesen ist.

II. Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage (§ 42 I VwGO). Die Indizierungsentscheidung vom 9.4. ist ein VA i. S. des § 35 VwVfG. Sie ergeht aufgrund der §§ 17, 18 JuSchG und ist die Maßnahme der BPM als Behörde aufgrund öffentlichen Rechts. Ihre Regelungswirkung ist zwar zunächst auf die Eintragung in die Liste gerichtet, zielt aber letztlich und entscheidend auf die Herbeiführung der in § 15 JuSchG enthaltenen Verbote. Sie betrifft auch einen Einzelfall, das Album Sonny Black des B. B verlangt die Aufhebung der Indizierungsentscheidung.

III. Die Klagebefugnis (§ 42 II VwGO) steht B zu, weil er geltend machen kann, die mit der Indizierung verbundenen Beschränkungen bei der Verwertung des Albums Sonny Black verletzten ihn in seinem Grundrecht auf Verbreitung einer künstlerischen Darbietung (Art. 5 III 1 GG).

IV. Das grundsätzlich - jedenfalls bei Entscheidungen von Bundesbehörden - nach § 68 VwGO durchzuführende Widerspruchsverfahren ist in diesem Fall nach § 25 IV 2 JuSchG entbehrlich.

V. Die formellen Anforderungen an die Klageerhebung, insbesondere die Einhaltung der Klagefrist (§ 74 I VwGO: ein Monat), können beachtet werden. Somit ist die Klage zulässig. Sie ist gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die BPM, zu richten (§ 25 III JuSchG).

B. Begründetheit der Klage

Die Anfechtungsklage ist begründet, wenn die Indizierungsentscheidung vom 9.4. rechtswidrig ist und B in einem Recht verletzt (§113 I 1 VwGO). Zunächst ist die Rechtmäßigkeit der Indizierung zu prüfen.

I. Als anwendbare Ermächtigungsgrundlage kommt § 18 I 1 JuSchG in Betracht. Diese Vorschrift müsste verfassungsmäßig sein, da sie andernfalls nicht rechtswirksam wäre.

Allerdings ist fraglich, ob bei der Bearbeitung dieses Falles eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des JuSchG erforderlich ist. Im Sachverhalt werden keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 18 I JuSchG vorgetragen, sie ist auch nicht ernstlich zweifelhaft. Das BVerwG prüft unter [39-46] nach Darstellung des Inhalts der §§ 17 ff. JuSchG und der Kontrollbefugnis des VG (dazu noch III 1) die Vereinbarkeit mit Art. 5 III 1 GG. Nachfolgend wird die Verfassungsmäßigkeit in der danach gebotenen Kürze geprüft.

1. In formeller Hinsicht müsste der Bund über die Gesetzgebungskompetenz für den Erlass der §§ 17 ff. JuSchG verfügen.

a) Nach Art. 74 I Nr. 7 GG fällt die öffentliche Fürsorge unter die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes. Der Begriff der öffentlichen Fürsorge ist weit auszulegen (BVerfG NJW 2015, 2399 [29]). Ausreichend ist eine Sachlage, in der ein Bedarf nach Leistungsgewährung oder nach Schutz besteht. Ein solcher Schutzbedarf besteht, wenn Medien die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten gefährden. Somit sind §§ 17 ff. JuSchG Regelungen der öffentlichen Fürsorge.

b) Auf den in Art. 72 II GG aufgeführten Gebieten, zu denen Art. 74 I Nr. 7 GG gehört, muss weiterhin eine der drei dort aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sein. Z ur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit erforderlich ist eine Regelung, wenn andernfalls eine nachteilige Rechtszersplitterung droht (vgl. BVerfG NJW 2015, 2399 [49-55]). Da Presseerzeugnisse und andere Medien einheitlich für das ganze Bundesgebiet produziert werden, wäre es untragbar, wenn beispielsweise das Album des B in Hessen für Jugendliche erlaubt und in Bayern für sie verboten wäre. Somit ist die bundeseinheitliche Regelung der §§ 17 ff. JuSchG zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit erforderlich. Der Bund ist zum Erlass dieser Vorschriften zuständig.

2. In materieller Hinsicht könnte § 18 I JuSchG gegen die Kunstfreiheit (Art. 5 III 1 GG) verstoßen.

a) Dann müsste § 18 I JuSchG einen Eingriff in die Freiheit der Kunst enthalten.

aa) Über Art. 5 III GG wird nicht nur der Werkbereich der Kunst, also deren Herstellung, sondern auch der Wirkbereich, deren Verbreitung geschützt. Wird zunächst nur auf § 18 I JuSchG abgestellt, können auch Medien mit künstlerischem Gehalt indiziert und damit in ihrer Verbreitung behindert werden, was einen Eingriff bedeutet.

bb) Demgegenüber könnte dem § 18 III Nr. 2 JuSchG entnommen werden, dass der Kunstgehalt eines Mediums der Indizierung entgegensteht; dann enthielte § 18 JuSchG keinen Eingriff in Art. 5 III GG.

cc) Jedoch spricht eine systematische Auslegung gegen einen absoluten Vorrang der Kunst gegenüber dem Jugendschutz. Der Jugendschutz hat Verfassungsrang; er wird in Art. 5 II GG ausdrücklich erwähnt und liegt auch Art. 6 II GG zugrunde (BVerfGE 83, 130, 139, Josefine Mutzenbacher). Nach § 18 II Nr. 2 und 4 JuSchG unterliegen Schriften, die einen kinderpornografischen (§ 184 b StGB) oder einen jugendpornografischen ( § 184 c StGB) Inhalt haben, einem absoluten Verbreitungsverbot, ohne dass Einschränkungen zugunsten der Kunst vorgesehen sind; das zeigt, dass allein die Einordnung als Kunst ein Medium nicht dem Anwendungsbereich des § 18 I JuSchG entzieht. Vielmehr ist zwischen Kunst und Jugendschutz abzuwägen; § 18 III Nr. 2 JuSchG ist als Abwägungsgebot auszulegen. BVerwG [ 37] Der Konflikt zwischen den grundgesetzlich geschützten Rechtsgütern Jugendschutz und Kunstfreiheit erfordert eine Abwägung, von deren Ergebnis die Aufnahme eines Träger- oder Telemediums in die Liste jugendgefährdender Medien abhängt. Folglich gestattet § 18 I JuSchG unter den Vorrausetzungen dieser Vorschrift und nach Abwägung Eingriffe in die Freiheit der Kunst. BVerwG [36] Dementsprechend stellen die Verbreitungs- und Werbeverbote, die durch die Aufnahme eines Träger- oder Telemediums in die Liste jugendgefährdender Medien ausgelöst werden, Eingriffe in den Wirkbereich der Kunstfreiheit dar.

b) Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein. Art. 5 III GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt, die Freiheit der Kunst ist also vorbehaltlos gewährleistet. Vorbehaltlos heißt aber nicht schrankenlos, sondern es können verfassungsimmanente Schranken eingreifen. Solche ergeben sich aus Grundrechten Dritter und aus Gemeinschaftswerten von Verfassungsrang ( BVerfG NJW 2020, 1049).

aa) Nach den Ausführungen oben B I 2 a cc) ist der Jugendschutz ein Gemeinschaftswert von Verfassungsrang, so dass dieser einen Eingriff rechtfertigt, wenn er nach Abwägung mit der Kunstfreiheit Vorrang erhält. BVerwG [36] Art. 5 III 1 GG kann ungeachtet seiner vorbehaltlosen Gewährleistung durch andere grundgesetzlich verankerte Rechtsgüter beschränkt werden. Hierzu gehört der Jugendschutz, wie er unter anderem durch die Indizierungsvoraussetzungen nach Maßgabe des § 18 Abs. 1 JuSchG konkretisiert wird. Auch haben Maßnahmen zum Schutz Minderjähriger vor sozial-ethisch desorientierenden Inhalten ihre Grundlage in dem Grundrecht auf Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.

bb) Allerdings wird die Auffassung vertreten, Verbreitungs- und Werbeverbote von Trägermedien seien als Mittel des Jugendschutzes ungeeignet, weil sich Minderjährige indizierte Werke im Internet beschaffen können. Dagegen wendet sich BVerwG [42-45]: Zwar weist der Jugendschutz im Internet erhebliche Lücken auf. Diese sind darauf zurückzuführen, dass die Betreiber von Internetplattformen keine Pflicht zur Prüfung der Inhalte trifft, die sie für einen Nutzer speichern. Sie sind nur dann verpflichtet, gegen die Verbreitung von Inhalten vorzugehen, wenn sie von der konkreten Information und deren Rechtswidrigkeit Kenntnis erlangt haben (vgl. § 10 Telemediengesetz…). Hinzu kommt, dass viele Betreiber von Internetplattformen ihren Sitz außerhalb der EU haben, was den deutschen Behörden erheblich erschwert, die Beachtung von Rechtspflichten durchzusetzen. Die durch das Internet entstandenen Schutzlücken machen die vorhandenen Schutzvorkehrungen aber nicht generell ungeeignet. Sie haben neben den Verbreitungs- und Werbeverboten nach § 15 JuSchG zur Folge, dass Rundfunksendungen und Inhalte von Telemedien unzulässig sind, wenn sie mit dem indizierten Medium ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich sind… Angesichts der grundgesetzlichen Gewährleistung des Schutzes der Persönlichkeitsentwicklung Minderjähriger ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, bewährte und wirkungsvolle Maßnahmen des Jugendschutzes wegen des unzulänglichen Schutzes im Internet aufzuheben und letztendlich den mit Verfassungsrang ausgestatteten Jugendschutz generell aufzugeben. Vielmehr muss er sich bemühen, Schutzlücken zu schließen. Hinzu kommt, dass die Aufnahme von Träger- und Telemedien in die Liste jugendgefährdender Medien schon vom Ansatz her nicht darauf angelegt sind, eine lückenlose Zugangssperre für Minderjährige zu schaffen.

BVerwG [40] Auch steht bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit genereller Maßnahmen des Jugendschutzes dem Gesetzgeber ein Einschätzungsspielraum zu. Es obliegt ihm, die Dringlichkeit der Gefahren für die Persönlichkeitsentwicklung Minderjähriger und den allgemeinen Handlungsbedarf einzuschätzen und davon ausgehend Maßnahmen festzulegen, die er für sinnvoll hält, um den von ihm erkannten Gefahrenlagen zu begegnen. Dieser Spielraum ist regelmäßig erst überschritten, wenn die gesetzgeberischen Erwägungen offensichtlich nicht vertretbar sind; die Regelung des § 18 JuSchG ist aber nicht unvertretbar.

3. Folglich verletzt § 18 I, III Nr. 2 JuSchG Art. 5 III GG nicht und ist verfassungsmäßig. Er ist die im vorliegenden Fall anwendbare Ermächtigungsgrundlage.

II. Nach dem Sachverhalt ist die Indizierungsentscheidung formell fehlerfrei erfolgt.

III. In materieller Hinsicht ist die Indizierungsentscheidung rechtmäßig, wenn sie im Einklang mit den Voraussetzungen des § 18 I, III Nr. 2 JuSchG steht.

1. Entsprechend dem Vorbringen der BPM, wonach die Entscheidung des Zwölfer-Gremiums als einer besonders sachkundigen und pluralistisch besetzten, weisungsfreien Instanz für das VG verbindlich und nicht weiter überprüfbar sei, ist der Umfang der Prüfungsbefugnis des VG zu bestimmen.

a) Grundsätzlich hat das VG einen angefochtenen VA in tatsächlicher (§ 86 I VwGO) und rechtlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. BVerfGE 129, 1 [66]: „Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG) folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, einen angefochtenen VA in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Das schließt eine Bindung der rechtsprechenden Gewalt an tatsächliche oder rechtliche Feststellungen und Wertungen seitens anderer Gewalten hinsichtlich dessen, was im Einzelfall rechtens ist, im Grundsatz aus.“ BVerwG [12] Der von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geforderte wirkungsvolle Rechtsschutz verlangt, dass die Gerichte Verwaltungsentscheidungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht uneingeschränkt nachprüfen. Die Gerichte haben die nach ihrer Rechtsauffassung im konkreten Fall entscheidungserheblichen Rechtsnormen und Rechtsgrundsätze ohne Bindung an die Rechtsauffassung der Verwaltung auszulegen und anzuwenden. Hierfür haben sie den nach ihrem Rechtsstandpunkt entscheidungserheblichen Sachverhalt erschöpfend aufzuklären und die Beweise zu würdigen (…).

b) Da es sich bei der Aussage a) aber nur um einen Grundsatz handelt, sind Ausnahmen möglich. Aus dem Zusammenwirken von Grundsatz und Ausnahmen ergibt sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte (ausf. hierzu Ludwigs DÖV 2020, 405 ff.). In einer Reihe von Fällen ist die Kontrolldichte eingeschränkt.

aa) Die weitestgehende Einschränkung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle besteht bei dem auf der Rechtsfolgeseite einer Ermächtigung angesiedelten Ermessen, dessen Ausübung nur in den von § 114 VwGO erfassten Fällen überprüft wird; demgegenüber darf die beim Ermessen wesentliche Zweckmäßigkeitsentscheidung vom VG nicht mit dem Ziel einer Abänderung nachgeprüft werden. Bei § 18 I JuSchG greift allerdings kein Ermessen ein, weil die Vorschrift zwingend ist (vgl. § 18 I JuSchG: „sind“ in die Liste aufzunehmen). Ähnlich wie Ermessensnormen werden Planungsentscheidungen behandelt; bei ihnen wird der planenden Stelle eine planerische Gestaltungsfreiheit, auch als Planungsermessen bezeichnet, eingeräumt.

bb) Beschränkungen der Kontrolldichte auf Voraussetzungsseite der Ermächtigung werden als Einräumung eines Beurteilungsspielraums bezeichnet (Ludwigs DÖV 2020, 406); die gleiche Bedeutung hat der Begriff der behördlichen Einschätzungsprärogative. BVerwG [13] Beurteilungsspielräume sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die letztverbindliche Auslegung von Rechtsnormen und die darauf beruhende Rechtsanwendung der Verwaltung zuweisen. Ist eine Verwaltungsentscheidung auf die Wahrnehmung eines Beurteilungsspielraums gestützt, sind die Gerichte darauf beschränkt nachzuprüfen, ob die Verwaltung bei ihrer Normauslegung von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Begriffs ausgegangen und nicht von gesetzlichen oder allgemein gültigen Wertungsmaßstäben wie dem Willkürverbot abgewichen ist. In tatsächlicher Hinsicht sind die VGe befugt zu prüfen, ob die Verwaltung den ihrer Rechtsanwendung zugrunde liegenden erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt und die verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorgaben eingehalten hat (st. Rspr; vgl. BVerwGE 153, 129 Rn. 33; 156, 75 Rn. 24).

Ausdrücklich eingeräumt wird ein Beurteilungsspielraum durch § 10 II 2 TelekommunikationsG, der Sache nach auch durch § 5 III 2 des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung. Allgemein anerkannt ist die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle bei Prüfungsentscheidungen, bei denen den Prüfern ein Beurteilungsspielraum eingeräumt wird, ebenso bei beamtenrechtlichen Beurteilungen. Auch Prognoseentscheidungen, z. B. über einen voraussichtlichen künftigen Bedarf, sind infolge ihrer Eigenart nur begrenzt überprüfbar. Bei naturschutzrechtlichen Entscheidungen darf das VG, wenn keine (weiteren) gesicherten Erkenntnisse zur Verfügung stehen, der „plausiblen Einschätzung der Behörde zu der fachlichen Frage“ folgen, ohne selbst eine Prüfung vorzunehmen (BVerfGE 149, 407 LS 2 Satz 1; Ludwigs DÖV 2020, 411 mit Fn. 72-78; Sachs JuS 2019, 184).

cc) Bis zu dem hier behandelten Urteil des BVerwG wurde auch die Entscheidung eines weisungsfreien, mit Sachverständigen und pluralistisch besetzten Gremiums wie der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, nur ganz beschränkt überprüft (BVerwGE 91, 211, 215 ff.; Überblick bei Beisel NVwZ 2020, 242). Diese Ansicht hat das BVerwG nunmehr aufgegeben, dazu LS 3: Dem Zwölfer-Gremium der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien steht auch für die Entscheidung über den Vorrang von Jugendschutz oder Kunstfreiheit im Rahmen der Abwägung kein Beurteilungsspielraum zu. [18,19] Auf der Grundlage der bindenden Aussagen des BVerfG zur Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in der Entscheidung „Josefine Mutzenbacher" (BVerfGE 83, 130) kann nicht mehr überzeugend begründet werden, dass… die Letztentscheidungsbefugnis für die abschließende Vorrangentscheidung im Rahmen der Abwägung der Belange Jugendschutz und Kunst dem Zwölfer-Gremium der BPM vorbehalten sein soll… Der Senat vermag keinen tragfähigen Grund zu erkennen, der die Annahme eines Beurteilungsspielraums des Zwölfer-Gremiums für den durch die Gewichtung der widerstreitenden Belange vorgezeichneten Schlussakt der Vorrangentscheidung rechtfertigen könnte. Für die VGe erweist sich die Entscheidung jedenfalls als nicht übermäßig schwierig. Die durch § 19 Abs. 2 bis Abs. 6 JuSchG vorgegebene besondere Ausstattung des entscheidungszuständigen Zwölfer-Gremiums der BPM…reicht im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht aus, um dem Gremium einen Beurteilungsspielraum zuzuerkennen. Auch dass eine Abwägung zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit zu erfolgen hat, mindert die Kontrolldichte nicht. Somit bleibt es in einem solchen Fall bei der Geltung des oben B III 1 a) dargestellten Grundsatzes. (Zur Frage, ob diese Kehrtwende auch für andere, ähnliche Fälle gilt, Beisel NVwZ 2020, 242.)

2. Folglich hat das VG eigenverantwortlich über das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Indizierung nach § 18 I, III Nr. 2 JuSchG zu entscheiden.

a) Hierfür entwickelt das BVerwG konkrete Prüfungsschritte. [32-35] (1) Zunächst muss der Aussagegehalt des Mediums bestimmt werden. (2) Von dem Aussagegehalt eines Mediums können insbesondere dann jugendgefährdende Wirkungen ausgehen, wenn dieses die Botschaft vermittelt, Empathie und Solidarität mit anderen, insbesondere Schwächeren und Angehörigen von Minderheiten, stellen eine hinderliche Schwäche dar, sodass skrupellos kriminelles Verhalten erstrebenswert sei und Personen mit anderen Auffassungen oder Lebensweisen mit Gewalt bekämpft oder verächtlich gemacht werden können. (3) Daran schließt sich die Beurteilung an, ob durch das Medium eine sozial-ethische Desorientierung der gefährdungsgeneigten, weil hierfür nach Veranlagung, Geschlecht, Erziehung oder Lebensumständen empfänglichen Minderjährigen begründet oder verfestigt werden kann. (4) Handelt es sich um ein Kunst, muss abschließend die Abwägung zwischen Jugendschutz und Kunst (oben B I 2 a cc) erfolgen. (Zu den vier Prüfungsschritten auch Liesching NJW 2020, 736/7.)

b) Die Indizierungsentscheidung des Zwölfer-Gremiums behält Bedeutung als Sachverständigengutachten. BVerwG [50, 51] Dementsprechend vermitteln die Feststellungen und die darauf beruhenden Wertungen des Zwölfer-Gremiums zur Jugendgefährdung sowie zur Kunsteigenschaft eines Werks und dessen künstlerischem Gehalt den Verwaltungsgerichten die Grundlagen für die richterliche Überzeugungsbildung. Sie können für die gerichtliche Entscheidungsfindung nach den verwaltungsprozessualen Regeln des Sachverständigenbeweises verwertet werden. Dementsprechend sind die Verwaltungsgerichte grundsätzlich berechtigt und verpflichtet, die von besonderer Sachkunde getragenen Erkenntnisse des Zwölfer-Gremiums ohne weitere Sachaufklärung zugrunde zu legen… Nach den Regeln des Sachverständigenbeweises gilt dies aber nicht, wenn begründeter Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit von Mitgliedern des Zwölfer-Gremiums besteht, wenn dessen Erkenntnisse auf einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt beruhen, erkennbar inhaltliche Widersprüche aufweisen oder nicht nachvollziehbar sind. (Kritisch zum Zwölfer-Gremium als Sachverständigenkommission Beisel NVwZ 2020, 242/3.)

3. Die vorstehend entwickelten Überlegungen sind nunmehr anzuwenden.

a) Was die Prüfungsschritte Aussagegehalt des Albums, jugendgefährdender Inhalt und Wirkung auf gefährdete Minderjährige betrifft, sind die in der Entscheidung des Zwölfer-Gremiums enthaltenen Feststellungen und Wertungen zugrunde zu legen, nach denen eine Jugendgefährdung zu bejahen ist. Für eine fehlerhafte Beurteilung bestehen keine Anhaltspunkte. BVerwG [53-62], zusammenfassend [57] Die Interpretation der Texte des Albums durch das Zwölfer-Gremium drängt sich auf. Die Titel Nr. 1 bis 14 propagieren die Vorzüge des kriminellen und auf brutaler Gewalt beruhenden Lebensstils von B und eine abschätzige, in vulgären Beleidigungen geäußerte Einstellung gegenüber Frauen und Homosexuellen. Insoweit erhebt B auch keine Einwände, sondern bestätigt diese Beurteilung mittelbar, indem er darin gerade seinen künstlerischen Anspruch sieht. Somit handelt es sich bei dem Album Sonny Black um ein M edium, das geeignet ist, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu einer gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden. [58] Dies berechtigt auch zu der Annahme, dass das Album die Voraussetzungen der Regelbeispiele der verrohenden Wirkung sowie des Anreizes zu Gewalttätigkeit und Verbrechen im Sinne von § 18 Abs. 1 Satz 2 JuSchG erfüllt.

b) Weiterhin muss eine Abwägung mit der Freiheit der Kunst stattfinden, wenn das Album unter den Kunstbegriff fällt. BVerwG [35] Maßgebend ist der Kunstbegriff des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Er umfasst die freie schöpferische Gestaltung, durch die Künstler Eindrücke, Erfahrungen oder Erlebnisse durch das Medium einer bestimmten Formensprache zum Ausdruck bringen… Die Kunsteigenschaft eines Werks ist ausschließlich aufgrund der Ausdrucksformen zu beurteilen. Sie ist auch dann gegeben, wenn das Werk in Konflikt mit Rechten anderer oder anderen geschützten Rechtsgütern steht (BVerfGE 83, 130, 138; 142, 74 Rn. 90). Die Titel des Albums Sonny Black sind freie schöpferische Gestaltungen, durch die B Erfahrungen und Erlebnisse durch die Medien Text und Musik zum Ausdruck bringt. BVerwG [63] Bei den Titeln des Albums handelt es sich um Kunst der Gattung Rapmusik…

c) Zur Gewichtung und Abwägung enthält die im Sachverhalt wiedergegebene Begründung der Indizierungsentscheidung nur das Ergebnis und die Aussage, dass das Album Unterhaltung darstelle, bei dem die Musik ohne Bedeutung für den Aussagegehalt der Texte sei. Das bedarf ergänzender Überlegungen zur Frage, ob dem Jugendschutz oder der Kunstfreiheit der Vorrang zukommt.

Nach Auffassung des B geht sein künstlerischer Anspruch dahin, zu zeigen, dass ein Leben nach den dargestellten Maximen möglich und erfolgreich sei. Damit gibt er aber nur den Inhalt seiner Texte wieder, ohne dass damit ein besonderer künstlerischer Wert dargetan wird. Er das Gutachten eines Literaturwissenschaftlers angekündigt, das aber lediglich den künstlerischen Gehalt des Albums attestieren soll. Dass ein solcher besteht, wird bereits dadurch anerkannt, dass das Album als Kunst behandelt wird. Eine weitergehende Aussage im Sinne eines Vorrangs vor dem Jugendschutz liegt darin nicht, zumal ein Literaturwissenschaftler über keine besondere Sachkunde im Hinblick auf den Jugendschutz verfügt. Andere Argumente dafür, dass ein mit Musik unterlegter Text, der ein auf Gewalt gegründetes, teilweise kriminelles Leben Jugendlichen gegenüber anpreist, einen besonderen künstlerischen Wert hat, sind nicht ersichtlich. BVerwG [67,68] Bei der gebotenen Abwägung der widerstreitenden Belange kommt dem Jugendschutz Vorrang zu. Die jugendgefährdenden Einflüsse des Albums wiegen schwer… Es wird suggeriert, dass ein Lebensstil zu Reichtum führt und gegenüber Strafverfolgung unantastbar macht, der ohne jede Einschränkung auf das „Recht des Stärkeren" setzt… Es liegt nahe, dass diese Ansammlung sozial-ethisch desorientierender Botschaften einen verheerenden Einfluss auf hierfür empfängliche Minderjährige aus dem beschriebenen sozialen Umfeld haben kann, zumal der Gangsterboss erkennbar als alter ego des B auftritt. Demgegenüber lassen sich keine Hinweise darauf entnehmen, dass B mit den Darstellungen des Gangsterbosses und der vulgär-beleidigenden Sprache ein über Unterhaltung hinausgehendes künstlerisches Konzept verfolgt. Im Ergebnis wird somit auch insoweit der Begründung des Zwölfer-Gremiums gefolgt. (Zur Behandlung der Indizierung, wenn das VG der Auffassung der BPM nicht folgt, Liesching NJW 2020, 736.)

IV. Ergebnis: Die Voraussetzungen für eine Indizierung nach § 18 I, III Nr. 2 JuSchG liegen vor. Da diese Vorschrift zu einer gebundenen Entscheidung ermächtigt, ist die Indizierung ein rechtmäßiger VA. Eine Anfechtungsklage ist unbegründet und hat keine Aussicht auf Erfolg.


Zusammenfassung