Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Einbürgerung des Ehegatten, §§ 8, 9 StAG. Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung, § 48 VwVfG. Einfluss des Art. 16 GG, zeitnahe Rücknahme. Voraussetzungen und Ermessen bei Einbürgerung und Rücknahme

BVerwG Urteil vom 14. 2. 2008 (5 C 4.07) DVBl 2008, 863

Fall
(Zweitehe in Pakistan)

K stammt aus Pakistan und kam nach Deutschland in das Bundesland L, wo er einen Asylantrag stellte. Dieser wurde bestandskräftig abgelehnt. 1989 heiratete er eine deutsche Staatsangehörige und erhielt zunächst eine Aufenthaltserlaubnis. 1992 beantragte er seine Einbürgerung. In dem Antragsformular bezeichnete er sich als „verheiratet“ und gab die Personalien seiner damaligen Ehefrau an. In der Rubrik Kinder vermerkte er „männlich“. Im Dezember 1993 erhielt er von der zuständigen B-Behörde die Einbürgerungsurkunde ausgehändigt. 1997 wurde die Ehe geschieden. Als K im Jahre 2000 Visa für eine Familienzusammenführung beantragte, stellte sich heraus, dass K im Jahre 1991 in Pakistan eine Zweitehe mit einer pakistanischen Staatsangehörigen geschlossen hat, aus der drei Kinder hervorgegangen sind und die noch besteht. Mit Bescheid vom 20. 6. 2002 nahm die B-Behörde die Einbürgerung von 1993 in formell fehlerfreier Weise mit Rückwirkung auf Dezember 1993 zurück und begründete dies damit, K habe die Behörde über das Bestehen der Zweitehe getäuscht. Aufgrund der Zweitehe sei die für eine Einbürgerung notwendige Vermutung widerlegt, bei K werde die eheliche Gemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen zu einer alsbaldigen Integration in die deutschen Lebensverhältnisse führen. K hat gegen die Rücknahme vom 20. 6. 2002 in zulässiger Weise verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage erhoben. Mit Aussicht auf Erfolg ?

Hinweis: Bei der Lösung des Falles ist das Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) in der zum Zeitpunkt der Entscheidung (14. 2. 2008) geltenden Fassung anzuwenden.

I. Nach § 113 I 1 VwGO ist erste Voraussetzung für die Begründetheit der Anfechtungsklage, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Somit ist die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Rücknahmebescheids vom 20. 6. 2002. zu prüfen.

1. Anwendbare Ermächtigungsgrundlage könnte § 48 I 1 VwVfG des Landes L sein.

a) Diese Vorschrift wäre allerdings nicht anwendbar, wenn eine spezielle Ermächtigung für die Rücknahme von Einbürgerungen vorhanden wäre (Subsidiarität des VwVfG, vgl. dort § 1). Das ist aber nicht der Fall. Insbesondere regelt das StAG zwar die Einbürgerung (§§ 8 ff. StAG), nicht jedoch deren Rücknahme.

b) Gegen die Anwendbarkeit der allgemeinen Rücknahmevorschrift des § 48 VwVfG sind Bedenken unter mehreren Gesichtspunkten erhoben worden: Eine Rücknahme könnte gegen Art. 16 I 1 GG verstoßen, wonach die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden darf. Auch könnte § 48 VwVfG einen nach Art. 16 I 2 GG unzulässigen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit enthalten. Weiterhin könnte das Prinzip vom Gesetzesvorbehalt eine genauere Regelung zumindest der Folgen einer solchen Rücknahme, etwa deren Auswirkungen auf Kinder, verlangen. Mit diesen Bedenken hat sich das BVerfG in E 116, 24 befasst und hat entschieden:

1. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG schließt die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung nicht grundsätzlich aus.
2. Eine Auslegung des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG, nach der das Verbot der Inkaufnahme von Staatenlosigkeit sich auch auf den Fall der erschlichenen Einbürgerung erstreckte, entspricht nicht dem Willen des Verfassungsgebers; sie liegt außerhalb des Schutzzwecks der Norm.
3. Für den Fall der zeitnahen Rücknahme einer Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst getäuscht hat, bietet § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz für Baden-Württemberg eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage.

Diese Grundsätze sind nach § 31 I BVerfGG für alle Behörden und Gerichte bindend, so dass auch im vorliegenden Fall von ihnen auszugehen ist. § 48 I 1 VwVfG des Landes L ist somit die anwendbare Ermächtigungsgrundlage.

2. Formelle Gründe für eine Rechtswidrigkeit bestehen nicht. Die Jahresfrist des § 48 IV 1 VwVfG ist analog § 48 IV 2 VwVfG auf eine Rücknahme, die mit einer arglistigen Täuschung begründet wird, nicht anwendbar.

3. In materieller Hinsicht müssen zunächst die Voraussetzungen des § 48 I 1 VwVfG als Ermächtigungsgrundlage vorliegen.

„Täuschung der Behörde“ ist kein Rücknahmegrund. Zwar behandelt § 48 II 3 Nr. 1 den Fall einer „arglistigen Täuschung“, jedoch handelt es sich hier um keine Ermächtigung, sondern um den Ausschluss von Vertrauensschutz. Auch ist der ganze Absatz 2 auf die Einbürgerung, die kein auf eine Geld- oder Sachleistung gerichteter VA ist, nicht anwendbar.

a) § 48 I 1 hat zur Voraussetzung, dass der zurückgenommene VA rechtswidrig war. Zurückgenommener VA ist hier die Einbürgerung von 1993. Deren Rechtmäßigkeit richtet sich nach §§ 8, 9 StAG.

aa) Davon, dass die Voraussetzungen des § 8 StAG im Fall des K vorgelegen haben, kann ausgegangen werden. Insoweit werden von der B-Behörde auch keine Bedenken erhoben.

bb) Ob die Voraussetzungen des § 9 I Nr. 1 StAG, wonach der Einbürgerungsbewerber grundsätzlich auf seine bisherige Staatsangehörigkeit verzichten muss, vorgelegen haben, lässt sich nach dem Sachverhalt nicht entscheiden. Da aber die Behörde ihre Rücknahme nicht auf diesen Gesichtspunkt gestützt hat, darf davon ausgegangen werden, dass diese Vorschrift der Einbürgerung nicht entgegen gestanden hat.

cc) Nach § 9 I Nr. 2 StAG darf eine Einbürgerung nur erfolgen, wenn gewährleistet ist, dass der Einbürgerungsbewerber sich in die deutschen Lebensverhältnisse einordnet. Wie die B-Behörde zutreffend ausgeführt hat, ist das nicht der Fall, wenn ein Einbürgerungsbewerber weiterhin Frau und Kinder in seinem Heimatland hat. Denn dann wird er weiterhin engen Kontakt mit seinem Heimatland und den dortigen Verhältnissen halten und auch die Möglichkeit im Auge behalten, dorthin zurückzukehren. Das ist für sich genommen durchaus legitim, kann aber die Integration in Deutschland zumindest erschweren; diese ist dann nicht mehr gewährleistet. Ob der Einbürgerungsbewerber darlegen kann, dass das Vorhandensein einer Heimatfamilie die Integration ausnahmsweise nicht hindert, kann offen bleiben, weil K sich dazu gerade nicht geäußert, das Bestehen der Heimatfamilie vielmehr verschwiegen hat. Somit lag die Voraussetzung des § 9 I Nr. 2 StAG nicht vor. Die Einbürgerung war rechtswidrig. Zugleich steht fest, dass K die Einbürgerung durch Verschweigen wesentlicher Umstände erlangt und deshalb erschlichen hat.

dd) Da der Behörde bei Vornahme der Einbürgerung das Fehlen der Voraussetzung des § 9 I Nr. 2 StAG nicht bekannt war, hat sie eine Entscheidung über die Rechtsfolge getroffen. § 9 StAG ist eine Soll-Vorschrift, d. h. dass bei Vorliegen eines Ausnahmefalles von einer Einbürgerung abgesehen werden darf. Im Hinblick auf einen solchen Ausnahmefall kann erforderlich sein, eine Ermessensentscheidung zu treffen. Ein solcher Ausnahmefall liegt vor, wenn ein Einbürgerungsbewerber nach Eingehen der Ehe mit der Deutschen eine Frau in seinem Heimatland geheiratet und mit dieser Kinder hat. Hier muss erwogen werden, ob allein die Ehe mit einer Deutschen die Einbürgerung rechtfertigt. Es kann davon ausgegangen werden, dass dem Gesetzgeber bei Schaffung des § 9 StAG allein die Einehe mit einem deutschen Ehepartner vor Augen gestanden hat. Die B-Behörde konnte solche Ermessenserwägungen nicht anstellen, weil K ihr diese Tatsachen nicht mitgeteilt hat. Es handelt sich deshalb um den Fall einer Ermessenentscheidung auf der Grundlage einer unvollständigen Tatsachengrundlage, die als Ermessensfehlgebrauch einzuordnen ist. Somit war die Einbürgerung auch wegen eines Ermessensfehlers (§ 114, 1 VwGO) rechtswidrig.

Die in § 48 I 1 VwVfG enthaltenen Rücknahmevoraussetzungen liegen vor.

b) Nach BVerfGE 116, 24 LS 3 (oben I 1 b) muss die Rücknahme zeitnah erfolgen. Darin sieht das BVerfG und ihm folgend das BVerwG eine ungeschriebene, aus Verfassungsrecht (Art. 16 I 2 GG) hergeleitete Einschränkung der Rücknahmevoraussetzung (§ 48 I 1 VwVfG). Im vorliegenden Fall ist die Rücknahme achteinhalb Jahre nach der Einbürgerung erklärt worden.

aa) BVerwG Rdnr. 11:- 18: Mit Rücksicht auf den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der deutschen Staatsangehörigkeit nach Art. 16 Abs. 1 GG bietet § 48 VwVfG nur in bestimmten Fällen eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die Rücknahme von Einbürgerungen (BVerfGE 116, 24;…). Wie das BVerfG a.a.O. hierzu ausgeführt hat, schließt Art. 16 Abs. 1 GG die Rücknahme erschlichener oder auf vergleichbar vorwerfbare Weise erwirkter Einbürgerungen zwar nicht aus. Die Anwendung der allgemein geltenden Rücknahmeermächtigung steht aber nur „für den Fall der zeitnahen Rücknahme einer Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst erwiesenermaßen getäuscht hat“, in Einklang mit dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes. Nur für diesen Fall enthält § 48 VwVfG ein für den Betroffenen berechenbares rechtsstaatliches Abwägungsprogramm und ist dessen Anwendung auch unter dem Aspekt der Gewaltenteilung unbedenklich (BVerfG a.a.O. S. 52).

Nur bei einer zeitnahen Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung sehen die die Entscheidung tragenden Richter des BVerfG die rechtsstaatlichen Mindestanforderungen an die erforderliche Eingriffsgrundlage als gewährleistet an (BVerfG a.a.O.). In anderen Fallkonstellationen ist § 48 VwVfG dagegen „keine hinreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zur Wiederherstellung eines gesetzmäßigen Rechtszustandes“, „weil die grundrechtlich geschützte Erwartung eines Eingebürgerten eine am Maßstab des Gesetzes ausreichend vorhersehbare Verwaltungsentscheidung verlangt“ (BVerfG a.a.O. S. 59). Insoweit ist es dem Gesetzgeber vorbehalten, insbesondere die Rechtsfolgen eines Fehlverhaltens im Einbürgerungsverfahren für den Bestand der Staatsangehörigkeit näher zu regeln (BVerfG a.a.O. S. 60).

bb) Zutreffend geht das OVG davon aus, dass der vom BVerfG verwendete Begriff „zeitnah“ sich auf den von der Einbürgerung bis zu ihrer Rücknahme verstrichenen Zeitraum bezieht und nicht auf eine Entschließungsfrist der Behörde ab Kenntniserlangung der rücknahmebegründenden Umstände, wie sie etwa in § 48 Abs. 4 VwVfG vorgesehen ist. Denn der Bestimmtheit und Voraussehbarkeit von Eingriffen sowie der Stabilität von Statusentscheidungen kommen im Staatsangehörigkeitsrecht besondere Bedeutung zu. Sowohl für den Einzelnen als auch für das Gemeinwesen muss hinreichend klar sein, ab welchem Zeitpunkt der Statusentzug ausgeschlossen ist (…).

cc) Wo eine exakte zeitliche Grenze zwischen der zeitnahen und der nicht mehr zeitnahen Rücknahme der erschlichenen Einbürgerung verläuft, bedarf auch im vorliegenden Fall keiner abschließenden Prüfung und Entscheidung. Ebenso wie das Berufungsgericht kann der Senat offen lassen, wann genau und unter welchen Gesichtspunkten die Rücknahme generell nicht mehr auf § 48 VwVfG gestützt werden kann, solange der Bundesgesetzgeber keine spezielle Regelung trifft. Der Senat neigt freilich nicht dazu, als Anknüpfungspunkt auf die vom Berufungsgericht herangezogenen strafrechtlichen Verjährungsbestimmungen (vgl. etwa § 78 Abs. 3 Nr. 4 und 5 StGB) bzw. die Tilgungsregelungen für strafrechtliche Verurteilungen nach dem Bundeszentralregistergesetz (vgl. § 34 Abs. 1 Nr. 1 und 3 BZRG) abzustellen. Ebenso wenig ist die in § 124 Abs. 3 BGB statuierte absolute zehnjährige Ausschlussfrist entsprechend anwendbar (für eine 5-Jahresgrenze entsprechend § 24 Abs. 2 Satz 2 StARegG vgl. VGH Kassel InfAuslR 1998, 505 f. und OVG Hamburg InfAuslR 2002, 81).

Bei dem zwischen der Einbürgerung des Klägers am 13. Dezember 1993 und deren Rücknahme am 20. Juni 2002 verstrichenen Zeitraum von achteinhalb Jahren jedenfalls kann nach der Überzeugung des Senats nicht mehr von einer zeitnahen Rücknahme gesprochen werden.
Man kann derzeit also davon ausgehen, dass die deutsche Staatsangehörigkeit, auch wenn sie erschlichen wurde, nach frühestens fünf und spätestens acht Jahren nicht mehr entziehbar ist.

Somit ist die Rücknahme nicht mehr zeitnah erfolgt und kann deshalb nicht auf § 48 VwVfG gestützt werden. Ob das von der B-Behörde zu vertreten war, ist unerheblich, weil die Zeitnähe ein objektives, im Interesse der Rechtssicherheit bestehendes Kriterium ist. Die Rücknahme ist wegen Nichteingreifens einer Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig.

4. Da die B-Behörde dies nicht erkannt hat, hat sie - ähnlich wie seinerzeit bei der Einbürgerung selbst (oben I 3 a dd) - außerdem eine Entscheidung über die Rechtsfolge, die Rücknahme, getroffen. Dabei handelte es sich nach § 48 I 1 VwVfG um eine Ermessensentscheidung, die fehlerhaft sein könnte (§ 114, 1 VwGO). Über diese Ermessensentscheidung enthält der Sachverhalt keine Angaben. BVerwG Rdnr. 18: Im rechtlichen Ansatz teilt der Senat die Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts dazu, dass die Zeitdauer des Aufenthaltes des Klägers in Deutschland…als maßgeblicher Abwägungsgesichtspunkt bei der Ausübung des Ermessens einzustellen ist. Dass die Rücknahmeentscheidung diese Zeitdauer, die hier mindestens 13 Jahre (von 1989 bis 2002) betrug, maßgeblich berücksichtigt hat, kann ausgeschlossen werden. Somit ist die Rücknahme zusätzlich wegen Ermessensfehlgebrauchs rechtswidrig.

II. Die Rücknahme verletzt K in seinem Recht aus Art. 16 GG darauf, dass ihm als deutschen Staatsangehörigen nicht zu Unrecht die deutsche Saatangehörigkeit entzogen wird. Die Anfechtungsklage ist begründet.


Zusammenfassung