Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Verfassungsbeschwerde gegen ein Unterlassen von Bundesregierung und Bundestag, mittelbar gegen Maßnahmen der EU: gegen Beschluss der EZB und Urteil des EuGH. „Ausbrechender EU-Akt“: Identitätskontrolle (Art. 23 I 3, 79 III GG) und Kompetenzkontrolle (Art. 23 I 2 GG). EZB-Zuständigkeit für Währungs- und Geldpolitik (Art. 119 I, 127 AEUV). Verbot der Staatsfinanzierung durch EZB (Art. 123 AEUV). Offensichtlichkeit einer Kompetenzüberschreitung. Bindung des BVerfG an EuGH-Urteil nach Vorlageverfahren (Art. 267 AEUV)

BVerfG
Urteil vom 21. 6. 2016 (2 BvR 2728/13) BVerfG NJW 2016, 2473 = DVBl 2016, 1050

Fall (OMT-Programm der EZB)

Im Zuge der Finanzkrise in der Eurozone hat die Europäische Zentralbank (EZB), eine Einrichtung der Europäischen Union (EU), eine Reihe von Maßnahmen getroffen, die nicht die erhoffte Wirkung hatten. So haben geldpolitische Entscheidungen wie die Senkung des Leitzinses nicht zu einer verstärkten Kreditvergabe durch die Banken geführt und die Aktivitäten der Wirtschaft nur wenig beeinflusst, was als Störung des Transmissionsmechanismus der Geldpolitik bezeichnet wird. Einige EU-Mitgliedstaaten mussten bei Ausgabe ihrer Staatsanleihen hohe Zinsen zahlen, die die Geldgeber als Risikoprämien von diesen Ländern verlangten; darin sah die EZB eine Störung der Finanzmärkte.

Ergänzend zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) als Grundlage des „Euro-Rettungsschirms“ beschloss die EZB am 6. 9. 2012 das Programm Outright Monetary Transactions („vorbehaltlose geldpolitische Transaktionen“, OMT). Laut einer Pressemitteilung vom selben Tage geht der OMT-Beschluss dahin, dass Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten von der EZB in unbegrenzter Höhe aufgekauft werden können, wenn diese Mitgliedstaaten an einem mit dem ESM vereinbarten Reformprogramm teilnehmen. Das hiermit verfolgte Ziel sei, die geldpolitische Transmission, die Einheitlichkeit der Geldpolitik und das Funktionieren der Finanzmärkte zu sichern. Die Staatsanleihen werden nicht direkt von den ausgebenden Staaten erworben, sondern den Ersterwerbern - am Sekundärmarkt - abgekauft. Bei der Durchführung des Programms ist eine Mitwirkung der Deutschen Bundesbank vorgesehen. Bisher brauchte das OMT-Programm nicht in Anspruch genommen zu werden. Für die von der EZB erstrebte Beruhigung der Finanzmärkte hatte die bloße Ankündigung des Programms ausgereicht.

G, ein prominenter konservativer Politiker und Rechtsanwalt, sieht in dem OMT-Beschluss der EZB eine Überschreitung ihrer Kompetenzen. Diese seien auf die Gewährleistung der Preisstabilität und damit auf die Währungs- und Geldpolitik beschränkt (Art. 127 I 1 AEUV). Die mit dem Ankaufprogramm verfolgten Zwecke gehörten zu der den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Wirtschaftspolitik (Art. 120 AEUV). Keinesfalls zulässig sei ein Ankauf in unbegrenzter Höhe. Auch bedeute das Programm eine der EZB nach Art. 123 AEUV untersagte Staatsfinanzierung. Weiterhin seien mit dem Ankauf von Staatsanleihen, deren Einlösung nicht durchweg gesichert sei, Haftungs- und Zahlungsrisiken zulasten des Bundeshaushalts verbunden, die die für die Demokratie grundlegende haushaltspolitische Verantwortung des Deutschen Bundestages und dessen Budgetrecht beeinträchtigen. G hat deshalb Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Das Bundesverfassungsgericht folgte den Argumenten des G weitgehend (BVerfGE 134, 366) und sah insbesondere in dem OMT-Beschluss eine Überschreitung der Kompetenzen der EZB. Vor einer endgültigen Entscheidung legte es aber die europarechtlich wesentlichen Fragen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor (Wiedergabe der Fragen bei BVerfG [66]).

Das daraufhin ergangene Urteil des EuGH (NJW 2015, 2013 -„Gauweiler“; Wiedergabe bei BVerfG [67; 69-127]) teilte die Bedenken des G und des BVerfG nicht und kam zu einer Auslegung der Art. 119, 127, 123 AEUV, wonach diese Vorschriften die EZB „dazu ermächtigen, ein Programm für den Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten wie das in der Pressemitteilung angekündigte zu beschließen.“ Das Ziel des Programms sei nach der Erklärung der EZB auf die Geldpolitik gerichtet und falle damit unter die - vom AEUV nicht näher definierte - Währungspolitik. Die wirtschaftspolitischen Auswirkungen seien nur Nebenfolgen und durch die Pflicht der EZB gedeckt, die Wirtschaftspolitik zu unterstützen (Art. 127 I 2 AEUV). Allerdings dürfe von dem Programm nur Gebrauch gemacht werden, soweit das zur Erreichung der Ziele der EZB erforderlich sei, was insbesondere für den Umfang des Ankaufs und dessen Zeitdauer gelte und durch eine Begründung deutlich gemacht werden müsse. Ob das Gebrauchmachen von dem Programm den genannten - und einigen weiteren - Anforderungen entspreche, könne durch Klage vor dem EuGH zur Überprüfung gestellt werden.

Wie wird das BVerfG endgültig über die Verfassungsbeschwerde des G entscheiden?

Lösung

A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (VfB)

I. Nach § 90 I BVerfGG muss sich die VfB gegen einen Hoheitsakt richten.

1. G wendet sich gegen den OMT-Beschluss der EZB. Beschwerdegegenstand einer VfB kann aber nur ein deutscher Hoheitsakt sein. Maßnahmen von EU-Organen können nicht unmittelbar mit einer VfB angegriffen werden. BVerfG [97] Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union sind keine Akte deutscher öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG und daher auch nicht unmittelbarer Beschwerdegegenstand im Verfahren der Verfassungsbeschwerde (…). Das gilt auch für Maßnahmen der EZB. [96] Die VfB des G ist unzulässig, soweit sie sich gegen den Grundsatzbeschluss vom 6. September 2012 über das OMT-Programm richtet.

2. Eine mittelbare Überprüfung von EU-Rechtsakten und der Anwendung von EU-Recht ist möglich, wenn diese von deutschen Gerichten oder Behörden vollzogen werden, so wie im Fall BVerfG NJW 2016, 1149 („Auslieferung nach Italien - Haftbefehl II“). Ein solcher Vollzug ist im vorliegenden Fall aber nicht erfolgt. Er könnte darin liegen, dass das OMT-Programm noch verwirklicht wird und die deutsche Bundesbank dabei mitwirkt; das ist aber bisher nicht geschehen.

3. In solchem Fall ist nur möglich, von den Verfassungsorganen der BRD zu verlangen, dass sie gegen den vermeintlich verfassungswidrigen Hoheitsakt eines Organs der EU einschreiten, insbesondere dagegen vor dem EuGH Klage erheben. Die VfB richtet sich dann dagegen, dass sie das unterlassen. Nach § 95 I, II BVerfGG kann sich die VfB auch gegen ein Unterlassen richten. Dementsprechend hat G im vorliegenden Fall erklärt, dass er sich dagegen wendet, dass die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag in Ansehung des OMT-Beschlusses der EZB untätig geblieben sind. Insbesondere beanstandet er, dass die Bundesregierung es unterlässt, die EZB vor dem EuGH zu verklagen.

BVerfG [99] zu 2. und 3.: Eine Prüfungsbefugnis des BVerfG in Bezug auf Maßnahmen nichtdeutscher Hoheitsträger besteht daher insoweit, als diese Maßnahmen entweder Grundlage von Handlungen deutscher Staatsorgane sind (vgl. BVerfGE 134, 366, 382 Rn. 23) oder aus der Integrationsverantwortung folgende Reaktionspflichten deutscher Verfassungsorgane auslösen (vgl. BVerfGE 134, 366, 394 ff. Rn. 44 ff.; 135, 317, 393 f. Rn. 146). - Soweit in den Fällen 2. und 3. EU-Rechtsakte überprüft werden, geschieht das als Vorfrage zur Überprüfung eines Handelns oder Unterlassens der deutschen Staatsgewalt.

II. G muss die Verletzung eines Grundrechts behaupten (§ 90 I BVerfGG). Ein unmittelbar auf das Tätigwerden von Bundestag oder Bundesregierung zur Abwehr von Maßnahmen eines EU-Organs gerichtetes Grundrecht gibt es nicht. Das BVerfG hat in st. Rspr. für die hier gegebene Situation folgenden Gedankengang entwickelt (BVerfG [80-84]):

1. Wenn, wie G behauptet, die EZB ihre Kompetenzen überschreitet und dadurch Befugnisse in Anspruch nimmt, die der EU nicht zustehen, verkürzt sie die Kompetenzen der deutschen Staatsorgane, denen diese Befugnisse zustehen, insbesondere die des Bundestages. Aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts werden in solchem Fall Art. 23 I 2 und 3 i. V. mit Art. 79 III GG und zugleich das Demokratieprinzip (Art. 20 I, II GG) verletzt. Es handelt sich dann um einen aus den der EU übertragenen Kompetenzen „ausbrechenden Rechtsakt“.

2. Mit ihrem Wahlrecht aus Art. 38 I 1 GG verwirklichen die Staatsbürger ihre demokratischen Befugnisse und erteilen dem Bundestag das Mandat zum Handeln. Werden dem Bundestag Aufgaben entzogen, indem sie zu Unrecht von EU-Organen in Anspruch genommen und dadurch auf diese verlagert werden, wird dieses Wahlrecht verletzt. Das Wahlrecht des Art. 38 I 1 GG ist ein grundrechtsgleiches Recht und berechtigt zur Erhebung einer VfB (Art. 93 I Nr. 4 a GG).

3. Die deutschen Verfassungsorgane sind verpflichtet, einer solchen Verletzung entgegenzutreten.

Dieser Gedankengang wird innerhalb der Begründetheitsprüfung noch genauer dargestellt. An dieser Stelle genügt die Feststellung, dass G eine Verletzung des Art. 38 I 1 GG behauptet und damit das Erfordernis der Beschwerdebefugnis nach § 90 I BVerfGG erfüllt. (Im Originalfall hatte der Beschwerdeführer hierzu eingehend vorgetragen, vgl. BVerfG [10-14, 86-89, 94].)

III. Ein Rechtsweg (§ 90 II BVerfGG) ist gegenüber einem Unterlassen von Verfassungsorganen nicht vorgesehen. Auch läuft keine Frist.

IV. Dass der OMT-Beschluss bisher nicht umgesetzt wurde, steht der VfB nicht entgegen, weil er noch umgesetzt werden kann und auch bereits Wirkungen gezeigt hat (BVerfG [90, 91]). Die VfB des G ist zulässig.

B. Begründetheit der VfB

Die VfB ist begründet, wenn G durch das Unterlassen von Bundesregierung und Bundestag in seinem Grundrecht aus Art. 38 I 1 GG i. V. mit Art. 23 I 2 und 3; 79 III; 20 I, II GG verletzt wird.

I. Zunächst ist der Inhalt des Rechts aus Art. 38 I 1 GG bezogen auf die hier gegebene Situation näher darzustellen (vertiefend zu A II).

1. BVerfG [123-126] Nach st. Rspr. des BVerfG erschöpft sich das dem Einzelnen in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG garantierte Wahlrecht zum Deutschen Bundestag nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-) Staatsgewalt, sondern umfasst auch dessen grundlegenden demokratischen Gehalt (vgl. BVerfGE 89, 155, 171, Maastricht-Urteil; 129, 124, 168; 134, 366, 396 Rn. 51). Dazu gehört namentlich der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Grundsatz der Volkssouveränität und der damit zusammenhängende Anspruch des Bürgers, nur einer öffentlichen Gewalt ausgesetzt zu sein, die er auch legitimieren und beeinflussen kann… .

a) Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG schützt die wahlberechtigten Bürger daher vor einem Substanzverlust ihrer im verfassungsstaatlichen Gefüge maßgeblichen Herrschaftsgewalt dadurch, dass die Rechte des Bundestages wesentlich geschmälert werden und damit die Gestaltungsmacht desjenigen Verfassungsorgans verloren geht, das unmittelbar nach den Grundsätzen freier und gleicher Wahl zustande gekommen ist (…).

b) Der in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verankerte Anspruch des Bürgers auf demokratische Selbstbestimmung (…) ist allerdings strikt auf den in der Würde des Menschen wurzelnden Kern des Demokratieprinzips begrenzt (Art. 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG). Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewährt keinen Anspruch auf eine über dessen Sicherung hinausgehende Rechtmäßigkeitskontrolle demokratischer Mehrheitsentscheidungen. Er dient nicht der inhaltlichen Kontrolle demokratischer Prozesse, sondern ist auf deren Ermöglichung gerichtet (…). Als Grundrecht auf Mitwirkung an der demokratischen Selbstherrschaft des Volkes verleiht Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich keine Beschwerdebefugnis gegen Parlamentsbeschlüsse, insbesondere Gesetzesbeschlüsse (BVerfGE 129, 124, 168).

2. BVerfG [129-133] Der in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG verankerte Anspruch des Bürgers auf demokratische Selbstbestimmung gilt ausweislich von Art. 23 Abs. 1 GG grundsätzlich auch in Ansehung der europäischen Integration.

a) Im Anwendungsbereich des Art. 23 Abs. 1 GG schützt Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG davor, dass die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflussnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Deutschen Bundestages auf die europäische Ebene entleert wird (vgl. BVerfGE 89, 155, 172; 123, 267, 330, Lissabon-Urteil; 134, 366, 396 Rn. 51)….Der Kern des aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG folgenden „Anspruchs auf Demokratie“ steht auch in Ansehung von Maßnahmen der EU nicht zur Disposition.

b) [134] Zur Sicherung seiner demokratischen Einflussmöglichkeiten im Prozess der europäischen Integration hat der Bürger ferner grundsätzlich ein Recht darauf, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten nur in den vom Grundgesetz dafür vorgesehenen Formen der Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3, Art. 79 Abs. 2 GG erfolgt (vgl. BVerfGE 134, 366, 397 Rn. 53). Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG wird verletzt, wenn ein Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG in die dem Bundestag vorbehaltenen Befugnisse etwa im Bereich der Haushalts- oder Wehrpolitik (…) eingreift oder das beabsichtigte Integrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festlegt, weil dies die Inanspruchnahme nicht benannter Aufgaben und Befugnisse durch die EU ermöglichte und einer Generalermächtigung gleichkäme (…).

c) [135] Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG schützt auch vor einer eigenmächtigen Inanspruchnahme hoheitlicher Befugnisse durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU, weil durch ein solches Verhalten der demokratische Entscheidungsprozess, den Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 und Abs. 3 GG gewährleisten, unterlaufen wird (vgl. BVerfGE 134, 366, 397 Rn. 53;…).

II. Der Beschluss der EZB über das OMT-Programm könnte eine eigenmächtige Inanspruchnahme hoheitlicher Befugnisse sein (oben I 2 c), durch die dem Bundestag zustehende Aufgaben unzulässig auf ein EU-Organ verlagert werden (oben I 2 a).

1. Die Voraussetzungen, unter denen eine eigenmächtige Inanspruchnahme und eine unzulässige Verlagerung zu bejahen ist, wurden unter I ausschließlich mit Hilfe von Vorschriften des deutschen Verfassungsrechts entwickelt. Jedoch könnte eine Anwendung von Vorschriften des GG auf einen Beschluss der EZB - und später auf das diesen Beschluss bestätigende Urteil des EuGH - gegen das in Art. 23 GG niedergelegte Prinzip der europäischen Integration verstoßen. Es bedarf deshalb einer genaueren Bestimmung des dem BVerfG zur Verfügung stehenden Prüfungsmaßstabs.

a) BVerfG [116-119] Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wirkt die Bundesrepublik Deutschland an der Gründung und Fortentwicklung der Europäischen Union mit… Mit der Verpflichtung Deutschlands auf die Gründung und Fortentwicklung der EU enthält Art. 23 Abs. 1 GG zugleich ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das Unionsrecht (vgl. BVerfGE 126, 286, 302, Fall Mangold/Honeywell;…). Für den Erfolg der EU und die Erreichung ihrer vertraglichen Ziele ist die einheitliche Geltung ihres Rechts von zentraler Bedeutung (…). Als Rechtsgemeinschaft von derzeit 28 Mitgliedstaaten könnte sie nicht bestehen, wenn dessen einheitliche Geltung und Wirksamkeit nicht gewährleistet wäre (vgl. grundlegend EuGH, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1251, 1269 f.).

b) Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die EU zu übertragen, billigt das GG daher auch die im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen enthaltene Einräumung eines Anwendungsvorrangs zugunsten des Unionsrechts. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 129, 78, 100) und führt bei einer Kollision in aller Regel zur Unanwendbarkeit des nationalen Rechts im konkreten Fall (…).

c) Auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG kann der Integrationsgesetzgeber nicht nur Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen, sondern auch deutsche Stellen, die Recht der EU durchführen (….). Das gilt sowohl für die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene, wenn diese Sekundär- oder Tertiärrecht umsetzen, ohne dabei über einen Gestaltungsspielraum zu verfügen (vgl. BVerfGE 118, 79, 95; 122, 1, 20), als grundsätzlich auch für Behörden und Gerichte.

Nach allgemeiner Auffassung ist diese Freistellung auch erfolgt mit der vom BVerfG unter [115] formulierten Konsequenz: Hoheitsakte der EU und durch das Unionsrecht determinierte Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sind mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab des Grundgesetzes zu messen.

2. Anwendungsvorrang des EU-Rechts und Freistellung von den Gewährleistungen des GG haben aber Grenzen. Jenseits dieser Grenzen kann deutsches Verfassungsrecht anwendbar bleiben.

a) BVerfG [120] Der Anwendungsvorrang reicht nur so weit, wie das Grundgesetz und das Zustimmungsgesetz [zur Übertragung von Hoheitsrechten i. S. des Art. 23 I 2 GG] die Übertragung von Hoheitsrechten erlauben oder vorsehen (vgl. BVerfGE 73, 339, 375 f.; 123, 267, 348 ff.; 126, 286, 302; 129, 78, 99; 134, 366, 384… ). Der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl kann nur im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung erteilt werden (…). Grenzen für die Öffnung deutscher Staatlichkeit ergeben sich daher ausweislich des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG aus der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität des Grundgesetzes und dem gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG im Zustimmungsgesetz niedergelegten Integrationsprogramm, das dem Unionsrecht für Deutschland erst die notwendige demokratische Legitimation verleiht.

b) Diese Grenzen - im einzelnen dazu noch unter III - ergeben sich also letztlich aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 I, II GG).

aa) BVerfG [124] Das Grundgesetz geht vom Eigenwert und der Würde des zur Freiheit befähigten Menschen aus und verbürgt im Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die sie betreffende öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, einen menschenrechtlichen Kern des Demokratieprinzips… Der Mensch ist danach eine zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte „Persönlichkeit“. Er wird als fähig angesehen und es wird ihm demgemäß abgefordert, seine Interessen und Ideen mit denen der anderen auszugleichen… Für den politisch-sozialen Bereich bedeutet das, dass es nicht genügt, wenn eine „Obrigkeit“ sich bemüht, noch so gut für das Wohl von „Untertanen“ zu sorgen; der Einzelne soll vielmehr in möglichst weitem Umfange verantwortlich auch an den Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken.

bb) [121] Das…Demokratieprinzip gehört in seinen Grundsätzen zu der in Art. 79 Abs. 3 GG für änderungsfest und in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG auch für integrationsfest erklärten Verfassungsidentität des Grundgesetzes. Es vermittelt dem Bürger in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur Schutz vor einer substantiellen Erosion der Gestaltungsmacht des Deutschen Bundestages, sondern auch vor offensichtlich und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU.

c) Ob diese Grenzen eingehalten werden, wird vom BVerfG überprüft. Diese Kontrolle ist europarechtsfreundlich vorzunehmen (BVerfG [154]) und führt nur dann zur Unanwendbarkeit eines EU-Rechtsakts, wenn die Rechtsverstöße offensichtlich und von erheblichem Gewicht sind (BVerfG [121, 147, 151], Evidenzkontrolle). Die Entscheidung darüber ist dem BVerfG vorbehalten ([155]). Dieses hat zuvor die nicht endgültig geklärten Fragen des EU-Rechts dem EuGH nach Art. 267 AEUV vorzulegen ([156/7]); insoweit besteht ein Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH. Eine solche Kontrolle entspricht der Verpflichtung der EU zur Achtung der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten (Art. 4 II 1 EUV) und verstößt weder gegen das Gebot zu loyaler Zusammenarbeit (Art. 4 III EUV) noch gegen die Europarechtsfreundlichkeit des GG (BVerfG [140, 141]).

III. Wie bereits oben II 2 a, b bb) angesprochen, prüft das BVerfG die Frage, ob eine Verletzung des Art. 38 I 1 GG durch einen „ausbrechenden EU-Rechtsakt“ vorliegt, unter zwei Aspekten, was zu zwei Kontrollmaßstäben führt:

1. [136] Im Rahmen der Identitätskontrolle prüft das BVerfG, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze bei der Übertragung von Hoheitsrechten durch den deutschen Gesetzgeber oder durch eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU berührt werden (vgl. BVerfGE 123, 267, 344, 353 f.;…134, 366, 384 f. Rn. 27). Das betrifft die Wahrung des Menschenwürdekerns der Grundrechte - dessen Verletzung im Fall BVerfG NJW 2016, 1149 („Auslieferung nach Italien - Haftbefehl II“) bejaht wurde - ebenso wie die Grundsätze, die das Demokratie-, Rechts-, Sozial- und Bundesstaatsprinzip im Sinne des Art. 20 GG prägen. Mit Blick auf das Demokratieprinzip ist unter anderem sicherzustellen, dass dem Deutschen Bundestag bei einer Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 GG eigene Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht verbleiben (…) und dass er in der Lage bleibt, seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung wahrzunehmen (…). Die Identitätskontrolle stützt sich also auf Art. 23 I 3, 79 III GG.

2. Bei der auf Art. 23 I 2 GG gestützten Kompetenzkontrolle (dieser Begriff bei Ruffert JuS 2016, 758) prüft das BVerfG, ob es sich um einen „ultra vires“ („jenseits der Befugnisse“) ergangenen Rechtsakt handelt. BVerfG [143] Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU, die ultra vires ergehen, verletzen das im Zustimmungsgesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG niedergelegte Integrationsprogramm. Der Abwendung derartiger Rechtsverletzungen dient das Institut der Ultra-vires-Kontrolle. Mit ihr überprüft das BVerfG, ob eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU das Integrationsprogramm in hinreichend qualifizierter Weise überschreitet….

3. [153] Die Identitätskontrolle einerseits und die Ultra-vires-Kontrolle andererseits stehen als eigenständige Prüfverfahren nebeneinander. Die Identitätskontrolle richtet sich gegen die Inanspruchnahme von Hoheitsbefugnissen, die nicht übertragen werden dürfen. Die Kompetenzkontrolle betrifft Hoheitsbefugnisse, die nicht übertragen worden sind. - Nach Ruffert JuS 2016, 759 dürften diese Kontrollmaßstäbe „alsbald zum Pflichtfachstoff für staats- und europarechtliche Prüfungen gehören.“

4. BVerfG [163] Die Verfassungsorgane trifft aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung darüber hinaus eine Verpflichtung, Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU, die eine Identitätsverletzung bewirken, sowie Ultra-vires-Akten…entgegenzutreten.[171] Dazu zählen mit Blick auf die Bundesregierung insbesondere eine Klage vor dem EuGH (Art. 263 Abs. 1 AEUV), die Beanstandung der fraglichen Maßnahme gegenüber den handelnden und den sie kontrollierenden Stellen, das Stimmverhalten in den Entscheidungsgremien der EU…, Vorstöße zu Vertragsänderungen (vgl. Art. 48 Abs. 2, 50 EUV) sowie Weisungen an nachgeordnete Stellen, die in Rede stehende Maßnahme nicht anzuwenden. Der Deutsche Bundestag kann sich insbesondere seines Frage-, Debatten- und Entschließungsrechts bedienen, das ihm zur Kontrolle des Handelns der Bundesregierung in Angelegenheiten der EU zusteht (vgl. Art. 23 Abs. 2 GG, BVerfGE 131, 152, 196), sowie - je nach Angelegenheit - auch der Subsidiaritätsklage (Art. 23 Abs. 1 a GG i. V. m. Art. 12 Buchstabe b EUV und Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll)… [172] Wie eine grundrechtliche Schutzpflicht kann sich auch die Integrationsverantwortung unter bestimmten rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten.

IV. Die Anwendung der unter I-III entwickelten Voraussetzungen im vorliegenden Fall könnte weitgehenden Beschränkungen aufgrund des im Vorlagebeschlussverfahren (Art. 267 AEUV) ergangenen Urteils des EuGH (Sachverhalt 4. Absatz) unterliegen.

1. BVerfG [68] In seinem Urteil hat der EuGH darauf hingewiesen, dass nach seiner st. Rspr. die vorlegenden Gerichte an die Rechtsprechung des EuGH gebunden sind (EuGH, Gauweiler, a.a.O., Rn. 16); ferner BVerfG [156, 175]. Folglich hat das BVerfG davon auszugehen, dass Art. 119, 127, 123 AEUV die EZB dazu ermächtigen, ein Programm für den Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten wie das in der Pressemitteilung angekündigte zu beschließen. Eine normale Subsumtion durch das BVerfG unter die oben III dargestellten Prüfungsmaßstäbe ist deshalb nicht mehr möglich.

Das Urteil des EuGH ist aber selbst ein Rechtsakt der EU, der einer Identitäts- und Kompetenzkontrolle statthalten muss. Deshalb prüft das BVerfG, ob das den OMT-Beschluss rechtfertigende Urteil des EuGH gegen die oben III dargelegten Anforderungen verstößt.

2. Eine Kompetenzkontrolle könnte dazu führen, dass es sich bei dem OMT-Beschluss in der Beurteilung durch den EuGH um einen Ultra-vires-Akt handelt.

a) In seinem Vorlagebeschluss hatte das BVerfG (E 134, 366, dort [69]) eine Kompetenzüberschreitung angenommen. Demgegenüber hat der EuGH entschieden, dass die EZB ein solches Programm beschließen durfte, also dafür auch zuständig war (im einzelnen dazu BVerfG [176-180]). Für die endgültige Entscheidung der VfB muss das BVerfG zu dieser Divergenz Stellung nehmen.

b) Dabei gibt das BVerfG seine im Vorlagebeschluss geäußerte Kritik am OMT-Beschluss nicht auf, sondern richtet sie nunmehr gegen das Urteil des EuGH. [181] Die dem Urteil des EuGH zugrundeliegende Art und Weise richterlicher Rechtskonkretisierung begegnet aus der Sicht des Senats gewichtigen Einwänden… Diese betreffen in erster Linie das Fehlen einer Begründung dafür, dass der OMT-Beschluss unter die Währungspolitik fällt. Der EuGH hatte die Behauptung der EZB, der Beschluss falle unter die Geldpolitik, ausreichen lassen. [184] Die großzügige Hinnahme behaupteter Zielsetzungen verbunden mit weiten Bewertungsspielräumen der Stellen der EU…ist geeignet, den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU eine eigenständige Disposition über die Reichweite der ihnen von den Mitgliedstaaten zur Ausübung überlassenen Kompetenzen zu ermöglichen (….). Ein solches Kompetenzverständnis trägt der verfassungsrechtlichen Dimension des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I 1 EUV) nicht hinreichend Rechnung. Danach bleibt der Vorwurf einer Kompetenzüberschreitung aufrechterhalten.

c) Um einen zur Verletzung des Art. 38 I 1 GG führenden „ausbrechenden Rechtsakt“ handelt es sich aber nur, wenn die Kompetenzüberschreitung offensichtlich und von erheblichem Gewicht ist (oben B II 2 c). Das ist nicht der Fall, wenn die Beurteilung durch den EuGH noch vertretbar ist.

aa) Hierfür ist wesentlich, dass der EuGH den OMT-Beschluss zwar zunächst großzügig beurteilt und für rechtmäßig hält, davon aber dessen Durchführung unterscheidet und diese deutlichen Schranken gemäß dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 I 2 EUV) unterwirft. BVerfG [193/4] Legt man die vom EuGH herausgestellten Bedingungen zugrunde, so bewegen sich der Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm und dessen etwaige Durchführung jedenfalls nicht offensichtlich außerhalb der der EZB zugewiesenen Kompetenzen. Wie das BVerfG bereits im Vorlagebeschluss E 134, 366 ausgeführt hatte, kann der Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm im Lichte der Art. 119 und Art. 127 AEUV…so ausgelegt oder in seiner Gültigkeit beschränkt werden, dass er das Hilfsprogramm ESM nicht unterläuft und einen die Wirtschaftspolitik in der Union nur unterstützenden Charakter aufweist (BVerfGE 134, 366, 417 Rn. 100). Dem entspricht auch das EuGH-Urteil.

bb) Insbesondere lässt sich das Volumen der Anleihekäufe über die Verhältnismäßigkeit begrenzen. [195] Im Gegensatz zu den aus dem Grundsatzbeschluss vom 6. September 2012 und der damit verbundenen Kommunikation durch die EZB hervorgehenden Parametern erteilt das Urteil des EuGH einer unbegrenzten Ausdehnung des Ankaufprogramms eine Absage. Das Volumen künftiger Ankäufe muss vorab verbindlich festgelegt werden und darf das zur Wiederherstellung des Transmissionsmechanismus erforderliche Maß nicht überschreiten. Das Volumen braucht allerdings, um die Wirksamkeit des Programms nicht zu schwächen, nicht vorher angekündigt zu werden.

Für eine Begrenzung des Programms sprechen auch die Notwendigkeit einer Begründung und die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle. BVerfG [190] Folglich bewegt sich nach den bisherigen Überlegungen der Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm in der vom EuGH vorgenommenen Auslegung nicht „offensichtlich“ außerhalb der der EZB zugewiesenen Kompetenzen im Sinne des Ultra-vires-Kontrollvorbehalts. Er kann „noch hingenommen werden“, ist nach [196] noch „vertretbar“.

d) Zu einer Kompetenzüberschreitung könnte ein Verstoß gegen das Verbot der Staatsfinanzierung (Art. 123 I AEUV; dazu BVerfG [197-204]) führen. Jedoch findet eine Staatsfinanzierung durch unmittelbaren Ankauf der Anleihen vom ausgebenden Staat nicht statt. Der mittelbare Erwerb zielt nicht auf die Staatsfinanzierung, sondern soll die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte erhalten. Auch insoweit werden die Ankäufe durch das Gebot zur Verhältnismäßigkeit begrenzt. Es dürfen nur Anleihen von Staaten angekauft werden, die an einem mit dem ESM vereinbarten Reformprogramm teilnehmen, sich also zumindest auf dem Wege zu einer geordneten Haushaltspolitik befinden. EuGH und BVerfG haben weitere Auflagen formuliert (BVerfG [199, 206, LS 4]). Unter diesen Umständen ist zumindest ein offensichtlicher Verstoß gegen Art. 123 AEUV zu verneinen.

e) Folglich handelt es sich bei dem OMT-Beschluss um keinen ultra vires ergangenen Rechtsakt der EU.

3. Das Vorbringen des G, mit dem Ankauf von Staatsanleihen durch EZB seien Risiken für den Bundeshaushalt verbunden, die die für die Demokratie grundlegende haushaltspolitische Verantwortung des Bundestages beeinträchtigen, bietet den Anlass für eine Identitätskontrolle.

a) BVerfG [211-214] Die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand ist grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat (…). Der Bundestag muss deshalb dem Volk gegenüber verantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entscheiden. Insofern stellt das Budgetrecht ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar… Eine notwendige Bedingung für die Sicherung politischer Freiräume im Sinne des Identitätskerns der Verfassung (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG) besteht darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung seitens der Organe und anderer Mitgliedstaaten der EU trifft und dauerhaft „Herr seiner Entschlüsse“ bleibt (…).

b) [215, 218/9] Zwar ist der Ankauf von Staatsanleihen durch das Eurosystem grundsätzlich geeignet, zu haushaltsbedeutsamen Ausgaben oder Einnahmeausfällen zu führen… In der durch den EuGH vorgenommenen Auslegung birgt das OMT-Programm jedoch kein verfassungsrechtlich relevantes Risiko für das Budgetrecht des Bundestages… Es ist derzeit nicht absehbar, ob und inwieweit sich dem OMT-Programm innewohnende Risiken überhaupt verwirklichen werden. Die vom EuGH vorgesehenen Beschränkungen tragen jedenfalls dazu bei, diese Risiken zu mindern. Von Bedeutung ist insbesondere das Verbot, Anleihen mit erheblichen Ausfallrisiken zu erwerben (vgl. EuGH, Gauweiler, a.a.O., Rn. 116 und 119), auch dürfen Anleihen in der Regel nicht bis zur Endfälligkeit gehalten werden (vgl. EuGH, Gauweiler, a.a.O., Rn. 117 f.). Griechenland, dessen Anleihen ein erhöhtes Ausfallrisiko zugeschrieben wird, verfügt seit dem OMT-Beschluss durchgängig nicht über einen Zugang zum Anleihemarkt, so dass dessen Anleihen auch nicht auf dem Sekundärmarkt angekauft werden können.

V. Ergebnis:

1. OMT-Beschluss und EuGH-Urteil haben der Kompetenz- und der Identitätskontrolle (noch) standgehalten. Das Untätigbleiben der Verfassungsorgane der Bundesrepublik verletzt G nicht in seinem Grundrecht aus Art. 38 I 1 GG. Die VfB ist unbegründet und wird zurückgewiesen.

2. Die Zurückweisung ist aber nur „nach Maßgabe der Gründe“ des BVerfG erfolgt, was zweierlei bedeutet:

a) LS 4: Die Deutsche Bundesbank darf sich an einer künftigen Durchführung des OMT-Programms nur beteiligen, wenn und soweit die vom EuGH aufgestellten Maßgaben erfüllt sind, das heißt u. a. dass das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt ist, nur Schuldtitel von Mitgliedstaaten erworben werden, die einen ihre Finanzierung ermöglichenden Zugang zum Anleihemarkt haben, und die Ankäufe begrenzt oder eingestellt und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden, wenn eine Fortsetzung der Intervention nicht erforderlich ist.

b) [209] Sollten die vom EuGH formulierten Maßgaben für den Ankauf von Staatsanleihen bei der Durchführung des OMT-Programms nicht beachtet werden, so wären Bundesregierung und Bundestag verpflichtet, dagegen mit geeigneten Mitteln (vgl. Rn. 171, oben B III 4) vorzugehen und geeignete Vorkehrungen dafür zu treffen, dass ihre innerstaatlichen Auswirkungen so weit wie möglich begrenzt bleiben.

Deshalb war die VfB des G durchaus nicht erfolglos, sondern trägt dazu bei, ausufernden Kompetenzerweiterungen der EU in diesem Fall und künftig Grenzen aufzuzeigen.


Zusammenfassung I -
ausführlicher

Zusammenfassung II - drei wichtigste Thesen