Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Staatenklage nach Art. 259 AEUV. Unionsrechtswidrigkeit der Pkw-Maut. Diskriminierungsverbot, Art. 18 AEUV; mittelbare Diskriminierung; Rechtfertigung. Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 AEUV; produktbezogene Beeinträchtigung. Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV

EuGH
Urteil vom 18.6.2019 (C-591/17) DVBl 2019, 1194

Fall (Ausländer-Maut)

Nachdem die CSU im Bundestagswahlkampf dafür geworben hatte, ausländische Autofahrer für die Nutzung der Autobahnen in Deutschland durch Erhebung einer Ausländer-Maut zahlen zu lassen, erfolgte nach ihrer Regierungsbeteiligung die Umsetzung, indem vom Bundesgesetzgeber ein Infrastrukturabgabengesetz (InfrAG) beschlossen wurde. Nach § 1 InfrAG wird für die Benutzung der Bundesfernstraßen mit Kraftfahrzeugen bis zu 3,5 t zulässigem Gesamtgewicht eine Abgabe erhoben (Infrastrukturabgabe, Pkw-Maut). Die Abgabe wird durch Erwerb einer Vignette entrichtet (§ 5 InfrAG). Ihre Höhe wird im Gesetz festgelegt und richtet sich nach Hubraum, Antriebsart und Emissionsklasse; sie beträgt maximal 130 Euro. Für jedes in Deutschland zugelassene Kfz muss eine Vignette für ein Jahr erworben werden, unabhängig davon, ob Bundesfernstraßen benutzt werden (§ 7 Abs. 1 InfrAG). Für nicht in Deutschland zugelassene Fahrzeuge stehen nach § 7 Abs. 2 InfrAG Vignetten für unterschiedlich lange Laufzeiten zur Verfügung. Das Gesetz enthält auch Vorschriften über den Vollzug und die Kontrolle. Da die Regierungsparteien versprochen hatten, die Belastung der deutschen Autofahrer nicht zu erhöhen, wurde zeitgleich mit dem Erlass des InfrAG das Kraftfahrzeugsteuergesetz (KraftStG) geändert, indem für inländische Kfz der Steuersatz um den der Infrastrukturabgabe entsprechenden Betrag, maximal 130 Euro, abgesenkt wurde (§ 9 KraftStG). Die Begründung zum InfrAG führte aus, in der Heranziehung aller Nutzer, auch der ausländischen, zu den Kosten für den Bau und die Erhaltung der Bundesfernstraßen liege der längst fällige Wechsel vom System der Steuerfinanzierung zum Prinzip der Benutzer- bzw. Verursacherfinanzierung, wobei der in anderen Ländern (Österreich, Schweiz) bewährten Vignetten-Praxis gefolgt werde. Außerdem diene die Berücksichtigung der Emissionen bei der Höhe der Abgabe dem Umweltschutz.

Der EU-Mitgliedstaat S hält die erlassenen Gesetze für europarechtswidrig. Dass die Bezeichnung der Abgabe als Ausländer-Maut nicht mehr verwendet werde, ändere nichts daran, dass eine einseitige und unzulässige Belastung ausländischer Autofahrer vorliege. Auch verteuere die Maut den grenzüberschreitenden Verkehr mit Waren und Dienstleistungen, was mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei. Dem hält die Bundesregierung entgegen, bei der Infrastrukturabgabe würden Ausländer sogar günstiger gestellt, weil Deutsche für jeden zugelassenen Pkw den vollen Jahresbetrag zahlen müssten, während Ausländer nur für die Zeit der Benutzung der Straßen mautpflichtig sind. Was die Ermäßigung der Kfz-Steuer betrifft, sei das eine rein innerdeutsche Angelegenheit und habe keine Auswirkung auf ausländische Autofahrer. Die beanstandete Verteuerung des Verkehrs sei so geringfügig, dass sie unter die Bagatellgrenze falle.

Die EU-Kommission schloss sich zunächst der Meinung von S an, gab eine Stellungnahme ab und leitete ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein. Als die Bundesregierung zusagte, die Preise für die Ausländer-Vignetten herabzusetzen, verfolgte die Kommission das Verfahren nicht weiter. Nunmehr hat der Staat S Klage vor dem EuGH gegen die BR Deutschland erhoben. Wie wird der EuGH entscheiden? Hinweis für die Bearbeitung: Es sind nur die Verstöße gegen EU-Recht zu prüfen, die S in seinem Vorbringen angesprochen hat.

Lösung

Vorbemerkungen: Das Urteil ist auch abgedruckt (teils verkürzt) in NJW 2019, 2369; NVwZ 2019, 1023; JZ 2020, 250. Besprechungen: Terhechte JZ 2020, 257; Hofmann NVwZ 2019, 1257; Zabel NVwZ 2019, 1032; Frenz DVBl 2019, 1205; Kahle/Hafner NJW 2019, 2353; Streinz JuS 2019, 825; Ogorek JA 2020, 74. Die Klausur von Manger-Nestler/Will JA 2020, 41 behandelt teilweise dieselben Probleme. – Aufgabenstellung und Lösung gehen von der Situation im Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage aus, als die streitigen Gesetze noch Anspruch auf Geltung erhoben. Deshalb bleibt außer Betracht, dass inzwischen die Vorschriften über die Maut und die Steuerermäßigung als Folge des EuGH-Urteils entfallen sind. – Der klagende Staat war im Originalfall Österreich.

A. Das Verfahren vor dem EuGH müsste zulässig sein.

I. Zulässige Verfahrensart ist die Staatenklage nach Art. 259 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union). Nach Art. 259 I AEUV kann jeder Mitgliedstaat der EU den EuGH anrufen, wenn er der Auffassung ist, dass ein anderer Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat. Der klagende Staat S sieht in den von der BRD erlassenen Gesetzen Verletzungen des in den europäischen Verträgen niedergelegten Rechts, erfüllt also die Voraussetzungen des Art. 259 I EUV.

II. Das nach Art. 259 II, III AEUV erforderliche Vorverfahren ist durchgeführt worden. S hat die Kommission mit dem Streit befasst (Art. 259 II), die zunächst auch aktiv geworden ist und eine Stellungnahme abgegeben hat (Art. 259 III), hat das Verfahren nach Art. 258 AEUV aber nicht weitergeführt. Die von S erhobene Klage ist somit zulässig.

B. Die Klage ist begründet, wenn die Bundesrepublik Deutschland durch den Erlass der streitigen Gesetze gegen eine Verpflichtung aus einem der das EU-Primärrecht bildenden Verträge - EU-Vertrag oder AEUV - verstoßen hat.

I. Als verletzte Pflicht kommt das Diskriminierungsverbot des Art. 18 I AEUV in Betracht. Danach ist jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.

1. Zunächst ist zu prüfen, ob das Diskriminierungsverbot überhaupt anwendbar ist und bejahendenfalls, ob es an erster Stelle geprüft werden darf.

a) Diskriminierungsverbote, die Art. 18 AEUV möglicherweise verdrängen, sind auch in anderen Vorschriften enthalten. So bedeutet das in Art. 34 AEUV enthaltene Verbot von Einfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten, dass es verboten ist, Einfuhren aus einem anderen EU-Staat durch Beschränkungen zu diskriminieren. EuGH [40] Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist namentlich im Bereich des freien Warenverkehrs in Art. 34 AEUV (…), in dem der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Art. 45 AEUV (…) und in dem des freien Dienstleistungsverkehrs in Art. 56 AEUV (…) umgesetzt worden.

Nach dem Vortrag des S kommt auch im vorliegenden Fall eine Verletzung der Warenverkehrs- und der Dienstleistungsfreiheit in Betracht. Das bedeutet aber nicht die vollständige Unanwendbarkeit des Art. 18 AEUV. Denn die Grundfreiheiten haben ihrerseits jeweils nur einen beschränkten Anwendungsbereich, so dass deren Vorrang nur zur Folge hat, dass die Prüfung des Art. 18 AEUV auf den Bereich außerhalb des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten zu beschränken ist; zu diesem Bereich gehören beispielsweise private, nicht durch einen Warenverkehr oder eine Dienstleistung bedingte Pkw-Fahrten. EuGH [41] Daraus folgt, dass in der vorliegenden Rechtssache die streitigen nationalen Maßnahmen nur insoweit im Hinblick auf Art. 18 Abs. 1 AEUV geprüft werden können, als sie auf Sachverhalte Anwendung finden, die nicht unter diese vom AEU-Vertrag vorgesehenen besonderen Diskriminierungsverbote fallen. Unanwendbar ist Art. 18 AEUV also nicht.

b) Da wie ausgeführt nach dem Vortrag des S eine Anwendung der spezielleren Grundfreiheiten der Art. 34, 56 AEUV in Betracht kommt, könnte der Grundsatz, dass speziellere Reglungen vor den allgemeineren zu prüfen sind, dafür sprechen, Art. 18 AEUV erst nachrangig und nicht vor Art. 34, 56 AEUV anzuwenden. Jedoch hat im vorliegenden Fall innerhalb der in Betracht kommenden Vertragsverletzungen das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV das bei weitem größte Gewicht, weil es die ausländischen Autofahrer als solche betrifft, während sich die Maut auf Handel und Dienstleistungen lediglich durch eine geringfügige Verteuerung der Transportkosten auswirkt. Es ist deshalb dem EuGH zu folgen, der Art. 18 AEUV als erste Vorschrift geprüft hat.

2. Voraussetzung einer Verletzung des Art. 18 I AEUV ist, dass eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit erfolgt.

a) Zunächst ist der Prüfungsgegenstand näher zu bestimmen, indem entschieden wird, ob das InfrAG und das KraftStG einzeln, isoliert zu prüfen sind oder ob beide Maßnahmen als Gesetzespaket zusammen zu betrachten sind. Denn wie die Bundesregierung zutreffend ausführt, sind bei getrennter Prüfung beide Maßnahmen nicht zu beanstanden. Grundsätzlich ist ein Gesetz für sich und unabhängig von anderen zu beurteilen. Beim InfrAG und der Änderung des KraftStG sprechen aber folgende Umstände für eine Gesamtbetrachtung: Die Gesetze sind zeitgleich erlassen. Die Steuerermäßigung wurde damit begründet, dass ein Ausgleich für die Abgabe erfolgen soll. Demzufolge entspricht der steuerliche Ausgleich betragsmäßig der Höhe der Abgabe, insbesondere entspricht er mit 130 Euro dem Maximalbetrag der Abgabe. EuGH [46] Es ist daher festzustellen, dass zwischen den streitigen nationalen Maßnahmen sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht ein so enger Zusammenhang besteht, dass es gerechtfertigt ist, sie im Hinblick auf das Unionsrecht, insbesondere auf Art. 18 AEUV, zusammen zu beurteilen. Das Bestehen eines solchen Zusammenhangs hat die Bundesrepublik Deutschland im Übrigen, wie sich aus Rn. 28 des vorliegenden Urteils ergibt, auch eingeräumt. Dieser Zusammenbetrachtung wird in den Besprechungen des Urteils allgemein zugestimmt, z. B. von Ogorek JA 2020, 76.

b) Eine Diskriminierung hat zur Voraussetzung, dass eine Ungleichbehandlung zum Nachteil von Ausländern erfolgt (Boehme-Neßler NVwZ 2014, 98). Weder das InfrAG noch das KraftStG machen eine Rechtsfolge von einer bestimmten Staatsangehörigkeit abhängig, sondern von der Zulassung von Kfz im Inland oder Ausland, enthalten also keine unmittelbare Diskriminierung (Manger-Nestler/Will JA 2020, 43). Darüber hinaus erfasst das in Art. 18 Abs. 1 AEUV verankerte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nicht nur unmittelbare Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern alle Formen der mittelbaren Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. April 2010, Bressol u. a., C‑73/08 Rn. 40 und die dort angeführte Rspr.).

EuGH [48-52] Zwar unterliegen alle Benutzer deutscher Autobahnen unabhängig vom Ort der Zulassung ihrer Fahrzeuge der Infrastrukturabgabe. Den Haltern von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen kommt jedoch eine Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer in einer Höhe zugute, die dem Betrag der Abgabe entspricht, die sie entrichten mussten, so dass die wirtschaftliche Last dieser Abgabe de facto nur auf den Haltern und Fahrern von in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland zugelassenen Fahrzeugen ruht. Es zeigt sich somit, dass aufgrund der Kombination der streitigen nationalen Maßnahmen die Halter und Fahrer von in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland zugelassenen Fahrzeugen, die die deutschen Autobahnen benutzen, in Bezug auf die Benutzung dieser Autobahnen weniger günstig behandelt werden als die Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen, und zwar obwohl sie sich hinsichtlich dieser Benutzung in einer vergleichbaren Situation befinden… Somit ergibt sich die Ungleichbehandlung zum Nachteil der Halter und Fahrer von in anderen Mitgliedstaaten als Deutschland zugelassenen Fahrzeugen aus dem Umstand, dass die Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen aufgrund der Steuerentlastung, die ihnen zugutekommt, de facto nicht der wirtschaftlichen Belastung unterliegen, die die Infrastrukturabgabe bedeutet. Die inländischen Kfz-Halter erhalten durch die Steuerermäßigung praktisch eine Rückvergütung der Infrastrukturabgabe, so dass sie im Ergebnis mit der Infrastrukturabgabe nicht belastet werden.

c) Die Ungleichbehandlung müsste aus Gründen der Staatsangehörigkeit erfolgen. EuGH [51] bejaht das mit der Begründung, dass die festgestellte unterschiedliche Behandlung zwar nicht unmittelbar auf der Staatsangehörigkeit beruht, gleichwohl aber die große Mehrheit der Halter und Fahrer von in anderen Mitgliedstaaten als Deutschland zugelassenen Fahrzeugen nicht deutsche Staatsangehörige sind, während dies bei der großen Mehrheit der Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen der Fall ist, so dass dieser Unterschied tatsächlich zum gleichen Ergebnis führt wie eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit.

3. Ob eine Diskriminierung gerechtfertigt sein kann, ist angesichts des Fehlens einer dahingehenden Regelung in Art. 18 AEUV zweifelhaft (vgl. Manger-Nestler/Will JA 2020, 45), wird aber überwiegend bejaht (Manger-Nestler/Will JA 2020, 45 m. w. N. Fn. 45-49, 53). Dafür spricht, dass eine nachteilige Behandlung ihren Charakter als verbotene Diskriminierung verliert, wenn es für die Ungleichbehandlung hinreichende Sachgründe gibt. Dem folgt auch der EuGH, [73]: Nach st. Rspr. des EuGH kann eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimen Zweck steht, der mit den nationalen Rechtsvorschriften verfolgt wird (Urteil vom 4. Oktober 2012, Kommission/Österreich, C‑75/11, Rn. 52 und die dort angeführte Rspr.).

a) EuGH [61] Nach ihrem Vortrag hat die BRD die im InfrAG getroffene Regelung damit begründet, Ziel sei, von einem System der Steuerfinanzierung zu einem auf das „Benutzerprinzip“ und das „Verursacherprinzip“ gestützten Finanzierungssystem überzugehen.

aa) [64-67] Jedoch hat die BRD parallel zur Einführung dieser Abgabe einen Mechanismus zu deren individuellen Kompensierung zugunsten der Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen im Wege einer Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer entworfen, die der Höhe nach dem Betrag der entrichteten Infrastrukturabgabe entspricht… Deshalb werden die Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen aufgrund dessen, dass ihnen die Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer zugutekommt, trotz des Umstands, dass sie die Infrastrukturabgabe entrichten müssten, von der Einführung dieser Abgabe an in Wirklichkeit in keiner Weise zusätzlich belastet werden. Erfolgt aber keine zusätzliche oder geänderte Belastung, wird also die Zahlungspflicht lediglich umgeschichtet, bedeutet das keine Änderung des Finanzierungssystems. Die Verpflichtung ausländischer Autofahrer zum Erwerb einer Vignette bedeutet ebenfalls noch keinen Wechsel des gesamten Finanzierungssystems.

bb) Vor allem hängt die zu zahlende Abgabe bei den inländischen Kfz gerade nicht von der Straßenbenutzung ab, sondern nach § 7 I InfrAG allein von der Zulassung des Kfz. EuGH [68] Was die Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen anbelangt, ist die Infrastrukturabgabe so ausgestaltet, dass sie in keiner Weise davon abhängt, dass diese die Bundesstraßen tatsächlich nutzen. Somit schuldet zum einen ein solcher Fahrzeughalter diese Abgabe auch dann, wenn er diese Straßen niemals benutzt. Zum anderen unterliegt der Halter eines in Deutschland zugelassenen Fahrzeugs automatisch der Jahresabgabe und hat somit keine Möglichkeit, eine Vignette für einen kürzeren Zeitraum zu wählen, wenn eine solche der Häufigkeit, mit der er diese Straßen nutzt, besser entspräche. Diese Gesichtspunkte in Verbindung mit dem Umstand, dass diesen Fahrzeughaltern im Übrigen eine Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer in Höhe eines Betrags zugutekommt, der mindestens dem der entrichteten Infrastrukturabgabe entspricht, zeigen, dass der angebliche Übergang zu einem Finanzierungssystem, das auf das „Benutzerprinzip“ und das „Verursacherprinzip“ gestützt ist, in Wirklichkeit ausschließlich die Halter und Fahrer von in anderen Mitgliedstaaten als Deutschland zugelassenen Fahrzeugen betrifft. Ist die Benutzung der Straßen für in der BRD zugelassene Pkw keine Voraussetzung für die Zahlung der Infrastrukturabgabe, ist diese weder eine Gebühr noch ein Beitrag oder eine sonstige Abgabe, sondern sie ist eine Steuer (Hofmann NVwZ 2019, 1258 m. w. N. Fn. 12; anders Manger-Nestler/Will JA 2020, 45: Gebühr). Es wird also nicht das Finanzierungssystem für die Fernstraßen geändert, sondern es wird die Erhebung der Kraftfahrzeugsteuer aufgespalten.

Folglich lässt sich die Ungleichbehandlung ausländischer Autofahrer nicht mit einem Systemwechsel bei der Finanzierung der Bundesfernstraßen rechtfertigen.

b) Die Bundesregierung beruft sich darauf, die Berücksichtigung der Emissionen bei der Höhe der Abgabe diene dem Umweltschutz. Die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung ist aber nur durch Gründe möglich, die gerade auf die Ungleichbehandlung gerichtet sind. EuGH [75] Was Umwelterwägungen anbelangt, so stellt der Umweltschutz zwar nach der Rspr. des EuGH ein legitimes Ziel dar, um eine Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit zu rechtfertigen (…), jedoch legt die BRD nicht dar, inwiefern die Einführung einer Infrastrukturabgabe, die de facto nur die Halter und Fahrer von in anderen Mitgliedstaaten als Deutschland zugelassenen Fahrzeugen trifft, geeignet sein soll, dieses Ziel zu gewährleisten. Ein auf die Reduzierung der Emissionen zielender Umweltschutz würde es eher nahelegen, alle Autofahrer gleich zu behandeln, indem die Abgaben bei allen von den Emissionen abhängig gemacht werden.

Ergebnis zu I. ist nach EuGH [78], dass die BRD dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 18 AEUV verstoßen hat, dass sie die Infrastrukturabgabe eingeführt und gleichzeitig eine Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer in einer Höhe, die dem Betrag der entrichteten Abgabe entspricht, zugunsten der Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen vorgesehen hat.

II. Das InfrAG in Kombination mit der Änderung des KraftStG könnte die durch Art. 34 AEUV geschützte Warenverkehrsfreiheit verletzen. Danach sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten.

1. Die streitigen Maßnahmen der BRD betreffen nicht nur die ausländischen Pkw selbst, für die eine Abgabe zu zahlen ist, sondern auch Waren, die von als Lieferfahrzeuge verwendeten Pkw grenzüberschreitend transportiert werden. Nach EuGH [125] ist festzustellen, dass die Infrastrukturabgabe, auch wenn sie nicht auf die beförderten Waren als solche erhoben wird, gleichwohl geeignet ist, Waren, die mit in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland zugelassenen Personenkraftwagen mit einem Gesamtgewicht von bis zu 3,5 t geliefert werden, beim Grenzübertritt zu beeinträchtigen….

2. Eine Beeinträchtigung durch eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung liegt nicht vor. Es könnte jedoch eine Maßnahme gleicher Wirkung gegeben sein.

a) Diese Voraussetzung wird vom EuGH weit ausgelegt und ist zur zentralen Regelung des Art. 34 AEUV geworden. EuGH [120, 121] Das in Art. 34 AEUV aufgestellte Verbot von Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen erfasst nach st. Rspr. jede Maßnahme der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern (grundlegend EuGH Slg. 1974, 837, Dassonville; Urteil vom 3. April 2014, C‑428/12, Rn. 26 und die dort angeführte Rspr.). Also fällt eine Maßnahme…unter den Begriff der „Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen“ im Sinne von Art. 34 AEUV, wenn sie den Zugang von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten zum Markt eines Mitgliedstaats behindert. Ein solches Handelshemmnis bejaht EuGH [127] im vorliegenden Fall mit der Begründung, dass die Infrastrukturabgabe…geeignet ist, die Transportkosten und damit auch die Preise dieser Erzeugnisse zu erhöhen, und damit deren Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt. Das gilt im Vergleich mit inländischen Konkurrenten, da diese wegen der gleichzeitigen Absenkung der Kfz-Steuer keine Verteuerung hinnehmen müssen. Den Einwand, die Verteuerung des Verkehrs sei nur geringfügig, hat der EuGH nicht gelten lassen; insoweit gibt es also keine Bagatellgrenze (Frenz DVBl 2019, 1206 und Fn. 7).

b) Während die Ausführungen unter a) für produktbezogene Regelungen uneingeschränkt gelten, hat der EuGH bloße Verkaufsmodalitäten wie z. B. Ladenschlusszeiten vom Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV ausgenommen (Slg. 1993 I, 6097, Keck). Eine Kostensteigerung, die den Transport der Ware betrifft, wirkt sich aber auf die Ware selbst aus und ist eine produktbezogene Maßnahme. EuGH [128, 129] Dem Vorbringen der BRD, wonach die Infrastrukturabgabe lediglich eine Verkaufsmodalität…darstelle, kann nicht gefolgt werden. Da der Begriff „Verkaufsmodalitäten“ nur nationale Vorschriften erfasst, die die Art und Weise regeln, in der Waren vermarktet werden, fallen Regelungen betreffend die Art und Weise, in der Waren befördert werden können, nicht unter diesen Begriff.

Somit enthalten die hier geprüften Gesetze Maßnahmen, die von Art. 34 AEUV untersagt werden.

3. Art. 36 AEUV enthält Gründe, nach denen Maßnahmen gerechtfertigt sind. Sie sind vom EuGH auf weitere Gründe wie den Umwelt- und Verbraucherschutz ausgedehnt worden ( Slg 1979, 649, Cassis de Dijon). Dass aber die von der BRD zur Rechtfertigung vorgebrachten Argumente nicht durchgreifen, insbesondere was den Umweltschutz betrifft, wurde oben B I 3 dargelegt, diese Ausführungen gelten sinngemäß auch im Zusammenhang mit den Rechtfertigungsgründen des Art. 36 AEUV. Danach verfolgt das Gesetzespaket also schon keinen legitimen Zweck (Ogorek JA 2020, 76). EuGH [133] Insoweit hat die BRD keinen Grund angeführt, der eine solche Beschränkung rechtfertigen könnte. Jedenfalls kann den Erwägungen, die der Mitgliedstaat zur Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung der Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen und der Halter und Fahrer von in anderen Mitgliedstaaten als Deutschland zugelassenen Fahrzeugen geltend gemacht hat, aus den bereits in den Rn. 75 bis 77 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen für eine Rechtfertigung der genannten Beschränkung keine Bedeutung zukommen. [134] Folglich stellen die streitigen nationalen Maßnahmen eine gegen Art. 34 AEUV verstoßende Beschränkung des freien Warenverkehrs dar.

III. Verletzt sein könnte auch die Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV. EuGH [135, 136] Nach der Rspr. des EuGH steht Art. 56 AEUV jeder nationalen Regelung entgegen, die die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten gegenüber der Erbringung von Dienstleistungen allein innerhalb eines Mitgliedstaats erschwert (Urteil vom 28. April 1998, Kohl, C‑158/96, Rn. 33 und die dort angeführte Rspr.). Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs sind solche nationalen Maßnahmen, die die Ausübung dieser Freiheit verbieten, behindern oder weniger attraktiv machen.

1. Die streitigen Gesetze betreffen auch Pkw-Fahrten, bei denen grenzüberschreitend Dienstleistungen (Art. 57 AEUV ) erbracht werden, z. B. Leistungen durch Handwerker, ärztliche oder andere medizinische Leistungen, Beratungsleistungen. Auch für derartige Pkw-Fahrten muss die Infrastrukturabgabe durch Erwerb einer Vignette entrichtet werden. EuGH [141] Unstreitig ist, dass die Dienstleistungserbringer, die sich mit einem Fahrzeug mit einem Gesamtgewicht von bis zu 3,5 t, das in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland zugelassen ist, nach Deutschland begeben, um dort Dienstleistungen zu erbringen, der Infrastrukturabgabe unterliegen…

2. Ebenso wie die Infrastrukturabgabe die grenzüberschreitenden Warenlieferungen erhöht, verteuert sie auch die Kosten bei einer mit dem Einsatz eines Pkw erbrachten Dienstleistung und verschlechtert deshalb die Wettbewerbsfähigkeit des ausländischen Dienstleisters. EuGH [143] Deshalb ist festzustellen, dass die Infrastrukturabgabe wegen der Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer, die den in Deutschland ansässigen Erbringern und Empfängern von Dienstleistungen zugutekommt, tatsächlich nur die aus einem anderen Mitgliedstaat stammenden Erbringer von Dienstleistungen trifft und dass die streitigen nationalen Maßnahmen geeignet sind, den Zugang von aus einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland stammenden Dienstleistungserbringern zum deutschen Markt zu behindern. [147] Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die streitigen nationalen Maßnahmen eine gegen Art. 56 AEUV verstoßende Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs sind.

3. Eine Rechtfertigung ist über Art. 62 AEUV möglich, der auf die Art. 51 bis 54 AEUV verweist. Danach gelten Ausnahmen für die Ausübung öffentlicher Gewalt (Art. 51 AEUV), die im vorliegenden Fall nicht in Betracht kommt, und für Vorschriften, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erforderlich sind. Das hat EuGH [139] dahin erweitert, dass eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs zulässig ist, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, soweit sie geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (…). Die von der BRD zur Rechtfertigung der Infrastrukturabgabe angeführten Gründe wurden oben B I 3 gewürdigt und für nicht tragfähig erachtet, was auch für die Dienstleitungsfreiheit gilt. Weitere Gründe sind nicht ersichtlich. EuGH [149] Folglich stellen die streitigen nationalen Maßnahmen eine gegen Art. 56 AEUV verstoßende Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar.

Abschließendes Ergebnis: Die Infrastrukturabgabe in Kombination mit der Absenkung der Kraftfahrzeugsteuer für inländische Kfz verletzt Art. 18, 34 und 56 AEUV. Dementsprechend lautet der Tenor des EuGH-Urteils: Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 18, 34 und 56 AEUV verstoßen, dass sie die Infrastrukturabgabe für Personenkraftwagen eingeführt und gleichzeitig eine Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer in einer Höhe, die mindestens dem Betrag der entrichteten Abgabe entspricht, zugunsten der Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen vorgesehen hat.

Ergänzende Hinweise: Der EuGH hat außerdem entschieden - was nach der Aufgabenstellung im Sachverhalt nicht zu prüfen war -, dass die streitigen Gesetze auch gegen das Stillhaltegebot des Art. 92 AEUV verstoßen (EuGH [158-163]; Zabel NVwZ 2019, 1033; Kahle/Hafner NJW 2019, 2355). – Das Urteil des EuGH betrifft nur die konkret eingeführte Maut und schließt nicht aus, dass die BRD eine Straßenbenutzungsgebühr in anderer Form einführt (dazu Kahle/Hafner NJW 2019, 2355; Zabel NVwZ 2019, 1033/4).


Zusammenfassung