Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Gewerberecht, Gaststättenrecht; Einschreiten wegen fehlender Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden. ► Widerruf der Gaststättenerlaubnis nach § 15 GastG wegen Steuerschulden. ► Gewerbeuntersagung und erweiterte Gewerbeuntersagung nach § 35 I 1 und 2 GewO. ► Verhältnismäßigkeitsprüfung bei einem gebundenen VA. ► Maßgeblicher Zeitpunkt für die Entscheidung einer verwaltungsgerichtlichen Klage.
OVG Münster Beschluss vom 30.4.2020 (4 B 21/20) DVBl 2020, 1287
Fall (Firenze)
G betreibt zusammen mit seiner Ehefrau in der Stadt S die Gaststätte „Firenze“, für die ihm von der zuständigen B-Behörde der Stadt eine Erlaubnis erteilt wurde. Laut einer Mitteilung des Finanzamts an die Stadt hat G in den letzten Jahren trotz Mahnungen des Finanzamts keine Umsatzsteuer mehr gezahlt. Anfang Oktober des laufenden Jahres beliefen sich die Umsatzsteuerrückstände des G auf mehr als 30.000 Euro. Auch andere Steuern und die Sozialversicherungsbeiträge für die Angestellten hat G mehrfach verspätet abgeführt. Die B-Behörde forderte G zur Stellungnahme auf und kündigte Maßnahmen an. Nachdem G darauf nicht reagierte, erließ B am 25. Oktober einen Bescheid, in dem sie 1. den Widerruf der Gaststättenerlaubnis erklärte und 2. die Untersagung der Gewerbeausübung auch auf andere Gewerbe erstreckte. Begründet wurde das unter Bezugnahme auf das Gaststättengesetz und die Gewerbeordnung damit, dass G wegen der langdauernden Nichterfüllung der steuerlichen Pflichten die Voraussetzungen für eine weitere Betätigung als Gastwirt nicht mehr erfülle. Die auf andere Gewerbe erstreckte erweiterte Untersagung solle verhindern, dass G in ein anderes Gewerbe ausweicht und sich dort weiterhin zum Nachteil der öffentlichen Finanzen seinen finanziellen Verpflichtungen entzieht.
G will sich dagegen zur Wehr setzen. Er verweist darauf, dass er nach dem 25. Oktober - unter dem Druck von Vollstreckungsmaßnahmen des Finanzamtes - Zahlungen vorgenommen hat, durch die er seine Steuerschulden auf 18.000 Euro vermindert hat. Auch habe eine Verwandte seiner Ehefrau ihm ein langfristiges Darlehen in Höhe von 20.000 Euro zugesagt, mit dessen Hilfe er die Schulden abbezahlen werde. Bleibe es bei dem Widerruf der Erlaubnis, führe das zur Vernichtung seiner wirtschaftlichen Existenz, so dass er zu weiteren Zahlungen nicht in der Lage sei. Deshalb sei der Widerruf auch unverhältnismäßig und überdies ermessensfehlerhaft, weil B diese Folgen des Widerrufs nicht berücksichtigt habe. Die B-Behörde erklärt, ihr habe kein Ermessen zugestanden und auch die Frage der Verhältnismäßigkeit habe sich nicht gestellt. Hat eine verwaltungsgerichtliche Klage des G Aussicht auf Erfolg? Ein Widerspruchsverfahren braucht nicht durchgeführt zu werden.
Lösung
Die Klage hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit der Klage
I. Die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges nach § 40 I VwGO hat eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit zur Voraussetzung. Sie liegt vor, wenn die streitentscheidenden Normen zum öffentlichen Recht gehören. Der von G angegriffene Bescheid vom 25.10. ist auf das GastG und die GewO gestützt, die auch als Ermächtigungsgrundlagen in Betracht kommen. Sie gehören zum öffentlichen Recht, weil sie Befugnisse und Verpflichtungen der dafür zuständigen Behörden regeln. Es handelt sich somit um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, die auch nichtverfassungsrechtlicher Art und keinem anderen Gericht zugewiesen ist. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet.
II. Statthafte Klageart könnte eine Anfechtungsklage (§ 42 I VwGO) sein. Dann müsste der Bescheid vom 25.10., gegen den sich die Klage des G richtet, ein Verwaltungsakt sein (§ 35 VwVfG). Der Bescheid ist die Maßnahme der für die Stadt S handelnden Behörde auf der Grundlage des GastG und der GewO, also aufgrund öffentlich-rechtlicher Gesetze. Er müsste auch eine Reglung mit Außenwirkung im Einzelfall enthalten.
1. Soweit in dem Bescheid die Gaststättenerlaubnis widerrufen wird, besteht die Regelungswirkung in dem Entzug dieser Rechtsstellung und hat eine rechtsgestaltende Wirkung.
2. Soweit eine Untersagung der Gewerbeausübung auf andere Gewerbe ausgesprochen wird, handelt es sich um das Verbot eines Verhaltens, das ebenfalls eine Regelung bedeutet. Es handelt sich somit um einen VA mit einem doppelten Regelungsgehalt.
3. In beiden Fällen haben die Regelungen Außenwirkung gegenüber G als Bürger und betreffen auch nur den Einzelfall des die Gaststätte Firenze betreibenden G. Die Klage ist eine Anfechtungsklage.
III. Die Klagebefugnis (§ 42 II VwGO) steht G zu. Er kann geltend machen, in seinem Recht aus der Gaststättenerlaubnis verletzt zu sein, soweit diese ihm entzogen wird. Gegenüber beiden Regelungen kann G sich auf die Berufsfreiheit des Art. 12 I GG berufen. Überdies ist er Adressat eines ihn belastenden VA und als solcher klagebefugt.
IV. Das grundsätzlich in § 68 I 1 VwGO vorgeschriebene Widerspruchsverfahren ist nach der Vorgabe im Sachverhalt nicht erforderlich (ergab sich im Fall des OVG Münster aus § 68 I 2 VwGO i. V. mit § 110 I 1, III Nr. 8 JustizG NRW).
V. Die Monatsfrist des § 74 VwGO kann eingehalten werden. Klagegegner ist die Stadt S als Trägerin der B-Behörde, die den VA erlassen hat (§ 78 I Nr. 1 VwGO, Rechtsträgerprinzip). Die Anfechtungsklage ist zulässig.
B. Begründetheit einer Klage gegen den Widerruf der Gaststättenerlaubnis (Nr. 1. des Bescheids)
Eine Anfechtungsklage ist begründet, wenn der angefochtene VA rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 I 1 VwGO). Danach ist im vorliegenden Fall die Rechtmäßigkeit des Widerrufsbescheids vom 25.10. zu prüfen.
I. Zunächst bedarf es einer Bestimmung der anwendbaren Ermächtigungsgrundlage.
1. Nach dem Prinzip der Gewerbefreiheit ist das Betreiben eines Gewerbes grundsätzlich erlaubnisfrei; das gilt beispielsweise für einen Handel mit Lebensmitteln oder mit Kleidung. In vielen Fällen ist aber eine Erlaubnis vorgeschrieben, so für den Betrieb einer Gaststätte (§ 2 GastG). Diese Erlaubnis war G erteilt worden, wurde aber widerrufen. Rücknahme und Widerruf der Gaststättenerlaubnis sind in § 15 I - III GastG geregelt. Als Spezialnormen haben sie Vorrang vor §§ 48, 49 VwVfG.
2. Die Rücknahmeregelung in § 15 I GastG betrifft den Fall, dass bei Erteilung der Erlaubnis die hierfür erforderlichen Voraussetzungen (§ 4 I Nr. 1 GastG) nicht vorlagen und die Erlaubnis deshalb rechtswidrig war. Das hat die B-Behörde im Fall des G nicht geltend gemacht und trifft auch nicht zu.
2. Im Fall des G kommt der Widerruf einer rechtmäßig erteilten Erlaubnis nach § 15 II oder III GastG in Betracht. § 15 III GastG enthält eine Reihe von Fällen, die aber im Fall des G nicht vorliegen. Anwendbare Ermächtigungsgrundlage für den Widerruf ist deshalb § 15 II GastG, der den Fall einer nachträglichen Rechtswidrigkeit der Erlaubnis regelt.
II. Gegen die formelle Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 25.10. bestehen keine Bedenken. Die B-Behörde war für die Erteilung der Gaststättenerlaubnis zuständig und ist mangels einer gegenteiligen Regelung auch für einen Widerruf zuständig. Die nach § 28 I VwVfG erforderliche Anhörung des G erfolgte durch die Aufforderung zur Stellungnahme und der Ankündigung von Maßnahmen. Da es nach § 28 I VwVfG ausreicht, dass dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird, ist es unerheblich, dass G darauf nicht reagiert hat. Der Bescheid wurde entsprechend § 39 I 1 VwVfG in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht begründet. Ermessenserwägungen nach § 39 I 3 VwVfG waren nicht erforderlich, weil B davon ausgegangen ist, dass ihr kein Ermessen zusteht.
III. In materieller Hinsicht müssen die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage vorliegen. § 15 II GastG verlangt, dass nachträglich Tatsachen eingetreten sind, die die Versagung der Erlaubnis nach § 4 I Nr. 1 GastG rechtfertigen würden. Diese Regelung beruht auf demselben Grundgedanken wie die Widerrufsvorschrift des § 49 II Nr. 3 VwVfG. Es müssten also Tatsachen eingetreten sein, nach denen G nicht mehr über die für den Betrieb der Gaststätte erforderliche Zuverlässigkeit verfügt. Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit ist ein Zentralbegriff des Gewerberechts, der vor allem auch für die Generalklausel des § 35 I GewO (dazu noch C II) wesentlich ist. Er ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der einer durch Auslegung vorzunehmenden Konkretisierung bedarf.
1. Unzuverlässig ist, wer keine Gewähr dafür bietet, dass er sein Gewerbe in Zukunft ordnungsgemäß ausüben wird ( BVerwGE 65, 1; NJW 2010, 2901; NVwZ 2015, 1544 Rdnr. 14 ; OVG Bremen NVwZ-RR 2010, 102).
a) Anwendungsfälle der Unzuverlässigkeit sind eine mangelnde Sachkunde, das Begehen von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten bei der Ausübung des Gewerbes, andere Gesetzesverstöße, die Nichtabgabe von Steuererklärungen, die Verletzung sozialversicherungsrechtlicher Zahlungs- und Abführungspflichten, schwere seelische oder körperliche Mängel. Primär ergibt sich eine Unzuverlässigkeit aus den Anforderungen des konkreten Gewerbes. Andere Unzuverlässigkeitsgründe wie schwere seelische oder körperliche Mängel sind gewerbeübergreifend.
b) Zur gewerbeübergreifenden Unzuverlässigkeit gehört die fehlende mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die sich insbesondere an erheblichen Steuerschulden oder der Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen zeigen kann (BVerwG GewArch 1999, 72; NVwZ 2015, 1544 Rdnr. 14; OVG [6]). Denn wer am Wirtschaftsverkehr teilnimmt, muss die Abgaben zahlen, auf die der Staat für die Erfüllung seiner Aufgaben angewiesen ist. Die Nichtzahlung von Abgaben kann auch zu einem unberechtigten Wettbewerbsvorteil gegenüber denjenigen Konkurrenten führen, die ihren steuerlichen Verpflichtungen nachkommen. Bei der Nichterfüllung von Verpflichtungen gegenüber Sozialversicherungsträgern schädigt er die dortige Solidargemeinschaft und gefährdet die Ansprüche der Arbeitnehmer gegenüber der Versicherung, beispielsweise gegenüber der Krankenkasse.
2. G könnte wegen einer fehlenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unzuverlässig sein.
a) Da sich die finanzielle Situation des G, zumindest was die Höhe der Steuerschulden betrifft, bei Erlass des Bescheids am 25.10. und zum heutigen Zeitpunkt und voraussichtlich auch bei Erlass eines Urteils unterschiedlich darstellt, ist zu entscheiden, welcher Zeitpunkt maßgeblich ist.
aa) Die Frage, welcher Zeitpunkt für die Entscheidung über eine verwaltungsgerichtliche Klage maßgebend ist, ist gesetzlich nicht geregelt und lässt sich auch nicht einheitlich beantworten. Bei der Verpflichtungs-, Leistungs- und Feststellungsklage ist maßgeblich die Urteilsfällung, genauer: die letzte mündliche Verhandlung in der Tatsacheninstanz ist (so für die Verpflichtungsklage BVerwG NVwZ 2012, 976; für eine Leistungsklage BVerwG NJW 2015, 2358, 2360). Bei der Anfechtungsklage hängt der maßgebliche Zeitpunkt von der Rechtsgrundlage und der Art des VA, somit vom materiellen Verwaltungsrecht ab.
(1) Praktische Bedeutung hat die Zeitpunktfrage, wenn sich die Verhältnisse zwischen Erlass des VA und der gerichtlichen Entscheidung wirklich oder möglicherweise geändert haben. Grundsätzlich kann eine Behörde nur auf der tatsächlichen und rechtlichen Grundlage entscheiden, die im Zeitpunkt des VA-Erlasses besteht. Dass spätere Änderungen des Sachverhalts oder der Rechtslage Auswirkungen auf einen rechtmäßig erlassenen belastenden VA haben, kann nur angenommen werden, wenn das gesetzlich speziell vorgeschrieben ist, was aber in der Regel nicht der Fall ist (Gärditz/Orth JURA 2013, 1104; anders beim begünstigenden VA, wie sich aus § 49 II Nr. 3 und 4 VwVfG ergibt). Deshalb ist grundsätzlich die Rechtmäßigkeit des VA zum Zeitpunkt seines Erlasses, d. h. der letzten Verwaltungsentscheidung, erforderlich und ausreichend (BVerwG NVwZ 2013, 278 Rn. 12; OVG Münster NWVBl 2015, 148; Schröder JuS 2015, 238; Muckel JA 2014, 557). Im Falle eines Vorverfahrens ist der Erlass des Widerspruchsbescheids maßgeblich, was durch die Formulierung „letzte Verwaltungsentscheidung“ mit erfasst wird.
(2) Insbesondere ist der Zeitpunkt des VA-Erlasses maßgeblich, wenn das Gesetz zwischen der Entziehung einer Rechtsposition und ihrer Wiedererteilung unterscheidet. So unterscheidet die Fahrerlaubnis-Verordnung zwischen der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 46 FeV) und ihrer Wiedererteilung (§ 20 FeV). Deshalb wird ein Wohlverhalten zwischen der Entziehung der Fahrerlaubnis und der Entscheidung über die dagegen erhobene Anfechtungsklage im Anfechtungsurteil nicht berücksichtigt, sondern wird in das Wiedererteilungsverfahren verwiesen. Gleiches gilt nach § 35 I und VI GewO für die Untersagung der Gewerbeausübung wegen Unzuverlässigkeit bei einem erlaubnisfreien Gewerbe.
(3) Aus dem anwendbaren Recht oder der Eigenart des VA kann sich aber ergeben, dass auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen ist. So muss ein belastender VA mit Dauerwirkung während seiner gesamten Geltungszeit rechtmäßig sein, so dass Änderungen der Sach- oder Rechtslage zwischen Erlass des VA und Entscheidung über die Anfechtungsklage zu berücksichtigen sind (BVerwGE 122, 301). Im Ausländerrecht sind bei einem für den Ausländer belastenden VA (z. B. bei der Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis, bei Ausweisung und Abschiebung) Veränderungen der Sach- oder Rechtslage bis zur Urteilsfällung zugrunde zu legen (BVerwGE 138, 371; NVwZ 2014, 973; Brühl JuS 2016, 23, 29 Fn. 36). Deshalb ist es bei dieser Fallgruppe möglich, dass ein ursprünglich rechtmäßiger VA nachträglich rechtswidrig wird oder ein rechtswidriger VA nachträglich rechtmäßig, d. h. geheilt wird. (Anders behandeln § 49 II Nr. 3 und 4 VwVfG den begünstigenden VA: dieser bleibt rechtmäßig, kann aber u.U. widerrufen werden.)
bb) Bei der Gaststättenerlaubnis gibt es keine Vorschrift über die Wiedererteilung, so dass die Fallgruppe (2) nicht eingreift. Gründe für eine Zuordnung zur Fallgruppe (3) bestehen nicht. Insbesondere ist der Widerruf kein DauerVA, sondern enthält eine einmalige Rechtsgestaltung. Dass G künftig sein Gastgewerbe nicht mehr betreiben darf, ist nicht Regelungsinhalt des Widerrufs, sondern beruht darauf, dass G nicht mehr über die nach § 2 GastG erforderliche Erlaubnis verfügt. Folglich bleibt es bei dem Grundsatz oben aa (1), wonach der Zeitpunkt des Widerrufs maßgeblich ist (BVerwGE 56, 205; OVG [13] mit Verweisung auf OVG Münster Beschluss vom 25.7.2016, 4 B 519/16 Rn. 5). Ein schwerwiegender Nachteil für den Betroffenen liegt darin nicht, denn er kann bei verbesserter Finanzlage - ähnlich wie bei der Fallgruppe (2) - einen Antrag auf Wiedererteilung der Gaststättenerlaubnis stellen, der positiv zu bescheiden ist, weil § 4 GastG lediglich Versagungsgründe aufführt und kein Ermessen einräumt.
b) Bei Erlass des Widerrufsbescheids am 25.10. hatte G Steuerschulden in Höhe von 30.000 Euro, also in einem erheblichen Umfang. Außerdem hat er andere Steuern und die Sozialversicherungsbeiträge für die Arbeitnehmer mehrfach verspätet abgeführt. Bei der nicht abgeführten Umsatzsteuer kommt zu Lasten des G hinzu, dass diese Steuerbeträge den Kunden, die sie wirtschaftlich letztlich tragen sollen, in Rechnung gestellt wurden und praktisch-wirtschaftlich nur an das Finanzamt weiterzuleiten waren. Sie nicht weiterzuleiten, ist ein erschwerender Umstand. Somit führen diese Umstände zur fehlenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des G und damit zu dessen Unzuverlässigkeit (OVG [14]).
c) Würde bei der Entscheidung über die Unzuverlässigkeit auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abgestellt, würde sich am Ergebnis nichts ändern. Denn gegenwärtig hat G noch 18.000 Euro Schulden. Davon, dass er sie bis zu einer Entscheidung über die Anfechtungsklage wesentlich reduziert, kann nicht ausgegangen werden.
Allerdings kann eine Unzuverlässigkeit trotz Schulden entfallen, wenn der Gewerbetreibende über ein erfolgversprechendes Sanierungskonzept verfügt ( BVerwGE 65, 1, 4; 152, 39) . OVG [10] Ein derartiges Sanierungskonzept liegt nach anerkannter Rspr. dann vor, wenn ein verbindlicher und von den Gläubigern akzeptierter Tilgungsplan existiert, dem konkrete Ratenzahlungen und das Ende der Rückführung der (gesamten) Rückstände zu entnehmen sind und der Schuldner den vereinbarten Ratenzahlungen nachkommt. Ein solches Sanierungskonzept hat G nicht vorgelegt. Die Rückführung der Schulden um 12.000 Euro beruht auf keinem Konzept, sondern wurde durch Vollstreckungsmaßnahmen des Finanzamts veranlasst. Dass eine Verwandte seiner Ehefrau ein langfristiges Darlehen in Höhe von 20.000 Euro zugesagt habe, ist lediglich eine Ankündigung, bei der nicht gesichert ist, dass sie realisiert wird und es zu nennenswerten Zahlungen an das Finanzamt kommt. Auch zeigt der Umstand, dass G auf eine Darlehensaufnahme angewiesen ist, eher die finanzielle Notlage des G. Derzeit hat G lediglich die Absicht geäußert, auf Gläubigerseite das Finanzamt durch eine Verwandte zu ersetzen, was die ungünstige finanzielle Situation des G nicht entfallen lässt (OVG [17]).
3. Eine weitere Voraussetzung, wie sie sich in § 49 II Nr. 3 und 4 VwVfG findet (ohne Widerruf wäre das öffentliche Interesse gefährdet) oder in § 35 I 1 GewO (Untersagung zum Schutz der Allgemeinheit oder der Beschäftigten erforderlich), enthält § 15 II GastG nicht. Somit liegen die Voraussetzungen des § 15 II GastG vor.
4. G beruft sich darauf, dass der Widerruf unverhältnismäßig und ermessensfehlerhaft sei.
a) Nach § 15 II GastG „ist“ die Erlaubnis zu widerrufen. Somit handelt es sich um einen gebundenen VA, bei dem kein Ermessen besteht (ebenso wie bei § 35 I GewO; dagegen eröffnen § 49 II Nr. 3 und 4 VwVfG Ermessensentscheidungen). Ein Ermessensfehler (§ 114 VwGO) kann deshalb nicht vorliegen. Zu einer Ermessensentscheidung kommt es erst, wenn G die Gaststätte trotz des Widerrufs weiter betreibt und die B-Behörde entscheiden muss, ob sie den Weiterbetrieb nach § 15 II GewO untersagt; das wäre allerdings voraussichtlich ohne Ermessensfehler möglich.
b) Ein Gebot zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung enthält § 15 II GastG nicht.
aa) Das entspricht dem Grundsatz, dass bei gebundenen Entscheidungen eine Verhältnismäßigkeit nicht zu prüfen ist (Naumann DÖV 2011, 96/7; Mehde DÖV 2014, 541 Fn. 6, 7; Barczak VerwArch 2014, 142, 181; vgl. Westerhoff, Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen gebundener Entscheidungen, 2016, Rez. DVBl 2017, 1479). Zwar gilt der Grundsatz, dass alle belastenden staatlichen Maßnahmen verhältnismäßig sein müssen. Jedoch hat beim gebundenen VA der Gesetzgeber über die Verhältnismäßigkeit der angeordneten Maßnahme (positiv) entschieden und trägt dafür die Verantwortung. Als Beispiel wird auf § 4 V Nr. 3 StVG verwiesen, wo sinngemäß bestimmt ist: „Sind für den Inhaber einer Fahrerlaubnis im Fahreignungsregister 8 Punkte oder mehr eingetragen, so ist ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen.“ Hat ein Fahrerlaubnisinhaber 8 Punkte oder mehr auf seinem Konto, muss ihm die Straßenverkehrsbehörde die Fahrerlaubnis entziehen, ohne zusätzlich die Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Würden in einem solchen Fall Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit bestehen, wäre das eine Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes.
bb) Allerdings kann, wenn die Voraussetzungen für ein Einschreiten durch einen unbestimmten Rechtsbegriff bezeichnet werden (z. B. Einschreiten bei einem „Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften“), dessen Auslegung und Anwendung mit Hilfe von Verhältnismäßigkeitserwägungen erfolgen, etwa indem weniger gewichtige Verstöße außer Betracht bleiben (Mehde DÖV 2014, 545; so vor allem auch bei § 626 BGB, BAG NJW 2012, 409). §§ 15 II, 4 I Nr. 1 GastG enthalten zwar sinngemäß den unbestimmten Rechtsbegriff „Unzuverlässigkeit“, gleichwohl bestand oben B III 2b) kein Anlass für Verhältnismäßigkeitserwägungen, insbesondere waren die Steuerrückstände des G nicht geringfügig.
cc) Bei atypischen Sonderfällen geht die Rspr. davon aus, dass der Gesetzgeber diese nicht bedacht hat, und nimmt eine „Anwendungskorrektur“ vor (Mehde DÖV 2014, 543; OVG Hamburg NVwZ-RR 2010, 265). Beispiel ist BVerwG NJW 2009, 2905, wo die an sich zwingende Gebührenregelung für Hilfeleistungen nach dem Konsulargesetz im Falle einer Geiselbefreiung im Ausland zu Kosten in Höhe von 13.000 Euro geführt hatte, deren vollständiger Ersatz durch den Betroffenen aber unverhältnismäßig wäre. Demgegenüber ist der Fall des G kein atypischer Sonderfall, so dass es bei dem Grundsatz bleibt, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht stattfindet. G hat hinzunehmen, dass in §§ 15 II, 4 I Nr. 1 GastG dem Schutz vor unzuverlässigen Gastwirten und insbesondere dem Interesse der öffentlichen Finanzen Vorrang vor seinem Interesse an der Erhaltung seiner Existenzgrundlage durch die selbständige Führung einer Gaststätte eingeräumt wird (vgl. OVG [20]).
Somit ist der Widerruf der Gaststättenerlaubnis rechtmäßig erfolgt. Eine dagegen gerichtete Anfechtungsklage ist unbegründet.
C. Begründetheit einer Anfechtungsklage gegen die erweiterte Gewerbeuntersagung (Nr. 2. des Bescheids)
I. Auch insoweit hängt die Begründetheit nach § 113 I 1 VwGO von der Rechtmäßigkeit dieses Bescheidteils ab. Sie hat zur Voraussetzung, dass für eine Erstreckung der Gewerbeuntersagung auf andere Gewerbe eine Ermächtigungsgrundlage eingreift. Das GastG enthält keine dahingehende Ermächtigung.
II. Nach § 31 GastG findet, wenn das GastG keine Regelung enthält, auf Gaststättenbetriebe die Gewerbeordnung Anwendung. § 35 GewO ist eine Generalklausel für das Einschreiten gegenüber unzuverlässigen Gewerbetreibenden durch Untersagung der Gewerbeausübung (§ 35 I 1 GewO). Nach § 35 I Satz 2 GewO kann eine Untersagung auf einzelne andere oder auf alle Gewerbe erstreckt werden, soweit der Gewerbetreibende auch für diese Tätigkeiten oder Gewerbe unzuverlässig ist (erweiterte Untersagung; vgl. Thiel/Epping JA 2020, 701/2). Auf diese Vorschrift hat B Nr. 2 des Bescheids gestützt.
1. Nach Wortlaut und Stellung des Satz 2 nach Satz 1 muss zunächst eine Untersagung nach Satz 1 vorliegen, weil nur dann die „Untersagung …erstreckt werden“ kann; eine nach Satz 1 nicht erlassene Untersagung könnte nicht erstreckt werden. Eine Untersagung nach § 35 I 1 GewO hat B aber nicht ausgesprochen. Sie wäre auch nicht zulässig gewesen. Denn nach § 35 VIII GewO sind die Absätze 1 bis 7a, also auch Abs. 1 Satz 2, nicht anwendbar, soweit eine für das Gewerbe erteilte Zulassung wegen Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden zurückgenommen oder widerrufen werden kann. OVG [24] Damit soll der Vorrang der für bestimmte Gewerbe geltenden Sonderregelungen sichergestellt werden (vgl. Marcks, in: Landmann/Rohmer, GewO, 82. EL Oktober 2019, § 35 Rn. 195 ff., m. w. N.). Im Fall des G konnte die ihm erteilte Gaststättenerlaubnis nach §§ 15 II, 4 I Nr.1 GastG widerrufen werden. Dadurch wird eine Anwendung des § 35 I 1 GewO ausgeschlossen.
2. Möglicherweise könnte § 35 I 2 GewO auch auf Fälle ausgedehnt werden, in denen eine gewerbliche Tätigkeit durch Widerruf der erforderlichen Erlaubnis verhindert wird. Methodisch kommt dafür eine erweiternde Auslegung des § 35 I 2 GewO in Betracht, falls die Ausdehnung noch mit dem Wortlaut vereinbar ist, oder andernfalls eine Analogie. Im vorliegenden Fall scheidet aber beides aus, weil einer solchen Auslegung oder einer Analogie wesentliche Argumente entgegenstehen.
a) OVG [36] Dass die erweiterte Untersagung von der vorangegangenen Untersagung abhängig ist, kommt sprachlich durch die zweimalige Verwendung des Wortes „auch“ in Satz 2 des § 35 Abs. 1 GewO zum Ausdruck und wird durch den historisch gewachsenen Gesetzeszweck bestätigt, nur das tatsächlich ausgeübte Gewerbe zu erfassen. Das Gewerbe, auf das die Untersagung möglicherweise ausgedehnt werden könnte, wird nicht ausgeübt, und soll von § 35 GewO nicht erfasst werden (vgl. auch OVG [30]).
b) Nach der Gesetzessystematik fällt das Einschreiten gegenüber erlaubnisfreien Gewerben unter § 35 GewO, und das Einschreiten gegenüber erlaubnisbedürftigen Gewerben erfolgt durch Rücknahme oder Widerruf (§ 35 VIII GewO). Eine Anwendung des § 35 I 2 GewO auf ein erlaubnisbedürftiges Gewerbe würde der Trennung beider Verfahrensarten und damit der Gesetzessystematik widersprechen. OVG [34] Der Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entschieden, die Anwendung des § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO sowie der daran anknüpfenden Regelungen in Abs. 1 bis Abs. 7a insoweit auszuschließen, als nach spezialgesetzlichen Vorschriften eine Unterbindung des (ganzen) tatsächlich ausgeübten Betriebs möglich ist. Mit dem Vorrang der Rücknahme oder des Widerrufs einer für die Gewerbeausübung erforderlichen Erlaubnis wird eine systemwidrige Vermischung unterschiedlicher Regelungstechniken vermieden.
c) Eine Schutzlücke, die für eine Analogie erforderlich wäre, besteht nicht. Falls G eine andere erlaubnispflichtige gewerbliche Tätigkeit anstrebt, kann die Zuverlässigkeit im Erlaubnisverfahren geprüft (und ggfs. verneint) werden. Im Falle eines nicht erlaubnispflichtigen Gewerbes erfolgt diese Überprüfung in Anwendung des § 35 I GewO (OVG [41]).
OVG [36, 37] Die Unzulässigkeit einer erweiterten Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO neben Rücknahme oder Widerruf der Zulassung für das ausgeübte zulassungspflichtige Gewerbe folgt…auch daraus, dass eine erweiterte Gewerbeuntersagung nach gefestigter Rspr. des BVerwG nur in Verbindung mit einer Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO ausgesprochen werden darf. Eine erweiterte Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO ist danach nur zulässig, wenn in demselben Verfahren zumindest ein tatsächlich betriebenes Gewerbe nach Maßgabe von § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO untersagt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 2.2.1982 – 1 C 14.78 –, Buchholz 451.20 § 35 GewO Nr. 40 Rn. 39, unter Bezugnahme auf die Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/111, S. 5 f.). Eine solche Untersagung ist im vorliegenden Fall nicht erfolgt und wäre, wie dargelegt, auch nicht zulässig.
3. Somit greift § 35 I 2 GewO mangels einer Untersagung nach Satz 1 nicht ein. Eine andere Ermächtigungsgrundlage für die erweiterte Gewerbeuntersagung ist nicht ersichtlich. Die erweiterte Untersagung ist rechtswidrig.
III. Sie verletzt G in seinem Recht auf freie Berufstätigkeit (Art. 12 I GG), so dass insoweit die Voraussetzungen des § 113 I 1 VwGO erfüllt sind.
Gesamtergebnis: Die Anfechtungsklage gegen Nr. 1 des Bescheids vom 25.10. ist unbegründet und hat keinen Erfolg. Die Klage gegen Nr. 2 ist begründet und wird zur Aufhebung dieses Bescheidteils führen.
Zusammenfassung