Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

Eingriffe in die durch Art. 2 II 1 und 2 GG geschützte körperliche Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit durch Maßnahmen nach § 81a StPO. Verhältnismäßigkeitsprinzip auf der Ebene des Gesetzes und bei dessen Anwendung

BVerfG Beschluss vom 21. 5. 2004 (2 BvR 715/04) NJW 2004, 3697

Fall (Nachtschlafuntersuchung der Erektionsfähigkeit)

Der 81-jährige B wurde wegen mehrerer Fälle der Vergewaltigung angeklagt. B bestreitet die ihm vorgeworfenen Taten und beruft sich darauf, er habe seit längerer Zeit Diabetes und sei erektionsunfähig. Vor der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens machte das Landgericht von der in § 202, 1 StPO eingeräumten Befugnis Gebrauch, eine Beweiserhebung gemäß § 81a StPO vorzunehmen. Nach § 81a I StPO darf eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten angeordnet werden, um Tatsachen festzustellen, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Zu diesem Zweck sind Entnahmen von Blutproben und andere körperliche Eingriffe auch ohne Einwilligung des Betroffenen zulässig, wenn sie von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen werden und kein Nachteil für die Gesundheit des Betroffenen zu befürchten ist. Das LG fasste einen darauf gestützten Beschluss, gegen den B Beschwerde zum OLG erhob, die nur zum Teil Erfolg hatte.

Soweit der Beweisbeschluss bestätigt wurde, enthielt er die Anordnung einer stationären Untersuchung des B in der Uniklinik für die Dauer von drei Tagen und Nächten zur Feststellung seiner Erektionsfähigkeit. Während das LG dem Beschluss keine Begründung beigefügt hatte, bezog sich das OLG auf ein Gutachten des Sachverständigen S, der sich wie folgt geäußert hatte:

„Bei der Bestimmung der Erektionsfähigkeit, die nur mit Einschränkungen möglich ist, bedienen wir uns folgender Methoden:

Eine Nachtschlafuntersuchung ist zwar auch gegen den Willen des Betroffenen möglich, jedoch ist dabei dessen Kooperationsbereitschaft wesentlich. Bisher haben wir keinen Fall gehabt, bei dem die Untersuchung gegen den Willen des zu Begutachtenden durchgeführt wurde.“

B ist nicht zur Kooperation bereit und will, da gegen den Beschluss des OLG kein weiteres Rechtsmittel zulässig ist, Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erheben. Mit Aussicht auf Erfolg ?

A. Zulässigkeit einer VfB

I. Hoheitsakte i. S. des § 90 I BVerfGG sind die Beschlüsse des LG und des OLG, wobei es entscheidend auf den letztinstanzlichen Beschluss des OLG ankommt.

II. Zur Behauptung einer Grundrechtsverletzung (§ 90 I BVerfGG) kann B geltend machen, er werde in seinen Grundrechten auf körperliche Unverehrtheit (Art. 2 II 1 GG) und auf persönliche Freiheit (Art. 2 II 2 GG) verletzt.

III. Die Rechtswegerschöpfung (§ 90 II 1 BVerfGG) ergibt sich daraus, dass gegen den Beschluss des OLG kein weiteres ordentliches Rechtsmittel mehr möglich ist.

Das BVerfG hat das Gebot zur Rechtswegerschöpfung zu einem allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität der VfB erweitert. Dieser Grundsatz könnte hier entgegenstehen, weil das Strafverfahren noch nicht einmal eröffnet ist und B zumindest die Möglichkeit hat, Rechtsmittel gegen ein gegen ihn ergehendes Urteil einzulegen. Dazu BVerfG S. 3697 unter 1: Zwar wendet sich der Bf. gegen eine Maßnahme, die im Zwischenverfahren ergangen ist. Jedoch ist es ihm nicht zumutbar, zunächst den Abschluss des Strafverfahrens abzuwarten (vgl. hierzu BVerfGE 56, 363 [380]; 75, 108 [145]; 86, 15 [22]). Denn der mit der angeordneten Untersuchung verbundene Freiheitsentzug stellt einen schweren Nachteil dar, der beim Zuwarten bis zum Abschluss des Strafverfahrens nicht mehr beseitigt werden könnte.

Somit steht der Grundsatz der Subsidiarität deshalb nicht entgegen, weil der Eingriff, der in der Untersuchungsmaßnahme liegt, auf keine andere Weise als durch eine VfB abgewendet werden kann.

IV. Die Anforderungen an die Frist und die Form der VfB (§§ 92, 93 BVerfGG) können erfüllt werden. Somit wäre eine VfB zulässig.

B. Begründetheit der VfB

Die VfB ist begründet, wenn B durch die gerichtlichen Beschlüsse in einem Grundrecht verletzt wird.

I. In Betracht kommt eine Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG).

1. Das BVerfG prüft dieses Recht nicht. Möglicherweise liegt das an dem vorangegangenen Verfahren vor dem LG und dem OLG: Das LG hatte ursprünglich weitergehende Eingriffe vorgesehen. Abgesehen davon, dass es eine Begutachtung des B für eine Dauer bis zu 7 Tagen zugelassen hatte, war es dem Sachverständigen gefolgt, der als zulässige Maßnahme auch vorgesehen hatte: „Herbeiführen einer Erektion durch Einspritzen von gefäßerweiternden Medikamenten in den Penis.“ Diese Untersuchung war vom OLG aber ausdrücklich ausgeschlossen worden. Das OLG hatte angeordnet, dass keine Untersuchungsmethoden (insbes. Injektionen) eingesetzt werden dürften, durch die die körperliche Unversehrtheit des B beeinträchtigt werde. Danach konnte das BVerfG davon absehen, einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit zu prüfen.

2. Wird Art. 2 II 1 geprüft, so ist zu fragen, ob die Ultraschalluntersuchung und die nächtliche Feststellung und Aufzeichnung einer spontanen Erektion einen Eingriff in die Unversehrtheit des Körpers des B enthalten. Nach Sachs/Murswiek, GG, 2. Aufl., Art. 2 Rdnr. 156 sind keine Eingriffe „bloße Berührungen des Körpers ohne Beeinträchtigung der Substanz wie z. B. bei rein äußerlichen, schmerzlosen diagnostischen Maßnahmen (Hirnstrommessungen), äußeren strafprozessualen Maßnahmen (§§ 81a – 81c StPO)…“ (m. Nachw. in Fn. 241 – 243). Bei den gegenüber B angeordneten Maßnahmen handelt es sich um solche bloßen Berührungen, die weder in die Substanz des Körpers eingreifen noch Veränderungen bewirken und die auch nicht schmerzhaft sind. Sicherlich handelt es sich um für den Betroffenen unangenehme Vorgänge, die möglicherweise einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht enthalten – auch das wird vom BVerfG nicht geprüft –, die aber noch nicht die Qualität eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit erreichen.

Art. 2 II 1 ist folglich nicht verletzt.

II. Es könnte das Grundrecht des B auf Erhalt der körperlichen Bewegungsfreiheit (Art. 2 II 2 GG) verletzt sein. Ergänzend hierzu wäre Art. 104 GG anzuwenden.

1. BVerfG S. 3697 unter a): Die Anordnung der stationären Untersuchung bis zu einer Dauer von drei Tagen erlaubt eine Freiheitsentziehung i. S. der Art. 2 II 2, 104 II 1 GG, denn durch die Untersuchung wird die körperliche Bewegungsfreiheit des Bf. auf einen eng umgrenzten Raum für eine mehr als kurzfristige Zeitdauer beschränkt (vgl. hierzu Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl., Art. 104 Rdnr. 10).

Somit enthält der Beschluss des OLG einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 II 2 in der Gestalt einer Freiheitsentziehung (Art. 104 I, II).

2. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.

a) Schranke für das Grundrecht und Grundlage für einen Eingriff kann Art. 2 II 3, zusätzlich Art. 104, sein. BVerfG S. 3698 unter b): Nach Art. 2 II 3 i. V. mit Art. 104 GG darf in das Recht auf Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes eingegriffen werden. Als solches Gesetz kommt § 81a StPO in Betracht. Dabei handelt es sich um ein förmliches (formelles) Gesetz.

b) § 81a StPO müsste auch formell und materiell verfassungsmäßig sein. Gegen die formelle Verfassungsmäßigkeit der StPO bestehen keine Bedenken. In materieller Hinsicht ist zu prüfen, ob § 81a StPO gegen Grundrechte verstößt.

3. § 81a StPO könnte das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1) verletzen. (Dass eine Verletzung dieses Grundrechts oben I abgelehnt wurde, bezog sich auf die konkrete, gegenüber B erlassene Maßnahme. Nunmehr ist aber Prüfungsgegenstand § 81a StPO. Diese Vorschrift ist allgemein und nicht nur im Hinblick auf den Fall des B zu prüfen. Denn würde sie Art. 2 II 1 verletzen, wäre sie nichtig und könnte den Eingriff in die Freiheit des B nicht rechtfertigen.)

a) Da § 81a StPO ausdrücklich Blutproben und andere körperliche Eingriffe erlaubt, enthält diese Vorschrift einen Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit.

b) Der gesetzliche Eingriff könnte über Art. 2 II 3 gerechtfertigt sein. § 81a StPO ist ein Gesetz im Sinne des Art. 2 II 3. Die Vorschrift müsste auch dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Hierfür müsste sie geeignet, erforderlich und angemessen sein (eine Definition des BVerfG für den hier gegebenen Sachbereich folgt noch unten 5b). § 81a StPO ist geeignet, zu Feststellungen von Tatsachen zu führen, die für das Verfahren von Bedeutung sind (§ 81a I 1 StPO). Da die Tatsachen für das Verfahren von Bedeutung sein müssen, kann diese Regelung dahin ausgelegt werden, dass nur erforderliche Maßnahmen getroffen werden dürfen. Die Angemessenheit wird dadurch gewährleistet, dass die Untersuchung einerseits der Feststellung von für das Verfahren wesentlichen Tatsachen dient, andererseits nur von einem Arzt durchgeführt werden darf und dass von ihr kein Nachteil für die Gesundheit des Betroffenen zu befürchten ist. Somit ist § 81a StPO verhältnismäßig.

Art. 2 II 1 wird durch § 81a StPO nicht verletzt.

4. Eine Verletzung des Art. 2 II 2 durch § 81a StPO setzt voraus, dass § 81a StPO zu einem Eingriff in die körperliche Bewegungsfreiheit ermächtigt. Der Gesetzestext enthält dazu keine Regelung. Bei der Frage der Grundrechtsverletzung kann offen bleiben, ob § 81a einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit zulässt. Denn eine Freiheitsbeschränkung des Betroffenen würde lediglich den Zweck verfolgen, die körperliche Untersuchung zu ermöglichen, und wäre deshalb aus denselben Gründen gerechtfertigt wie der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit (oben 3b). Er bliebe in seiner Intensität noch hinter dem Eingriff in Art. 2 II 1 zurück, weil die vorübergehende Beschränkung der Bewegungsfreiheit den Betroffenen i. d. R. weniger belastet als ein Eingriff in den Körper.

§ 81a verletzt somit weder Art. 2 II 1 noch Art. 2 II 2. Die Vorschrift ist verfassungsmäßig.

5. Damit die gerichtlichen Beschlüsse als Eingriffe in Art. 2 II 2 gerechtfertigt sind, müssen diese auch durch § 81a StPO gedeckt sein. Denn nur dann sind sie, wie Art. 2 II 3 fordert, „auf Grund eines Gesetzes“ ergangen. Es muss also noch die Verfassungsmäßigkeit der Anwendung des § 81a geprüft werden (vgl. dazu auch den Fall JurTel 2005 Heft 2 S. 40 auf S. 42 unter b: Verfassungsmäßigkeit der Anwendung des § 15 VersG).

a) Eine Rechtfertigung durch § 81a StPO läge nicht vor, wenn diese Vorschrift überhaupt nicht zu Freiheitsbeschränkungen ermächtigen würde. Ob das der Fall ist, ist streitig und wird vom BVerfG offen gelassen (S. 3698 unter aa). Nach überwiegender Praxis darf das Gericht eine vorübergehende, maximal 4 - 5 Tage dauernde Unterbringung zur Vorbereitung und Durchführung der Untersuchung anordnen (BayVerfGH NJW 1982, 1583; OLG Frankfurt MDR 1979, 694; OLG Schleswig NStZ 1982, 81; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl. 2001, § 81a Rdnr. 24, dort auch Nachw. auf die Gegenmeinung). Somit kann sich die gerichtliche Anordnung im vorliegenden Fall auf § 81a stützen.

b) Da § 81a eine solche Maßnahme nicht zwingend vorschreibt, steht sie unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall. BVerfG S. 3698 unter bb): Der Richter hat, wie bei allen staatlichen Eingriffen in die Freiheitssphäre, bei der Entscheidung über eine auf § 81a StPO gestützte freiheitsentziehende Maßnahme den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt zu beachten (vgl. BVerfGE 16, 194 [201 f.] – „Liquorentnahme“, dem vorliegenden Fall ähnlich). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich ist und dass der mit ihr verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des Tatverdachts steht…

aa) Ob die gerichtlich angeordnete Maßnahme geeignet ist, ist angesichts der Ausführungen des Sachverständigen zweifelhaft. Einerseits bedarf es danach einer Kooperationsbereitschaft des Betroffenen, die nicht gegeben ist. Andererseits soll eine Untersuchung auch gegen den Willen des Betroffenen möglich sein. Da es für die Geeignetheit ausreicht, dass der erstrebte Zweck möglicherweise gefördert wird, die Maßnahme also nicht von vornherein ungeeignet ist, lässt sich die Geeignetheit hier noch bejahen. Insbesondere könnte bereits die Ultraschalluntersuchung ein negatives Ergebnis haben, was eine Entlastung des B zur Folge hätte. – Das BVerfG hat die Frage der Geeignetheit ebenso wie die der Erforderlichkeit ausdrücklich offen gelassen (S. 3698 unter cc), hat diese Gesichtspunkte aber in die Überlegungen unten cc) mit einfließen lassen.

bb) Eine Maßnahme ist dann nicht erforderlich, wenn ein milderes Mittel zur Verfügung steht. Geht man davon aus, dass die Frage der Erektionsfähigkeit des B einen für das Strafverfahren wesentlichen Punkt betrifft, ist ein anderes Mittel zu ihrer Feststellung nicht ersichtlich.

cc) Es bleibt die Verhältnismäßigkeit i. e. S. (Angemessenheit, vom BVerfG als Übermaßverbot bezeichnet) zu prüfen. Bei ihr ist zwischen dem Nutzen und dem Schaden der Maßnahme abzuwägen. Schaden ist die Beeinträchtigung des B. Da der Eingriff eine mehrtägige Entziehung der Freiheit zur Folge hat und mit einer Ausforschung des Intimbereichs verbunden ist, handelt es sich um eine schwerwiegende Belastung des B. Beim Nutzen ist auf die Bedeutung der Sache und die Stärke des Tatverdachts abzustellen (BVerfG oben b). Mehrere Vergewaltigungen sind Straftaten von erheblicher Bedeutung. Über den Tatverdacht gegenüber B gibt es keine näheren Angaben. Entsprechend seiner Aufgabe bei Urteilsverfassungsbeschwerden, die angegriffene Entscheidung auf spezifische Verfassungsverletzungen zu überprüfen, beanstandet das BVerfG, dass das OLG als Beschwerdegericht keine ausreichende Prüfung vorgenommen hat. S. 3698 unter cc): Dies verdeutlichen seine Ausführungen, es spreche zwar einiges dafür, dass es der angeordneten Maßnahme angesichts der gesamten Beweislage nicht unbedingt bedürfe und dem Ergebnis angesichts der seit der Tat verstrichenen Zeit allenfalls ein beschränkter Beweiswert zukomme; dieses sei vom BeschwGer. jedoch nicht zu überprüfen. Das BeschwGer. hat vielmehr diese Umstände bei der Überprüfung freiheitsentziehender Maßnahmen im Rahmen der von Verfassungs wegen gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu würdigen. Dabei hätte es den Nutzen der Maßnahme, insbesondere auch angesichts des Alters des B, genau darlegen müssen. Da das nicht geschehen ist, ist davon auszugehen, dass die Maßnahme zu keinem Vorteil führt, der die gravierende Belastung des B durch den Eingriff aufwiegt. Nach BVerfG hat das BeschwGer Inhalt und Tragweite des Übermaßverbots verkannt.

c) Folglich verletzt die Maßnahme das Verhältnismäßigkeitsprinzip und damit Art. 2 II 2. Die VfB ist begründet. Das BVerfG wird die angegriffenen gerichtlichen Beschlüsse gemäß § 95 II BVerfGG aufheben.

Zusammenfassung