Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

Grundrecht auf Schutz vor Auslieferung, Art. 16 II 1 GG; Ausnahmen nach Art. 16 II 2 GG. Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl, Art. 34 II b EU-Vertrag; Umsetzung durch deutsches Gesetz. Unterscheidung zwischen EG-Gemeinschaftsrecht und EU-Recht der „Dritten Säule“ (Art. 29 ff. EU-V). Gebot zur Ausnutzung eines durch EU-Recht eingeräumten Spielraumes durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip des deutschen Verfassungsrechts. Rechtsschutzgarantie, Art. 19 IV GG

BVerfG Beschluss vom 18. 7. 2005 (2 BvR 2236/04) NJW 2005, 2289; dazu Böhm NJW 2005, 2588

Fall (Europäischer Haftbefehl aus Spanien)

 

Der aus Syrien stammende B besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und lebt in Hamburg. Die zuständige spanische Justizbehörde wirft ihm vor, sich an terroristischen Aktivitäten beteiligt zu haben, die sich in Spanien ausgewirkt hätten, was B aber bestreitet. Sie hat einen Europäischen Haftbefehl ausgestellt und diesen der Hamburger Justizbehörde mit dem Ersuchen übersandt, B zur Strafverfolgung nach Spanien auszuliefern. Für die sich hieran anschließende Prüfung durch die deutschen Staatsorgane sind folgende gesetzlichen Vorschriften maßgebend: Nach Art. 16 II Satz 1 GG darf kein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden. Satz 2: Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. Nach einem auf Art. 34 II b) EU-Vertrag (nicht: EG-Vertrag) gestützten Rahmenbeschluss des Rates der EU aus dem Jahre 2002 wurde ein Europäischer Haftbefehl eingeführt, der vom Ausstellungsmitgliedstaat erlassen wird und für den Vollstreckungsmitgliedstaat grundsätzlich verbindlich ist. Nach Art. 4 Nr. 7 dieses Rahmenbeschlusses ( RbEuHb) kann die Vollstreckung aber verweigert werden, u. a. wenn sich der Haftbefehl auf eine Straftat erstreckt, die ganz oder zum Teil im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats begangen wurde. Die erforderliche Umsetzung des Rahmenbeschlusses in nationales Recht erfolgte in Deutschland durch das Europäische Haftbefehlsgesetz ( EuHbG, BGBl I 2004, 1748), das die einschlägigen Vorschriften in das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) eingefügt hat. Nach § 81 Nr. 4 EuHb/IRG wird bei den vom RbEuHb erfassten Straftaten die beiderseitige Strafbarkeit nicht mehr geprüft. Was das Auslieferungsverfahren betrifft, ist dieses nach deutschem Recht zweispurig: Über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidet das OLG. Außerdem bedarf es einer Bewilligung durch die Justizbehörde, bei der traditionell ein gewisses politisches Ermessen ausgeübt wird und die nicht anfechtbar ist. Im Fall des B erklärte das OLG Hamburg durch Beschluss die Auslieferung für zulässig; die hamburgische Justizbehörde bewilligte die Auslieferung. Gegen beide Maßnahmen erhob B in zulässiger Weise Verfassungsbeschwerde, über die das BVerfG zu entscheiden hatte.

Die VfB ist begründet, wenn B in einem Grundrecht verletzt ist.

A. Da B Deutscher ist, könnte er in seinem Grundrecht auf Schutz vor Auslieferung (Art. 16 II 1 GG) verletzt sein. Das BVerfG (S. 2290) hebt den hohen Rang dieses Grundrechts hervor und sieht seinen Sinn darin, dass deutsche Bürger  nicht gegen ihren Willen aus der ihnen vertrauten Rechtsordnung entfernt werden. Jeder Staatsangehörige soll – soweit er sich im Staatsgebiet aufhält – vor den Unsicherheiten einer Aburteilung unter einem ihm fremden Rechtssystem und in für ihn schwer durchschaubaren fremden Verhältnissen bewahrt werden… Art. 16 II ist als Freiheitsrecht – Freiheit vor Auslieferung – ausgestaltet ( BVerfG S. 2290) und deshalb nach „Eingriff in den Schutzbereich“ und „Rechtfertigung“ zu prüfen.

I. Sowohl der Beschluss des OLG als auch die Bewilligung enthalten einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 16 II 1, weil durch beide Maßnahmen entgegen dieser Vorschrift eine Auslieferung an einen ausländischen Staat gestattet wird.

II. Der Eingriff könnte aber gerechtfertigt sein. Grundlage für die Rechtfertigung kann Art. 16 II 2 sein.

1. Das BVerfG prüft zunächst, ob diese, im Jahre 2000 eingefügte Vorschrift mit Art. 79 III GG in Einklang steht und bejaht das, S. 2290 unter aa):   Die Auslieferung Deutscher verstößt…nicht gegen die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze. Weder wird durch eine rechtsstaatlichen Grundsätzen gehorchende Auslieferung Deutscher deren Menschenwürde verletzt noch werden dadurch die Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG angetastet…

2. Art. 16 II 2 enthält einen durch den Nachsatz „soweit…“ qualifizierten Gesetzesvorbehalt. So BVerfG S. 2291, das unter aa) weiterhin ausführt:

a) Bei dem Zusatz „soweit…“   handelt es sich um eine auf den ersuchenden Mitgliedstaat und den Internationalen Gerichtshof bezogene Erwartung im Sinne einer Strukturentsprechung, wie sie auch Art. 23 I GG formuliert. Der die Auslieferung Deutscher erlaubende Gesetzgeber muss prüfen, ob diese rechtsstaatlichen Voraussetzungen von den ersuchenden Stellen erfüllt werden. Da allerdings der Gesetzgeber das künftige Ersuchen und dessen Absender noch nicht kennt, kann diese Anforderung nur so verstanden werden, dass der Gesetzgeber die deutschen Gerichte und Behörden zu einer solchen Prüfung verpflichtet.

b)  Die besondere im Wortlaut des Art. 16 II 2 GG genannte Schranke verdrängt nicht die für jedes grundrechtseinschränkende Gesetz bestehenden Grenzen der Verfassung. Das ein Grundrecht einschränkende Gesetz muss seinerseits allen verfassungsrechtlichen Bindungen entsprechen, darf keine Kollisionen mit anderen Verfassungsbestimmungen hinnehmen und muss unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgebots den Eingriff schonend ausgestalten.

III. Gesetz i. S. des Art. 16 II 2 GG ist im vorliegenden Fall das Europäische Haftbefehlsgesetz ( EuHbG), das die einschlägigen Vorschriften in das IRG eingefügt hat.

1. Dieses Gesetz berechtigt zu Eingriffen in die Auslieferungsfreiheit und enthält deshalb selbst einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 16 II 1.

2. Um nach Art. 16 II 2 gerechtfertigt zu sein, müsste es den vom BVerfG vorstehend unter II 2 aufgeführten Anforderungen entsprechen. Bei seiner Prüfung knüpft das BVerfG an die Voraussetzungen unter b) an und geht dabei von der besondere Situation aus, dass es sich hierbei um die Umsetzung eines unionsrechtlich verbindlichen Beschlusses handelt.

a) Bei dem Rahmenbeschluss handelt es sich um eine Maßnahme im Bereich der Dritten Säule des Rechts der EU. Die erste Säule wird von der Europäischen Gemeinschaft i. S. des EG-Vertrages gebildet (Kernbereich: Wirtschaftsgemeinschaft und Binnenmarkt), die zweite Säule von der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) i. S. der Art. 11 ff. EU-Vertrag. Dritte Säule ist die Polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) i. S. der Art. 29 ff. EU-Vertrag. BVerfG S. 2291/2 unter bb):   Der Rahmenbeschluss…ist ein sekundärer Unionsrechtsakt, der die Zielvorgabe des EU-Vertrags [= Verbesserte Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden zur Schaffung eines „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“] rechtlich ausfüllt. Der Rahmenbeschluss ist nach Art. 34 II lit. b EU [= EU-Vertrag] im Hinblick auf das „zu erreichende Ziel“ verbindlich. Die unionsrechtliche Handlungsform ist zwar in ihrer Konzeption der Richtlinie des supranationalen Gemeinschaftsrechts nachgebildet, weicht jedoch in mehrfacher Hinsicht von dieser Sekundärrechtsquelle ab. Ein Rahmenbeschluss ist nicht unmittelbar wirksam (Art. 34 II lit. b EU), er bleibt für seine innerstaatliche Gültigkeit darauf angewiesen, dass er von den Mitgliedstaaten in das nationale Recht umgesetzt wird   (während eine Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen auch unmittelbare Rechtswirkungen haben kann)… Das Europäische Parlament…wird in dem Rechtsetzungsprozess lediglich angehört… Ebenso wie in E 89, 196 unterscheidet das BVerfG also nicht nur auf der Vertragsebene, sondern auch auf der Ebene des Sekundärrechts zwischen

b) Durch die in Art. 4 Nr. 7 RbEuHb enthaltenen Ausnahmemöglichkeiten wurde dem deutschen Gesetzgeber ein Spielraum eingeräumt. Danach kann die Vollstreckung verweigert werden, u. a. wenn sich der Haftbefehl auf eine Straftat erstreckt, die ganz oder zum Teil im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats begangen wurde. Das BVerfG verknüpft diesen Spielraum mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip des deutschen Verfassungsrechts und begründet dadurch Schranken für den deutschen Gesetzgeber.

aa ) BVerfG S. 2292 unter cc): Die Bestimmungen des RbEuHb   lassen eine Begrenzung der Auslieferung durch innerstaatliches Recht zu. Der Gesetzgeber war beim Erlass des Umsetzungsgesetzes verpflichtet, das Ziel des Rahmenbeschlusses so umzusetzen, dass die dabei unumgängliche Einschränkung des Grundrechts auf Auslieferungsfreiheit verhältnismäßig ist.

bb ) Bei den – der Verhältnismäßigkeit i. e. S. (Angemessenheit) zuzuordnenden – Überlegungen unterscheidet das BVerfG danach, wo die Tat begangen wurde, weil bei einer ganz oder teilweise im Inland (= mit Inlandsbezug) begangenen Tat das Vertrauen des Deutschen darauf, nur in Deutschland verfolgt zu werden, besonders hoch zu gewichten ist.

(1)   Ein maßgeblicher Inlandsbezug liegt jedenfalls dann vor, wenn wesentliche Teile des Handlungs- und Erfolgsortes auf deutschem Staatsgebiet liegen. In dieser Konstellation treffen die Verantwortung des Staates für die Unversehrtheit seiner Rechtsordnung und die grundrechtlichen Ansprüche des Verfolgten dergestalt zusammen, dass regelmäßig ein Auslieferungshindernis entsteht. Wer als Deutscher im eigenen Rechtsraum eine Tat begeht, muss grundsätzlich nicht mit einer Auslieferung an eine andere Staatsgewalt rechnen. Wäre dies anders, so geriete eine so beschaffene Einschränkung des Schutzes vor Auslieferung bereits in die Nähe des Wesensgehalts des Grundrechts. Für den Verfolgten bedeutet die Überstellung in eine andere…Rechtsordnung nicht nur eine verfahrensrechtliche Schlechterstellung, die in Sprachhindernissen sowie andersartigem Prozessrecht und Verteidigungsmöglichkeiten liegen kann. Sie bindet ihn auch im Ergebnis an ein materielles Strafrecht, das er …nicht kennen muss und das ihm in vielen Fällen wegen mangelnder Vertrautheit der jeweiligen nationalen öffentlichen Kontexte auch keine hinreichend sichere Parallelwertung in der Laiensphäre erlaubt.

(2)  Anders fällt die Beurteilung aus, wenn die vorgeworfene Tat einen maßgeblichen Auslandsbezug hat. Wer in einer anderen Rechtsordnung handelt, muss damit rechnen, auch hier zur Verantwortung gezogen zu werden. Dies wird regelmäßig der Fall sein, wenn die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen auf dem Territorium eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union begangen wurde und der Erfolg dort eingetreten ist.

(3)   Während in den genannten Fallgestaltungen das Ergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung in aller Regel vorgezeichnet ist, bedarf es der konkreten Abwägung im Einzelfall, wenn ganz oder teilweise in Deutschland gehandelt worden, der Erfolg aber im Ausland eingetreten ist.

3. Diesen Gestaltungsmöglichkeiten, die vom RbEuHb eröffnet werden und von denen nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip des deutschen Verfassungsrechts Gebrauch gemacht werden muss, trägt das EuHbG nicht Rechnung. Es hat darüber hinaus die Eingriffswirkung dadurch verstärkt, dass nach § 81 Nr. 4 EuHb/IRG bei den vom RbEuHb erfassten Straftaten die beiderseitige Strafbarkeit nicht mehr geprüft und dadurch zugelassen wird, dass ein Deutscher im Ausland wegen einer in Deutschland vorgenommenen Handlung bestraft wird, die in Deutschland nicht strafbar ist ( BVerfG S. 2293 unter bb). Dies zuzulassen wird vom RbEuHb nicht gefordert. Folglich kommt das BVerfG S. 2293 unter d) zum Ergebnis:   Der vom Gesetzgeber eingeschlagene Weg zur Erreichung der Ziele des Rahmenbeschlusses greift unverhältnismäßig in die Auslieferungsfreiheit nach Art. 16 II GG ein.

IV. Auf Grund dieses Verstoßes ist das EuHbG nichtig ( BVerfG S. 2296 unter II). Die auf dieses Gesetz gestützten Entscheidungen des OLG Hamburg und der Hamburger Justizbehörde sind nicht nach Art. 16 II 2 gerechtfertigt und verletzen B in seinem Grundrecht aus Art. 16 II.

B. Ferner könnte das Grundrecht auf Rechtsschutz gegen Akte der staatlichen Gewalt (Art. 19 IV GG) durch das EuHbG verletzt sein.

I. Das BVerfG fasst zunächst auf S. 2294 unter aa) die für Art. 19 IV geltenden Grundsätze zusammen, insbesondere dass Art. 19 IV ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen alle Akte der öffentlichen Gewalt gewährt.

II. Voraussetzung ist ein Hoheitsakt. Ein solcher ist die Entscheidung der Justizbehörde über die Bewilligung der Auslieferung.

III. Ihr gegenüber ist ein Rechtsschutz nicht vorgesehen.

1. Das BVerfG legt auf S. 2295 unter cc) dar, dass dies aus der traditionellen Zweiteilung des Verfahrens resultiert:   Das Zulässigkeitsverfahren diente und dient dem präventiven Rechtsschutz des Verfolgten, während das Bewilligungsverfahren die Berücksichtigung außen- und allgemeinpolitischer Aspekte des jeweiligen Falls ermöglichen soll.

2. Durch den RbEuHb und das diesen umsetzende EuHbG ist aber die Entscheidung über die Auslieferung weitgehend verrechtlicht und der politisch motivierten Entscheidung entzogen worden. BVerfG S. 2295/6 unter b) bb):   Diese Verrechtlichung der Bewilligung einer Auslieferung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union erfüllt bereits die Voraussetzungen des Art. 19 IV GG. Die bei der Bewilligung zu treffende Abwägungsentscheidung dient dem Schutz der Grundrechte des Verfolgten und darf richterlicher Prüfung nicht entzogen werden.

Somit verletzt das EuHbG Art. 19 IV und ist auch aus diesem Grunde nichtig. Zugleich verletzt die auf dieses Gesetz gestützte Bewilligung B in seinem Grundrecht aus Art. 19 IV.

C. Die OLG-Entscheidung und die Bewilligung verstoßen gegen Art. 16 II, die Bewilligung verstößt außerdem gegen Art. 19 IV. Die VfB ist begründet. Das BVerfG hat beide Entscheidungen aufgehoben und ausgeführt, dass bis zum Erlass eines neuen Gesetzes die Auslieferung eines Deutschen an einen Mitgliedstaat der EU nicht möglich ist (S. 2297 unter III). – Der Entscheidung sind drei „abweichende Meinungen“ beigefügt und in der NJW auf S. 2297 ff. abgedruckt.

 

Zusammenfassung