Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Beschränkungen des fließenden Verkehrs durch Verkehrszeichen; LKW-Überholverbot auf Autobahn, § 45 Abs. 1 Satz 1, Absatz 9 StVO. ► Verhältnismäßigkeit von Verkehrsbeschränkungen
BVerwG Beschluss vom 4. 7. 2007 (3 B 79.06) NJW 2007, 3015
Fall (Segelboottransporte auf der A 7)
Die durch das Bundesland L verlaufende Bundesautobahn 7 ist die Haupttransitstrecke nach Skandinavien mit einem hohen Lkw-Anteil. In den Abschnitten, die in den beiden Fahrtrichtungen nur zweispurig ausgebaut sind, kommt es zu überdurchschnittlich vielen Unfällen im Zusammenhang mit Überholversuchen von LKWs. Die zuständige Straßenverkehrsbehörde B ordnete deshalb zwischen den Anschlussstellen N (Neumünster) und Q (Quickborn), zwischen denen die A 7 in beiden Richtungen nur zwei Fahrbahnen hat, Überholverbote für LKWs an, indem sie in beiden Fahrtrichtungen Verkehrsschilder gemäß § 41 StVO Nr. 277 (Überholverbot für LKWs) mit dem Zusatz „6 - 20 h“ aufstellte. Seitdem sind die Unfallzahlen rückläufig.
K ist Inhaber eines Unternehmens, das Segelboote und Motoryachten mit einem Gewicht bis 12 t im Fernverkehr transportiert. Er befährt regelmäßig die A 7. Seine Kunden legen auf kurze Transportzeiten großen Wert. Er hält es für unzumutbar, dass er sich kilometerlang hinter schweren LKWs halten muss, weil er nicht überholen darf. Auch sieht er nicht ein, dass er Nachteile deshalb hat, weil andere Verkehrsteilnehmer Unfälle verursachen; auch im Straßenverkehrsrecht müssten Maßnahmen zum Nachteil von Nichtstörern die seltene Ausnahme bleiben. Nach erfolglosem Widerspruch - dieser ist im Lande L noch nicht abgeschafft - hat er verwaltungsgerichtliche Klage gegen die Überholverbote erhoben. Wie ist zu entscheiden ?
A. Zulässigkeit der Klage
I. Die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges hat nach § 40 I VwGO eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit zur Voraussetzung. Die von K erhobene Klage richtet sich gegen ein durch Verkehrszeichen angeordnetes Überholverbot. Dieses ist auf der Grundlage von Vorschriften der StVO (§§ 36 - 43) ergangen, die zum öffentlich-rechtlichen Verkehrsrecht gehören. Das Überholverbot ist somit eine öffentlich-rechtliche Maßnahme. Eine Klage, die sich gegen eine öffentlich-rechtliche Maßnahme richtet, begründet eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, für die der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist.
II. Der Klageart nach könnte es sich um eine Anfechtungsklage (§ 42 I VwGO) handeln. Das Klagebegehren des K zielt auf Beseitigung der durch Verkehrszeichen angeordneten Überholverbote. Um eine Anfechtungsklage würde es sich handeln, wenn das Verkehrszeichen ein Verwaltungsakt i. S. des § 35 VwVfG wäre.
1. Verkehrszeichen sind Maßnahmen einer Verwaltungsbehörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts (der StVO). Verbots- und Gebotszeichen enthalten auch eine Regelung mit Außenwirkung; im vorliegenden Fall handelt es sich um ein Verbotszeichen.
2. Das Merkmal der Einzelfallregelung könnte problematisch sein, weil Verkehrszeichen für eine Vielzahl von Verkehrsvorgängen und auch für eine längere Dauer gelten. Jedoch bestimmt § 35 Satz 2 Fall 3 VwVfG, dass eine Regelung, die die Benutzung einer Sache durch die Allgemeinheit betrifft, ein VA in der Form der Allgemeinverfügung ist. Damit sind vor allem verbietende und gebietende Verkehrszeichen gemeint. Sie sind Verwaltungsakte (ganz h. M., Nachw. bei Durner JA 2008, 399, 400 Fn. 5, Besprechung dieses Falles).
Die Aufhebung dieser VAe ist Ziel der Klage des K. Es handelt sich somit um eine Anfechtungsklage.
III. Die Klagebefugnis nach § 42 II VwGO lässt sich hier nicht mit einer Adressatenstellung des K begründen, weil die Allgemeinverfügung Verbotsschild keinen bezeichneten Adressaten hat. K kann sich aber auf eine Grundrechtsverletzung berufen. Zwar dürfte eine Verletzung des Grundrechts auf Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) von vornherein ausscheiden, weil K zwar einen Beruf ausübt, ein Verkehrszeichen aber nicht die vom BVerfG für einen Eingriff in Art. 12 I geforderte berufsregelnde Tendenz aufweist. K kann aber eine Verletzung des Rechts auf allgemeine Handlungsfreiheit geltend machen, das auch die Freiheit zu einem bestimmten Fahrverhalten und damit auch die Freiheit zum Überholen eines anderen Fahrzeugs schützt. Für einen Eingriff in diese Freiheit des K reicht aus, dass K die Autobahn A 7 befährt. Dass er das regelmäßig oder nachhaltig tut, braucht er nicht vorzutragen (BVerwG NJW 2004, 698/9; Durner JA 2008, 400).
IV. Das nach § 68 I VwGO erforderliche Widerspruchsverfahren hat K durchlaufen, ohne dass dieses zum Erfolg geführt hätte.
V. Weitere Zulässigkeitsbedenken sind nicht ersichtlich. Die Klage des K gegen den Träger der Straßenverkehrsbehörde B (§ 78 I Nr. 1 VwGO) bzw. gegen die B-Behörde selbst (§ 78 I Nr. 2 VwGO) ist zulässig.
B. Die Begründetheit der Anfechtungsklage hat gemäß § 113 I VwGO zur Voraussetzung, dass der angefochtene VA rechtswidrig ist. Dementsprechend sind die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für ein Überholverbot auf der Autobahn zu prüfen.
I. Eine spezielle, gerade für Autobahnen geltende Ermächtigungsgrundlage gibt es nicht. Es kommt deshalb die in § 45 StVO enthaltene allgemeine Ermächtigung für Verkehrszeichen zum Zwecke des Verbots oder der Beschränkung des Verkehrs auf bestimmten Straßen oder Straßenstrecken zur Anwendung. Nach § 45 I 1 StVO sind solche Maßnahmen aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs zulässig. Ergänzt wird diese Ermächtigung durch die Einschränkungen in § 45 Abs. 9 Satz 1 und Satz 2 StVO. Nach Satz 1 sind Verkehrszeichen nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Nach Satz 2 dürfen Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Rechtsgutbeeinträchtigung erheblich übersteigt.
II. Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit der die Überholverbote anordnenden Verkehrsschilder bestehen nicht. Die B-Behörde war zuständig (§ 44 I 1 StVO). Eine Anhörung Betroffener sowie eine Begründung bei der Anbringung von Verkehrszeichen sind in der StVO nicht vorgesehen. Nach §§ 28 II Nr. 4, 39 II Nr. 5 VwVfG sind Anhörung und Begründung bei Allgemeinverfügungen entbehrlich.
III. In materieller Hinsicht sind die Voraussetzungen nach § 45 I 1, IX 1, 2 StVO zu prüfen, wobei eine von der in § 45 StVO gewählten Reihenfolge teilweise abweichende Behandlung zweckmäßig erscheint.
1. Zunächst müssten Gründe der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs vorliegen (§ 45 I 1 StVO). Gründe der Sicherheit des Verkehrs ergeben sich hier aus den Unfällen im Zusammenhang mit Überholversuchen von LKWs. Sie haben in der Vergangenheit stattgefunden, und mit weiteren Unfällen dieser Art ist in Zukunft zu rechnen.
2. Daraus, dass es sich um überdurchschnittlich viele Unfälle handelt, folgt auch, dass die Unfallgefahren auf der A 7 das allgemeine Risiko einer Rechtsgutbeeinträchtigung erheblich übersteigen (§ 45 IX Satz 2).
3. Die Gefahrenlage muss ihren Grund in den besonderen örtlichen Verhältnissen haben (§ 45 IX Satz 2), woraus sich auch die nach § 45 IX Satz 1 erforderlichen besonderen Umstände ergeben. Hierbei handelt es sich um eine problematische Voraussetzung, weil angesichts des stetig wachsenden LKW-Verkehrs auf den deutschen Autobahnen die Gefahren durch überholende LKWs mehr oder weniger auf vielen anderen Strecken zunehmen.
a) Das BVerwG verweist unter Rdnr. 2 zunächst auf die Feststellungen des BerGer.: Besondere örtliche Verhältnisse ergäben sich hier aus der Bedeutung der mit nur zwei Fahrstreifen pro Richtung ausgestatteten Bundesautobahn 7 insbesondere für den Transit nach Skandinavien und einer daraus resultierenden starken Belastung durch Schwerlastverkehr, verbunden mit einem hohen Unfallaufkommen unter Beteiligung des Güterkraftverkehrs.
b) Daran anknüpfend bezieht sich das BVerwG auf seine bisherige Rspr., u. a. auf BVerwG NJW 2001, 3139, und führt zum vorliegenden Fall unter Rdnr. 6 aus: Welche die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beeinflussenden Faktoren als besondere örtliche Verhältnisse im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO in Betracht kommen, ist in der genannten Rspr. des BVerwGs bereits hinreichend geklärt. Der Senat hat in seinem Urteil NJW 2001, 3139 solche besonderen örtlichen Verhältnisse beispielsweise dann angenommen, wenn eine Bundesautobahn den „Charakter einer innerstädtischen Schnellstraße“ angenommen hat, auf der unterschiedliche Verkehrsströme zusammengeführt und getrennt werden und wo deshalb eine erhöhte Unfallgefahr vorliegen kann, oder wenn der Streckenverlauf durch eng aufeinander folgende Autobahnkreuze bzw. Autobahndreiecke und eine Vielzahl von sonstigen Ab- und Zufahrten geprägt wird. Neben diesen auf die Streckenführung bezogenen Faktoren hat der Senat wesentlich auf die Verkehrsbelastung der betreffenden Strecke abgestellt… Es liegt auf der Hand, dass eine besondere Verkehrsbelastung auch für sich allein die Gefahren begründen kann, die Maßnahmen der hier in Rede stehenden Art zu begründen vermögen. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der A 7 um die Haupttransitstrecke nach Skandinavien mit einem dementsprechend hohen Lkw-Anteil. Das Überholverbot betrifft Streckenabschnitte, auf denen in beiden Richtungen nur zwei Fahrbahnen zur Verfügung stehen. Daraus folgt die vom BVerwG geforderte und im vorliegenden Fall bejahte besondere Verkehrsbelastung, aus der sich wiederum die besonderen örtlichen Verhältnisse i. S. des § 45 IX 2 StVO ergeben.
4. Nach § 45 IX Satz 1 StVO müssen die Verkehrsbeschränkungen zwingend geboten sein. Dieses Merkmal betrifft das für belastende Maßnahmen zur Gefahrenabwehr stets geltende Gebot der Verhältnismäßigkeit.
a) Das Überholverbot müsste zur Absenkung der Unfallzahlen beim Überholen geeignet sein. Obwohl sich die Rechtmäßigkeit der Verkehrszeichen aus den Verhältnissen zum Zeitpunkt ihres Erlasses beurteilt, hat das BerGer., vom BVerwG gebilligt, auch die zwischenzeitliche Entwicklung mit herangezogen. Rdnr.3: Die Eignung der Überholverbote zum Erreichen der angestrebten Ziele zeige sich an den seitdem zurückgegangenen Unfallzahlen…
b) Zwar verlangt die StVO, dass die Maßnahmen zwingend geboten sind. Gleichwohl reicht nach Auffassung der Gerichte aus, dass - entsprechend dem allgemeinen Erforderlichkeitsgrundsatz - mildere Maßnahmen nicht ersichtlich sind, was hier der Fall ist.
c) Die Angemessenheit wäre zu verneinen, wenn die Auswirkungen der verhängten Beschränkungen größeres Gewicht hätten als die damit zu bekämpfenden Gefahren. Jedoch ist das Gegenteil der Fall: Verkehrsunfälle durch überholende LKWs sind weitaus gefährlicher als der den LKWs zugemutete zeitweilige Verzicht auf das Überholen. Dass die Kunden des K dadurch eine geringfügig längere Transportzeit in Kauf nehmen müssen, ist ihnen zuzumuten, zumal es sich bei Segelbooten und Yachten nicht um lebenswichtige Güter handelt. Die Überholverbote sind somit auch nicht unangemessen.
5. Dass sich Verkehrsbeschränkungen durch Verkehrszeichen nur gegen Störer richten dürfen - wie K geltend macht -, ergibt sich aus der StVO nicht (BVerwG Rdnr. 10) und würde allgemeine Verkehrsregelungen durch Verkehrszeichen auch praktisch unmöglich machen. Eine solche Voraussetzung besteht deshalb nicht.
Ergebnis: Die Voraussetzungen für Überholverbote nach § 45 I 1, IX 1 und 2 StVO sowie die Annforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips sind erfüllt. Die angegriffenen Verkehrszeichen sind rechtmäßig. Die Anfechtungsklage ist unbegründet.
Zusammenfassung