Rückforderung einer Beihilfe durch Rücknahme oder Widerruf und Rückforderungsbescheid, §§ 48, 49, 49 a VwVfG. ► Aufrechnung im Verwaltungsrecht, § 387 BGB analog. ► Bedeutung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs (§ 80 I VwGO), insbesondere im Zusammenhang mit einer Aufrechnung durch die Behörde

BVerwG
Urteil vom 20. 11. 2008 (3 C 13/08) NJW 2009, 1099

Fall (Aufrechnung in der Forstwirtschaft)

E ist Eigentümer größerer Waldflächen, für deren naturnahe Bewirtschaftung er öffentliche Mittel von der Forstbehörde F beansprucht. Für das Jahr 2008 ist ihm eine Förderung durch Bescheid vom 1. 11. 2008 in Höhe von 327 EUR bewilligt worden; der Betrag wurde bisher noch nicht überwiesen. Im Jahre 2007 waren zwei Förderungsbescheide über 380 EUR und 410 EUR ergangen, deren Beträge ausgezahlt worden waren. Mit Bescheid vom 2. 12. 2008 widerrief die F-Behörde den für 2007 bewilligten Betrag über 410 EUR und verlangte die Rückzahlung dieses Betrages. Dagegen hat E Anfechtungsklage vor dem VG erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Als E die Auszahlung der für 2008 bewilligten 327 EUR anmahnte, erklärte F mit Schreiben vom 6. 1. 2009 die Aufrechnung mit ihrem Anspruch auf Rückzahlung der 410 EUR und verweigerte die Zahlung der 327 EUR. E beabsichtigt eine verwaltungsgerichtliche Klage gegen F auf Zahlung der 327 EUR. Hat diese Aussicht auf Erfolg ?

A. Da E bereits über einen Bewilligungsbescheid in Höhe der verlangten 327 EUR verfügt, kann er unmittelbar auf Leistung klagen. Gegen die Zulässigkeit einer verwaltungsgerichtlichen Leistungsklage gegen den Träger der Forstbehörde F bestehen keine Bedenken.

B. Für die Begründetheit der Klage braucht E einen Anspruch gegen F.

I. Anspruchsgrundlage ist der Bewilligungsbescheid vom 1. 11. 2008. Er ist ein Verwaltungsakt mit dem Regelungsgehalt, dass E einen Betrag von 327 EUR erhält. Damit ist ein Zahlungsanspruch des E gegen F entstanden.

II. Der Anspruch könnte jedoch analog §§ 387, 389 BGB durch Aufrechnung erloschen sein. Mangels einer allgemeinen Regelung der Aufrechnung im Verwaltungsrecht sind §§ 387 ff. BGB im Verwaltungsrecht analog anwendbar. Das ergibt sich auch aus § 395 BGB, der die Aufrechnung gegen Forderungen öffentlicher Kassen der Beschränkung unterwirft, dass für beide Forderungen dieselbe Kasse zuständig ist.

Eine Aufrechnungserklärung (§ 388 BGB) durch F ist mit Schreiben vom 6. 1. 2009 erfolgt. Sie führt zum Erlöschen der Forderung des E, wenn die Aufrechnungslage des § 387 BGB gegeben ist. Hierfür müsste der F eine fällige Gegenforderung gegen E zustehen.

1. Fällige Gegenforderung könnte ein Anspruch auf Rückzahlung der für 2007 bewilligten und gezahlten 410 EUR sein.

a) Die F-Behörde hat die erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um diesen Anspruch durch Widerruf gemäß § 49 VwVfG (oder Rücknahme nach § 48 VwVfG) zur Entstehung zu bringen und ihn gemäß § 49 a I VwVfG geltend zu machen. Damit ist ein solcher Anspruch zunächst auch entstanden.

b) Für eine Aufrechnung ist aber erforderlich, dass der Anspruch Bestand hat. Ob das hier der Fall ist, lässt sich nicht feststellen. Denn E hat gegen den Bescheid Anfechtungsklage erhoben. Es ist möglich, dass das Verwaltungsgericht in der Entscheidung über diese Klage den Bescheid aufhebt und damit den Rückforderungsanspruch beseitigt (dies mit rückwirkender Kraft). Deshalb kann vor einer Entscheidung über die Anfechtungsklage nicht vom Bestehen eines Anspruchs, mit dem aufgerechnet werden kann, ausgegangen werden. Zur Zeit ist das Bestehen dieses Anspruchs ungewiss.

2. Möglicherweise kommt es aber auf das Bestehen des Anspruchs nicht an. Die von E gegen den Rückforderungsbescheid erhobene Klage hat nach § 80 I VwGO aufschiebende Wirkung (Suspensiveffekt). Die aufschiebende Wirkung könnte die Geltendmachung des (möglichen) Anspruchs hindern, so dass selbst dann, wenn der Anspruch besteht, eine Aufrechnung nicht zulässig ist.

a) Da die aufschiebende Wirkung in erster Linie die Vollziehung des VA hindert, wäre eine Aufrechnung dann nicht zulässig, wenn diese als Vollziehung des Rückforderungsbescheids verstanden werden könnte. Dazu aber BVerwG Rdnr. 8:  Die Aufrechnung ist keine Vollziehung des Leistungsbescheides. Vollziehung ist die einseitige Durchsetzung der im Bescheid getroffenen Regelung mit hoheitlichen Mitteln, etwa im Wege der Verwaltungsvollstreckung. Damit hat die Aufrechnung nur gemein, dass auch sie eine einseitige Willenserklärung ist. Sie dient aber nicht der Durchsetzung der in dem Bescheid geregelten Forderung durch die Behörde, sondern der Erfüllung einer ganz anderen Verbindlichkeit der Behörde; dass diese Erfüllung zugleich die Befriedigung der eigenen Forderung bewirkt, ist lediglich ihre zwangsläufige Folge. Vor allem erfolgt die Aufrechnung nicht mit hoheitlichen Mitteln; sie ist vielmehr ein Gestaltungsrecht des allgemeinen Schuldrechts, das dem Staat nicht anders als jedem anderen Teilnehmer am Rechtsverkehr zusteht (st. Rspr.; vgl. …BVerwGE 66, 218 [220 f]).

b) Eine Aufrechnung wäre auch dann nicht zulässig, wenn die aufschiebende Wirkung dazu führen würde, dass der davon betroffene VA vorläufig nicht wirksam wäre. Denn bei Unwirksamkeit des Bescheids vom 2. 12. 2006 wäre ein Gegenanspruch der F derzeit (noch) nicht entstanden. Jedoch führt die aufschiebende Wirkung nicht zur (vorläufigen) Unwirksamkeit, sondern lässt die Wirksamkeit des VA unberührt (BVerwG Rdnr. 12). Die aufschiebende Wirkung begründet aber - über das Vollziehungsverbot (oben a) hinaus - ein an die Behörde gerichtetes einstweiliges Verbot, aus dem angefochtenen Bescheid für den Adressaten nachteilige Folgen zu ziehen und diesen zu verwirklichen (Verwirklichungshemmung).

aa) Dazu wird von einem Teil der Literatur die Auffassung vertreten, durch eine Aufrechnung werde der VA verwirklicht, so dass die Aufrechnung gegen § 80 I VwGO verstößt (Puttler in: Sodan/Ziekow, VwGO-Großkommentar, 2. Aufl. 2006, § 80 VwGO Rdnr. 36; Schoch in: Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO-Kommentar, § 80 VwGO Rdnr. 79 f., 94; Detterbeck DÖV 1996, 889, 892).

bb) Nach BVerwG Rdnr. 9 hindert aber auch die Verwirklichungshemmung die Aufrechnung nicht:  § 80 Abs. 1 VwGO kann der Behörde nur solche Folgerungen einstweilen untersagen, die sie vermöge ihrer Sonderstellung als Hoheitsträger ziehen könnte. § 80 Abs. 1 VwGO gewährt dem Bürger spezifischen Rechtsschutz gegenüber behördlichem Handeln gerade durch Verwaltungsakt…Die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage hemmt diese besonderen Hoheitsbefugnisse. Sie geht aber nicht darüber hinaus; sie lässt die jenseits der besonderen hoheitlichen Befugnisse bestehende Rechtsstellung der Behörde unberührt. Namentlich führt § 80 Abs. 1 VwGO nicht dazu, die Behörde im allgemeinen Rechtsverkehr schlechter zu stellen als jeden Privaten.

Somit darf eine öffentliche Stelle mit einer ihr zustehenden Forderung aufrechnen, auch wenn sie diese durch Leistungsbescheid geltend gemacht und der Schuldner gegen den Leistungsbescheid einen Rechtsbehelf erhoben hat, der eine aufschiebende Wirkung auslöst. Folglich hindert die von E gegen den auf § 49 a VwVfG gestützten Rückforderungsbescheid erhobene Klage und die von ihr ausgelöste aufschiebende Wirkung das Entstehen einer Aufrechnungslage nicht. BVerwG Rdnr. 10:  Dass der Leistungsbescheid infolge Anfechtung einstweilen nicht vollziehbar ist, hindert die Aufrechnung nicht, sofern deren Voraussetzungen vorliegen, insbesondere also sofern die Gegenforderung unabhängig von dem Leistungsbescheid besteht und fällig ist.  Im vorliegenden Fall lässt sich aber gerade nicht feststellen, dass die Gegenforderung besteht (oben 1b). Deshalb kann die oben 2. aufgestellte Hypothese, nach der es für die Frage der Aufrechnung auf das Bestehen der Gegenforderung der F nicht ankommt, an dieser Stelle noch nicht bestätigt werden.

3. Der von der F-Behörde zur Aufrechnung gestellte Anspruch hat zur Voraussetzung, dass ein Widerruf nach § 49 VwVfG (oder eine Rücknahme nach § 48 VwVfG) erfolgt ist. Denn erst durch den Widerruf des die Geldleistung bewilligenden VA entsteht der Rückforderungsanspruch.

a) Mit Bescheid vom 2. 12. 2008 hat F einen solchen Widerruf erklärt. Da nicht ersichtlich ist, dass dieser Widerruf einen Nichtigkeitsgrund (§ 44 VwVfG) erfüllt, ist dieser Bescheid rechtswirksam und könnte den Rückforderungsanspruch auslösen.

b) E hat aber auch - und sogar in erster Linie - diesen Widerruf mit der Klage angegriffen. Diese hat aufschiebende Wirkung nach § 80 I VwGO auch gegenüber dem Widerruf.

aa) Die aufschiebende Wirkung hindert die Vollziehung. Ein Rücknahme- oder Widerrufsbescheid wird aber nicht vollzogen. Er ist ein VA, der eine Gestaltungswirkung auslöst und sich darin erschöpft. Der Widerruf selbst ist nicht vollzugsbedürftig und nicht vollzugsfähig. Die sich daran anschließende Rückforderung ist kein Vollzug des Widerrufs, sondern die Geltendmachung einer sich an den Widerruf anschließenden Rechtsfolge.

bb) Es handelt sich aber um eine sonstige Verwirklichung. Durch die Rückforderung wird die Konsequenz aus dem Widerruf gezogen. Einer solchen Verwirklichung steht die aus der aufschiebenden Wirkung folgende Verwirklichungshemmung entgegen. Die Behörde ist vorläufig gehindert, sich auf den Widerruf zu berufen und den daraus folgenden Rückforderungsanspruch geltend zu machen.

BVerwG Rdnr. 11, 12:  § 80 Abs. 1 VwGO hindert zwar nicht die Aufrechnung als solche, wohl aber die Aufrechenbarkeit solcher Gegenforderungen, deren Bestand oder Fälligkeit ihrerseits einen Verwaltungsakt voraussetzt, sofern und solange die Vollziehung dieses Verwaltungsakts ausgesetzt ist (vgl. im Ergebnis ebenso Beschluss vom 11. August 2005 BVerwG 2 B 2.05 juris; …BFHE 193, 254; Felix NVwZ 1996, 734). Damit ist der Behörde die Aufrechnung im vorliegenden Falle einstweilen verwehrt, weil die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung erst durch den Widerruf vorheriger Subventionsbescheide entstanden ist und die Klägerin die Widerrufsbescheide jeweils angefochten hat.

§ 80 I VwGO ist das  durch Art. 19 Abs. 4 GG geforderte Korrelat zu der Befugnis des Staates, ein Rechtsverhältnis einseitig hoheitlich zu regeln. Deshalb ist der Behörde einstweilen untersagt, die spezifisch hoheitliche Regelung des Verwaltungsakts umzusetzen. Wenn die Begründung oder Fälligstellung der Gegenforderung gerade zu dieser spezifisch hoheitlichen Regelung des Verwaltungsakts zählt, so gilt die Gegenforderung für die Behörde einstweilen als noch nicht bestehend oder als noch nicht fällig. In Ansehung der Aufrechnung gilt die Gegenforderung für die Behörde also einstweilen als nicht aufrechenbar.

Somit besteht wegen der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Widerruf zur Zeit keine Aufrechnungslage. Die Aufrechnung durch die F-Behörde war nicht wirksam. Das gilt auch dann, wenn die Gegenforderung sich als bestehend herausstellt und die Anfechtungsklage des E abgewiesen wird. Somit kommt es auf die oben 2. auf geworfene Frage, ob der Anspruch der F bestand, nicht an.

4. Der Anspruch des E ist nicht durch Aufrechnung erloschen. Die Leistungsklage ist begründet.


Zusammenfassung