Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Verfassungsrechtliche Anforderungen an Änderungsvertrag zu den Europäischen Verträgen. Demokratieprinzip i. S. der Art. 20 I, 79 III, 23 I 1 GG. EUV-Lissabon; Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV)

BVerfG
Urteil vom 30. 6. 2009 (2 BvE 2/08) NJW 2009, 2267

Fall (EU-Vertrag von Lissabon)

Der Vertrag von Lissabon, unterzeichnet im Jahre 2007, soll die Struktur der europäischen Gemeinschaften wesentlich ändern. Die bisher formal unterschiedenen Einheiten Europäische Union (EU) und Europäische Gemeinschaft (EG) werden zu einer einheitlichen EU verschmolzen. Die Vertragsgrundlagen bleiben grundsätzlich bestehen, werden aber geändert: Der EU-Vertrag behält seine Bezeichnung und heißt in der Neufassung EUV-Lissabon. Der EG-Vertrag wird umbenannt in den „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV). Wesentliche Neuerungen betreffen die Zuständigkeitsverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten, die auch Erweiterungen der EU-Zuständigkeiten enthält, die EU-Grundrechte, Änderungen bei den EU-Organen, Stärkung des EU-Parlaments im Rechtsetzungsverfahren sowie die Mitwirkung der nationalen Parlamente. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird um militärische Elemente ergänzt und bleibt im EUV-Lissabon. Die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen wird in den AEUV überführt.

Das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon, mit dem die Änderungen beim EUV und beim EGV, nunmehr AEUV, gebilligt wurden, wurde vom Bundestag mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen. Der Bundesrat stimmte ebenfalls mit Zwei-Drittel-Mehrheit zu. Das Zustimmungsgesetz wurde im BGBl II 2008, 1038 verkündet. Weiterhin wurden Begleitgesetze beschlossen: Änderungen der Art. 23, 45, 93 GG sowie das „Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union“ (Ausweitungsgesetz).

Gegen das Zustimmungsgesetz und das - zu den Begleitgesetzen gehörende - Ausweitungsgesetz wurde das BVerfG im Wege von Verfassungsbeschwerden und Anträgen im Organstreitverfahren angerufen. Die Zulässigkeit der Anträge wurde vom BVerfG ausführlich geprüft und nur teilweise bejaht. Nachfolgend ist zu behandeln, ob die zulässigen Anträge begründet sind.

Hinweis zur nachfolgenden Bearbeitung: Bei der Entscheidung des BVerfG handelt es sich um ein umfangreiches Urteil, dessen Originalfassung 147 Seiten lang ist und dessen Abdruck in der NJW - ohne die Zulässigkeitsfragen - 28 Seiten beansprucht. Die folgende Bearbeitung bemüht sich um eine Konzentration auf die wesentlichen Passagen und ist nicht deshalb vollständig. Ein „Leitfaden“ mit Inhaltsübersicht über das Urteil findet sich in der JuS 2009 Heft 8 auf S. 767.

A. Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag von Lissabon (und damit auch Verfassungsmäßigkeit des EUV-Lissabon und des AEUV)

I. Zustimmungsgesetz und Vertrag von Lissabon
könnten gegen das Prinzip der Demokratie verstoßen. Das Prinzip der demokratischen Staatsform ist für die Bundesrepublik Deutschland in Art. 20 I GG niedergelegt und in Art. 79 III GG für unabänderbar und unantastbar erklärt. Da aber weder eine Verfassungsbeschwerde noch ein Organstreitverfahren direkt auf die Verletzung eines der Staatsformprinzipien des Art. 20 gestützt werden kann, kommt das BVerfG auf folgenden Wegen zur Prüfung des Demokratieprinzips:

1. Rdnr. 208 - 210:  Der Prüfungsmaßstab für das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon bestimmt sich durch das Wahlrecht als grundrechtsgleiches Recht (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Das Wahlrecht begründet einen Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung, auf freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt sowie auf die Einhaltung des Demokratiegebots einschließlich der Achtung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Die Prüfung einer Verletzung des Wahlrechts umfasst in der hier gegebenen prozessualen Konstellation auch Eingriffe in die Grundsätze, die Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung (vgl. BVerfGE 37, 271 [279]; 73, 339 [375]) festschreibt. Art. 38 Abs. 1 GG gewährleistet jedem wahlberechtigten Deutschen das Recht, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu wählen. Mit der allgemeinen, freien und gleichen Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages betätigt das Bundesvolk seinen politischen Willen unmittelbar. Es regiert sich regelmäßig mittels einer Mehrheit (Art. 42 Abs. 2 GG) in der so zustande gekommenen repräsentativen Versammlung. Aus ihr heraus wird der Kanzler - und damit die Bundesregierung - bestimmt; dort hat er sich zu verantworten. Die Wahl der Abgeordneten ist auf der Bundesebene des vom Grundgesetz verfassten Staates die Quelle der Staatsgewalt - diese geht mit der periodisch wiederholten Wahl immer wieder neu vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 GG)… Der Bürger kann deshalb unter Berufung auf das Wahlrecht die Verletzung demokratischer Grundsätze mit der Verfassungsbeschwerde rügen (Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG).

2. Im Organstreitverfahren hat der Antragsteller geltend gemacht, dass bestimmte Regelungen des Vertrages von Lissabon die Entscheidungsbefugnisse des Bundestages unzulässig beschneiden (BVerfG Rdnr. 204). Da der Bundestag das wesentliche Organ ist, mit dem das Volk seine demokratischen Rechte ausübt (Art. 20 II GG), führt auch dieses Vorbringen zur Prüfung wesentlicher Elemente des Demokratieprinzips.

3. Die Antragsteller im BVerfG-Verfahren haben geltend gemacht, das Demokratieprinzips werde in zweierlei Hinsicht verletzt, so BVerfG Rdnr. 100:  durch Aushöhlung der Kompetenzen des Deutschen Bundestages einerseits und durch mangelnde demokratische Legitimation der Europäischen Union andererseits.

II. Zu den für das Demokratieprinzip wesentlichen Ausprägungen gehören nach BVerfG die folgenden.

1. Rdnr. 211:  Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips. Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert. Er gehört zu den durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG als unveränderbar festgelegten Grundsätzen des deutschen Verfassungsrechts.

2. Rdnr. 212 - 216:  Soweit im öffentlichen Raum verbindliche Entscheidungen für die Bürger getroffen werden, insbesondere über Eingriffe in Grundrechte, müssen diese Entscheidungen auf einen frei gebildeten Mehrheitswillen des Volkes zurückreichen… Für die vom Grundgesetz verfasste Staatsordnung ist eine durch Wahlen und Abstimmungen betätigte Selbstbestimmung des Volkes nach dem Mehrheitsprinzip konstitutiv… Die Ausübung öffentlicher Gewalt unterliegt dem Mehrheitsprinzip mit regulärer Bildung von verantwortlicher Regierung und einer unbehinderten Opposition, die die Chance auf Regierungsübernahme hat. Insbesondere in der Wahl der Repräsentativversammlung des Volkes oder bei der Wahl von Spitzenämtern der Regierung müssen ein personell oder sachlich generalisierter Mehrheitswille artikuliert und aus der Wahl heraus politische Richtungsentscheidungen herbeigeführt werden können.

a)  Diese zentrale Demokratieanforderung kann auf der Grundlage verschiedener Modelle erfüllt werden.

aa)  Nach Maßgabe des deutschen Wahlrechts wird die verfassungsrechtlich geforderte repräsentative Parlamentsherrschaft dadurch erreicht, dass der Wählerwille in der Sitzverteilung möglichst proportional abgebildet wird. Eine Mehrheitsentscheidung im Parlament repräsentiert zugleich die Mehrheitsentscheidung des Volkes.

bb)  In Präsidialsystemen oder unter Geltung des Mehrheitswahlsystems kann die konkrete Ausgestaltung der zentralen Demokratieanforderung auch anders ausfallen. Eines ist aber allen Systemen repräsentativer Demokratie gemeinsam: Ein gleichheitsgerechter und frei zustande gekommener Mehrheitswille bildet sich - entweder im Wahlkreis oder in der proportional zustande gekommenen Versammlung - durch den Wahlakt. Die Richtungsentscheidung der Mehrheit der Wähler soll sich im Parlament und in der Regierung wiederfinden; der unterlegene Teil bleibt als politische Alternative sichtbar und im Raum freier Meinungsbildung wie auch in förmlichen Entscheidungsverfahren als Opposition wirksam, die bei späteren Wahlen die Chance hat, zur Mehrheit zu werden.

b)  Das demokratische Prinzip ist nicht abwägungsfähig; es ist unantastbar (vgl. BVerfGE 89, 155 [182])…

3. Rdnr. 216 - 218:  Das Grundgesetz setzt die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch… Innerhalb der Ordnung des Grundgesetzes jedenfalls sind die Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG, also die Demokratie, die Rechts- und die Sozialstaatlichkeit, die Republik, der Bundesstaat sowie die für die Achtung der Menschwürde unentbehrliche Substanz elementarer Grundrechte in ihrer prinzipiellen Qualität jeder Änderung entzogen. Die Verletzung der in Art. 79 Abs. 3 GG festgelegten Verfassungsidentität ist aus der Sicht des Demokratieprinzips zugleich ein Übergriff in die verfassungsgebende Gewalt des Volkes. Die verfassungsgebende Gewalt hat insofern den Vertretern und Organen des Volkes kein Mandat erteilt, über die Verfassungsidentität zu verfügen.

III. Das GG fördert aber auch die Einbindung Deutschlands in eine die europäischen Völker verbindende übernationale Organisation (Präambel, Art. 23, 24 GG).

1. BVerfG Rdnr. 219 - 225:  Die grundgesetzliche Ausgestaltung des Demokratieprinzips ist offen für das Ziel, Deutschland in eine internationale und europäische Friedensordnung einzufügen. Die dadurch ermöglichte neue Gestalt politischer Herrschaft unterliegt nicht schematisch den innerstaatlich geltenden verfassungsstaatlichen Anforderungen und darf deshalb nicht umstandslos an den konkreten Ausprägungen des Demokratieprinzips in einem Vertrags- oder Mitgliedstaat gemessen werden. Die Ermächtigung zur europäischen Integration erlaubt eine andere Gestaltung politischer Willensbildung, als sie das Grundgesetz für die deutsche Verfassungsordnung bestimmt. Dies gilt bis zur Grenze der unverfügbaren Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 GG)…. Die deutsche Verfassung ist auf Öffnung der staatlichen Herrschaftsordnung für das friedliche Zusammenwirken der Nationen und die europäische Integration gerichtet… Es gilt deshalb nicht nur der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern auch der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit.

2. Zu der Einbindung in eine Europäische Union gehört, dass dieser Hoheitsbefugnisse übertragen werden (Art. 23 I 2 GG). Das Gebot zur Erhaltung der Verfassungsidentität unter Einschluss des Demokratieprinzips zieht dieser Übertragung aber Grenzen.

a) BVerfG Rdnr. 228 - 230:  Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten. Art. 23 Abs. 1 GG unterstreicht ebenso wie Art. 24 Abs. 1 GG, dass die Bundesrepublik Deutschland an der Entwicklung einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union mitwirkt, auf die Hoheitsrechte übertragen werden. Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker - das heißt die staatsangehörigen Bürger - der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben. Dieser Zusammenhang wird durch Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG verdeutlicht, der für die Mitwirkung Deutschlands an der Entwicklung der Europäischen Union verbindliche Strukturvorgaben trifft. Das Grundgesetz kann nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG an die Entwicklung der Europäischen Union angepasst werden; zugleich wird dieser Möglichkeit durch Art. 79 Abs. 3 GG, auf den die Norm verweist, eine absolute Grenze gesetzt. Der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Mindeststandard darf auch durch die Einbindung Deutschlands in überstaatliche Strukturen nicht unterschritten werden.

b) Durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU erhält diese supranationale Zuständigkeiten. BVerfG Rdnr. 231, 232:  Die Ermächtigung, supranationale Zuständigkeiten auszuüben, stammt allerdings von den Mitgliedstaaten einer solchen Einrichtung. Sie bleiben deshalb dauerhaft die Herren der Verträge. Die Quelle der Gemeinschaftsgewalt und der sie konstituierenden europäischen Verfassung im funktionellen Sinne sind die in ihren Staaten demokratisch verfassten Völker Europas. Die „Verfassung Europas“, das Völkervertrags- oder Primärrecht, bleibt eine abgeleitete Grundordnung…

Die einzelnen Integrationsschritte müssen  sachlich begrenzt und prinzipiell widerruflich sein. Aus diesem Grund darf…der Austritt aus dem europäischen Integrationsverband nicht von anderen Mitgliedstaaten oder der autonomen Unionsgewalt unterbunden werden. Es handelt sich nicht um eine - völkerrechtlich problematische - Sezession aus einem Staatsverband, sondern lediglich um den Austritt aus einem auf dem Prinzip der umkehrbaren Selbstbindung beruhenden Staatenverbund.

c) Rdnr. 233, 234:  Das Grundgesetz ermächtigt die deutschen Staatsorgane nicht, Hoheitsrechte derart zu übertragen, dass aus ihrer Ausübung heraus eigenständig weitere Zuständigkeiten für die Europäische Union begründet werden können. Es untersagt die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz (…). Auch eine weitgehende Verselbständigung politischer Herrschaft für die Europäische Union durch die Einräumung stetig vermehrter Zuständigkeiten und eine allmähliche Überwindung noch bestehender Einstimmigkeitserfordernisse oder bislang prägender Regularien der Staatengleichheit kann aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts allein aus der Handlungsfreiheit des selbstbestimmten Volkes heraus geschehen.

Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist deshalb nicht nur ein europarechtlicher Grundsatz (Art. 5 Abs. 1 EGV; Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV-Lissabon), sondern nimmt - ebenso wie die Pflicht der Europäischen Union, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten (Art. 6 Abs. 3 EUV; Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV-Lissabon) - mitgliedstaatliche Verfassungsprinzipien auf..

3. Die deutschen Staatsorgane haben die Aufgabe, unter Wahrung der unübertragbaren und insoweit integrationsfesten Identität der Verfassung (Art. 79 Abs. 3 GG) das Integrationsprogramm mitzugestalten (Integrationsverantwortung).

a)
Diese Aufgabe obliegt neben der Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften Bundestag und Bundesrat. Dabei müssen sie Sicherungen dagegen vorhalten, dass die EU ihre Befugnisse unzulässig erweitert.

b) BVerfG Rdnr. 240, 241:  Innerhalb der deutschen Jurisdiktion muss es zudem möglich sein, die Integrationsverantwortung im Fall von ersichtlichen Grenzüberschreitungen bei Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch die Europäische Union…und zur Wahrung des unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität des Grundgesetzes im Rahmen einer Identitätskontrolle einfordern zu können (…). Das BVerfG hat hierfür bereits den Weg der Ultra-vires-Kontrolle eröffnet, die im Fall von Grenzdurchbrechungen bei der Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch Gemeinschafts- und Unionsorgane greift. Wenn Rechtsschutz auf Unionsebene nicht zu erlangen ist, prüft das BVerfG, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 2 EGV; Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 EUV-Lissabon) in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten (vgl. BVerfGE 58, 1 [30 f.]; 75, 223 [235, 242]; 89, 155 [188] : dort zum sogenannten ausbrechenden Rechtsakt). Darüber hinaus prüft das BVerfG, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist (vgl. BVerfGE 113, 273 [296] )… Damit wird sichergestellt, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung gilt. Sowohl die Ultra-vires- als auch die Identitätskontrolle können dazu führen, dass Gemeinschafts- oder künftig Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar erklärt wird. Zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Verfassungsrecht bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedankens, dass sowohl eine Ultra-vires-Feststellung wie auch die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität nur dem BVerfG obliegt. In welchen Verfahren das BVerfG im Einzelnen mit dieser Kontrolle befasst werden kann, braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden. In Betracht kommt die Inanspruchnahme bereits jetzt vorgesehener Verfahren, mithin die abstrakte (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) und konkrete (Art. 100 Abs. 1 GG) Normenkontrolle, der Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), der Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG) und die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG).

4. Die EU muss demokratischen Grundsätzen entsprechen (Art. 23 I 1 GG).

a) Dazu gehört auch, dass sie das demokratische Herrschaftssystem in ihren Mitgliedstaaten - so auch in Deutschland - nicht aushöhlt. BVerfG Rdnr. 246:  Sie höhlt es nicht aus,  wenn der Deutsche Bundestag eigene Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht behält oder die ihm politisch verantwortliche Bundesregierung maßgeblichen Einfluss auf europäische Entscheidungsverfahren auszuüben vermag (vgl. BVerfGE 89, 155 [207]).

Rdnr. 249:  Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politische Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten. Zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören unter anderem die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei intensiven Grundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege oder bei Unterbringungsmaßnahmen. Zu diesen bedeutsamen Sachbereichen gehören auch kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis.

Rdnr. 251, 252:  Sowohl das Demokratieprinzip als auch das ebenfalls von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG strukturell geforderte Subsidiaritätsprinzip verlangen deshalb, gerade in zentralen politischen Bereichen des Raumes persönlicher Entfaltung und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse, die Übertragung und die Ausübung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union in vorhersehbarer Weise sachlich zu begrenzen… Als besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates gelten seit jeher (1) Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht, (2) die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen, (3) die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und - gerade auch sozialpolitisch motivierte - Ausgaben der öffentlichen Hand, (4) die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie (5) kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften.

b) Vor allem muss die eigene Struktur der EU - die europäische Ebene - demokratischen Grundsätzen entsprechen (Art. 23 I 1 GG).

aa) BVerfG Rdnr. 261, 268:  Die Ausgestaltung der Europäischen Union im Hinblick auf übertragene Hoheitsrechte, Organe und Entscheidungsverfahren muss demokratischen Grundsätzen entsprechen (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG)… Die Europäische Union selbst erkennt diesen demokratischen Kerngedanken als gemeineuropäische Verfassungstradition an, indem sie entsprechende Strukturanforderungen an die Mitgliedstaaten stellt und deren tatsächliches Fortwirken zu einer Voraussetzung für die Mitwirkung an der europäischen Integration erklärt (Art. 6 Abs. 1 EUV; Art. 2 EUV-Lissabon;…).

bb) Rdnr. 266, 271:  Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt allerdings im Hinblick auf die Einhaltung demokratischer Grundsätze durch die Europäische Union keine „strukturelle Kongruenz“ (…) oder gar Übereinstimmung der institutionellen Ordnung der Europäischen Union mit der Ordnung, die das Demokratieprinzip des Grundgesetzes für die innerstaatliche Ebene vorgibt. Geboten ist jedoch eine dem Status und der Funktion der Union angemessene demokratische Ausgestaltung.… Da und soweit sie aber selbst nur abgeleitete öffentliche Gewalt ausübt, braucht die Europäische Union den Anforderungen nicht vollständig zu genügen. Auf der europäischen Ebene ist der Rat anders als im Bundesstaat keine zweite Kammer, sondern das Vertretungsorgan der Herren der Verträge und dementsprechend nicht proportional repräsentativ, sondern nach dem Bild der Staatengleichheit verfasst. Das Europäische Parlament ist als ein unmittelbar von den Unionsbürgern gewähltes Vertretungsorgan der Völker eine eigenständige zusätzliche Quelle für demokratische Legitimation (vgl. BVerfGE 89, 155 [184 f.] ). Als Vertretungsorgan der Völker in einer supranationalen und als solche von begrenztem Einheitswillen geprägten Gemeinschaft kann und muss es in seiner Zusammensetzung nicht den Anforderungen entsprechen, die sich auf der staatlichen Ebene aus dem gleichen politischen Wahlrecht aller Bürger ergeben. Die Kommission muss als ein supranationales, besonderes Organ ebenfalls nicht umfänglich den Bedingungen einer entweder dem Parlament oder der Mehrheitsentscheidung der Wähler voll verantwortlichen Regierung genügen, weil sie selbst nicht in vergleichbarer Weise dem Wählerwillen verpflichtet ist.

IV. Nunmehr ist zu entscheiden, ob das dem Vertrag von Lissabon zustimmende Gesetz und damit die dadurch in Kraft gesetzten Änderungen im EUV-Lissabon und im AEUV den unter II, III aufgeführten Anforderungen entsprechen.

1. BVerfG Rdnr. 277:  Nicht nur aus der Sicht des Grundgesetzes handelt es sich bei der Beteiligung Deutschlands an der Europäischen Union nicht um die Übertragung eines Bundesstaatsmodells auf die europäische Ebene, sondern um die Erweiterung des verfassungsrechtlichen Föderalmodells um eine überstaatlich kooperative Dimension. Auch der Vertrag von Lissabon hat sich gegen das Konzept einer europäischen Bundesverfassung entschieden, in dem ein europäisches Parlament als Repräsentationsorgan eines damit konstitutionell verfassten neuen Bundesvolkes in den Mittelpunkt träte. Ein auf Staatsgründung zielender Wille ist nicht feststellbar…  Der Vertrag von Lissabon ändert demnach nichts daran, dass der Bundestag als Repräsentationsorgan des Deutschen Volkes im Mittelpunkt eines verflochtenen demokratischen Systems steht.

2. Rdnr. 298:  Die Mitgliedstaaten bleiben die Herren der Verträge. Trotz einer weiteren Kompetenzausdehnung bleibt es bei dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Die Vertragsbestimmungen lassen sich so auslegen, dass sowohl die verfassungsrechtliche und politische Identität der volldemokratisch organisierten Mitgliedstaaten gewahrt bleibt als auch ihre Verantwortung für die grundlegende Richtung und Ausgestaltung der Unionspolitik.

Rdnr. 330:  Jeder Mitgliedstaat kann auch gegen den Willen der anderen Mitgliedstaaten aus der Europäischen Union austreten (Art. 50 EUV-Lissabon).

3. Der EUV-Lissabon überträgt der EU keine Kompetenz-Kompetenz und lässt eine solche Übertragung auch nicht zu.

a) Vielmehr bestätigt der EUV-Lissabon das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. BVerfG Rdnr. 301:  Der Vertrag von Lissabon bestätigt das bereits geltende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ausdrücklich: „Die Union wird nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben“ (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV-Lissabon; vgl. auch Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 6, Art. 4 Abs. 1, Art. 48 Abs. 6 UAbs. 3 EUV-Lissabon; Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 4 Abs. 1, Art. 7, Art. 19, Art. 32, Art. 130, Art. 132 Abs. 1, Art. 207 Abs. 6, Art. 337 AEUV;…).

b) Rdnr. 304:  Darüber hinaus sollen materiell-rechtliche Schutzmechanismen, insbesondere Zuständigkeitsausübungsregeln, gewährleisten, dass die auf europäischer Ebene bestehenden Einzelermächtigungen in einer die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten schonenden Weise wahrgenommen werden. Zu den Zuständigkeitsausübungsregeln zählen das Gebot, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten (Art. 4 Abs. 2 EUV-Lissabon), der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV-Lissabon), der Grundsatz der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 EUV-Lissabon) und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV-Lissabon).

c) Ob die Aufgabenverteilung zwischen EU und Mitgliedstaat noch demokratischen Grundsätzen entspricht, muss sich vor allem an der Regelung über eine Änderung des EUV mit der Möglichkeit einer Aufgabenerweiterung zeigen.

aa) BVerfG Rdnr. 307:  Das ordentliche Änderungsverfahren für die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union (Art. 48 Abs. 2 bis Abs. 5 EUV-Lissabon) entspricht dem klassischen Änderungsverfahren vergleichbarer multilateraler Vertragswerke. Eine Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, die vom Präsidenten des Rates einberufen wird, ist zuständig, Vertragsänderungen zu vereinbaren. Diese Änderungen treten aber nur in Kraft, nachdem sie von allen Mitgliedstaaten - nach Maßgabe ihrer verfassungsrechtlichen Vorgaben - ratifiziert worden sind (Art. 48 Abs. 4 UAbs. 2 EUV-Lissabon).  Insoweit ist eine Abweichung von demokratischen Anforderungen somit nicht feststellbar.

bb) Rdnr. 309:  Der Vertrag von Lissabon führt zusätzlich ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren ein (Art. 48 Abs. 6 EUV-Lissabon). Während Vertragsänderungen im ordentlichen Verfahren…die Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten erfordern, sieht das vereinfachte Änderungsverfahren lediglich einen Beschluss des Europäischen Rates vor, der nach „Zustimmung aller Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften“ in Kraft tritt (Art. 48 Abs. 6 UAbs. 2 EUV-Lissabon). Ausdrücklich wird klargestellt, dass der Beschluss des Europäischen Rates nicht zu einer Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge übertragenen Zuständigkeiten führen darf (Art. 48 Abs. 6 UAbs. 3 EUV-Lissabon). Die Differenzierung nach ordentlichem und vereinfachtem Vertragsänderungsverfahren zeigt, dass grundlegende Änderungen dem ordentlichen Verfahren vorbehalten sind, weil mit der als Regelfall vorgesehenen Konventsmethode ein höherer Legitimationsgrad erreicht werden soll… Auch die „Zustimmung“ der Bundesrepublik Deutschland im vereinfachten Änderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 6 EUV-Lissabon setzt stets ein Gesetz im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG als lex specialis zu Art. 59 Abs. 2 GG voraus…  Der Bezug eines Beschlusses nach Art. 48 Abs. 6 EUV-Lissabon zur Zuständigkeitsordnung der Europäischen Union zwingt dazu, das vereinfachte Änderungsverfahren generell wie eine Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG zu behandeln… Durch das Gesetzeserfordernis wird die Übereinstimmung dieses Verfahrens mit dem deutschen verfassungsrechtlichen Demokratiegebot herbeigeführt.

cc) Rdnr. 315 - 319:  Neben dem ordentlichen und dem vereinfachten Änderungsverfahren sieht der Vertrag von Lissabon als weiteres Vertragsänderungsverfahren das sogenannte allgemeine Brückenverfahren vor (Art. 48 Abs. 7 EUV-Lissabon). Darüber hinaus enthält der Vertrag von Lissabon in einzelnen Vertragsbestimmungen spezielle Brückenklauseln (vgl. Art. 31 Abs. 3 EUV-Lissabon - Beschlüsse über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in anderen als den in Art. 31 Abs. 2 EUV-Lissabon genannten Fällen….(Eine „Brückenklausel“ solle eine „Brücke“ weg von der Einstimmigkeit hin zur Möglichkeit einer Mehrheitsentscheidung bauen.)  Rdnr. 317:  Anders als das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 6 EUV-Lissabon ermöglichen die allgemeinen und die speziellen Brückenklauseln Vertragsänderungen nur im Hinblick auf die Verfahrensvorschriften im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und im Titel V des Vertrags über die Europäische Union. Darüber hinaus besitzen der Europäische Rat oder der Rat keinen Gestaltungsfreiraum… Zusätzlich sehen sowohl die allgemeine Brückenklausel als auch die spezielle Brückenklausel im Bereich des Familienrechts mit grenzüberschreitendem Bezug die Beteiligung der nationalen Parlamente vor. Jedes nationale Parlament kann den Beschlussvorschlag des Europäischen Rates oder des Rates innerhalb von sechs Monaten nach der Übermittlung ablehnen mit der Folge, dass der Beschluss auf europäischer Ebene nicht erlassen werden darf (Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV-Lissabon; Art. 81 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV)… Der deutsche Regierungsvertreter im Europäischen Rat darf einer Vertragsänderung durch Anwendung der allgemeinen Brückenklausel nur zustimmen, wenn der Deutsche Bundestag und der Bundesrat innerhalb einer noch auszugestaltenden Frist, die an die Zwecksetzung des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV-Lissabon angelehnt ist, ein Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 GG erlassen haben. Dies gilt ebenso für den Fall, dass von der speziellen Brückenklausel nach Art. 81 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV Gebrauch gemacht wird.  Auch hier bringt die Notwendigkeit eines Gesetzes das Verfahren in Übereinstimmung mit dem deutschen Demokratiegebot.

dd) Die bisherige Abrundungskompetenz des Art. 309 EGV wird zur Flexibilisierungsklausel des Art. 352 AEUV fortentwickelt. BVerfG Rdnr. 328:  Die Vorschrift stößt…auf verfassungsrechtliche Bedenken, weil es die neu gefasste Regelung ermöglicht, Vertragsgrundlagen der Europäischen Union substantiell zu ändern, ohne dass über die mitgliedstaatlichen Exekutiven hinaus gesetzgebende Organe konstitutiv beteiligt werden müssen… In Anbetracht der Unbestimmtheit möglicher Anwendungsfälle der Flexibilitätsklausel setzt ihre Inanspruchnahme verfassungsrechtlich die Ratifikation durch den Deutschen Bundestag und den Bundesrat auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG voraus. Der deutsche Vertreter im Rat darf die förmliche Zustimmung zu einem entsprechenden Rechtssetzungsvorschlag der Kommission für die Bundesrepublik Deutschland nicht erklären, solange diese verfassungsrechtlich gebotenen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

4. Zum Demokratieprinzip auf EU-Ebene:

a)
Der Vertrag von Lissabon höhlt die deutsche Demokratie nicht aus. BVerfG Rdnr. 330:  Die Bundesrepublik Deutschland bleibt auch nach einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ein souveräner Staat und damit Rechtssubjekt des Völkerrechts… Rdnr. 331:  Mit der dem Vertrag von Lissabon beigefügten Erklärung Nr. 17 zum Vorrang [des EU-Rechts] erkennt die Bundesrepublik Deutschland keinen verfassungsrechtlich bedenklichen unbedingten Geltungsvorrang des Unionsrechts an, sondern bestätigt allein die geltende Rechtslage in der bisherigen Auslegung durch das BVerfG.  Auf den Gebieten, die für die Selbstbestimmung des Staates und seiner Bevölkerung besonders sensibel sind (oben III 4a), bleiben dem deutschen Staat noch genügend Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume, wie vom BVerfG unter Rdnrn. 351 - 400 im einzelnen dargelegt wird.

b) Die EU selbst entspricht allerdings in einigen Bereichen nicht den demokratischen Anforderungen der Mitgliedstaaten (demokratisches Defizit).

aa) Die Mitglieder des europäischen Parlaments werden nicht nach dem Prinzip der Wahlgleichheit gewählt. BVerfG Rdnr. 285, 286:  Das Europäische Parlament hat am 11. Oktober 2007 einen die Geltung des Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 EUV-Lissabon bereits vorwegnehmenden Beschlussentwurf unterbreitet…  Der Bundesrepublik Deutschland werden 96 Sitze zugesprochen… Nach dem Beschlussentwurf würde ein in Frankreich gewählter Abgeordneter etwa 857.000 Unionsbürger vertreten und damit soviel wie ein in Deutschland gewählter mit ebenfalls etwa 857.000. Ein in Luxemburg gewählter Abgeordneter würde demgegenüber mit etwa 83.000 Luxemburger Unionsbürgern nur ein Zehntel davon vertreten, bei Malta wäre es mit etwa 67.000 sogar nur etwa ein Zwölftel davon…Derartig ausgeprägte Ungleichgewichte werden in föderalen Staaten regelmäßig nur für die zweite Kammer neben dem Parlament - in Deutschland und Österreich entspricht dieser zweiten Kammer der Bundesrat,… in den Vereinigten Staaten von Amerika der Senat - toleriert. Sie werden aber nicht in der Volksvertretung selbst hingenommen, weil diese sonst das Volk nicht in einer vom personalen Freiheitsprinzip ausgehenden gleichheitsgerechten Weise repräsentieren kann.  Das ist aber kein Widerspruch zum Gebot der Demokratie, weil in den Organen der EU auch die Mitgliedstaaten und ihre Völker und nicht nur die Staatsbürger repräsentiert werden.  Dies ist ein maßgeblicher Grund dafür, dass es als unzureichend wahrgenommen würde, wenn ein kleiner Mitgliedstaat im Europäischen Parlament bei stärkerer Beachtung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl etwa mit nur einem Abgeordneten vertreten wäre.

bb) Das Europäische Parlament erhält durch die Vertragsänderungen weitergehende Befugnisse, insbesondere werden die Fälle der Mitentscheidung der Normalfall des Gesetzgebungsverfahrens. Es verfügt jedoch nicht über die klassischen Parlamentsbefugnisse, grundsätzlich allein über die Gesetzgebung zu entscheiden und die Regierung zu wählen und abzuwählen. Das ist nach BVerfG Rdnr. 278 aber nicht bedenklich, weil die EU kein Staat ist und deshalb die Anforderungen an eine staatliche Demokratie nicht zu erfüllen braucht. Rdnr. 278:  Die Europäische Union entspricht demokratischen Grundsätzen, weil sie bei qualitativer Betrachtung ihrer Aufgaben- und Herrschaftsorganisation gerade nicht staatsanalog aufgebaut ist… Es ist deshalb beim gegenwärtigen Integrationsstand nicht geboten, das europäische Institutionensystem demokratisch in einer staatsanalogen Weise auszugestalten.

5. Somit widersprechen der Vertrag von Lissabon mit seinen Bestandteilen EUV-Lissabon und AEUV und das Zustimmungsgesetz dazu nicht dem Prinzip der Demokratie aus Art. 20 I, 79 III GG. Allerdings gilt das nur nach Maßgabe der - teilweise restriktiven - Gründe des BVerfG, insbesondere was die notwendige Beteiligung des deutschen Gesetzgebers bei der Ausgestaltung und Wahrnehmung der Kompetenzen der EU betrifft.

B. Verfassungsmäßigkeit des Ausweitungsgesetzes

I. Das „Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesratesin Angelegenheiten der Europäischen Union“ könnte gegen das grundrechtsgleiche Recht des Art. 38 I 1 GG verstoßen, weil dadurch den gesetzgebenden Körperschaften nicht die vom Demokratieprinzip geforderten Befugnisse eingeräumt werden.

1. BVerfG Rdnr. 407, 408:  Mit diesem Gesetz  sollen die innerstaatlichen Voraussetzungen geschaffen werden, nach denen der Bundestag und der - insoweit als Kammer eines nationalen Parlaments anzusehende - Bundesrat die durch den Vertrag von Lissabon eingeräumten Rechte wahrnehmen. Das Gesetz regelt die Ausübung der Rechte im Rahmen der Subsidiaritätskontrolle (Art. 1 § 2 und § 3 des Ausweitungsgesetzes) sowie das ausdrücklich im Vertrag von Lissabon vorgesehene Recht, über das Brückenverfahren nach Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV-Lissabon und Art. 81 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV geplante vertragsändernde Rechtsakte der Europäischen Union abzulehnen (Art. 1 § 4 des Ausweitungsgesetzes). Das Gesetz ermöglicht ferner dem Plenum des Bundestages, den von ihm nach Art. 45 GG bestellten Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu ermächtigen, seine Rechte… gegenüber den Organen der Europäischen Union wahrzunehmen (Art. 1 § 5 des Ausweitungsgesetzes).

2. Wie sich aus den Ausführungen unter A IV 3 c) ergibt, ist bei der Vertretung der BRD in den Organen der EU in einer Reihe von Fällen ein Gesetz erforderlich. Diese Fälle werden vom BVerfG im Urteil unter C II 3 (Rdnrn. 412 - 419) aufgeführt. Sie sind in dem Ausweitungsgesetz aber nicht hinreichend berücksichtigt. BVerfG Rdnr. 409:  Gestalten die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung das europäische Vertragsrecht in einer Art und Weise aus, dass eine Veränderung des Vertragsrechts bereits ohne Ratifikationsverfahren allein oder maßgeblich durch die Organe der Europäischen Union - wenngleich unter dem Einstimmigkeitserfordernis im Rat - herbeigeführt werden kann, obliegt den nationalen Verfassungsorganen eine besondere Verantwortung im Rahmen der Mitwirkung. Diese Integrationsverantwortung muss in Deutschland innerstaatlich den verfassungsrechtlichen Anforderungen insbesondere des Art. 23 Abs. 1 GG genügen. Das Ausweitungsgesetz genügt diesen Anforderungen nicht, soweit dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat im Rahmen von Vertragsänderungs- und Rechtsetzungsverfahren keine hinreichenden Beteiligungsrechte eingeräumt wurden.

II. Somit verstößt das Ausweitungsgesetz gegen Art. 38 I 1 i. V. m. Art. 23 I GG. Insoweit lautet der Tenor des Urteils des BVerfG: „Das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Bundestagsdrucksache 16/8489) verstößt insoweit gegen Artikel 38 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 23 Absatz 1 des Grundgesetzes, als Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages und des Bundesrates nicht in dem nach Maßgabe der unter C. II. 3. genannten Gründe erforderlichen Umfang ausgestaltet worden sind.“

Als Zusammenfassung ein Auszug aus den Leitsätzen des Urteils

1. Das Grundgesetz ermächtigt mit Art. 23 GG zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union. Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker - das heißt die staatsangehörigen Bürger - der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.

2. a) Sofern die Mitgliedstaaten das Vertragsrecht so ausgestalten, dass unter grundsätzlicher Fortgeltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung eine Veränderung des Vertragsrechts ohne Ratifikationsverfahren herbeigeführt werden kann, obliegt neben der Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften eine besondere Verantwortung im Rahmen der Mitwirkung, die in Deutschland innerstaatlich den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG genügen muss (Integrationsverantwortung) und gegebenenfalls in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren eingefordert werden kann.

3. Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten.

4. Das BVerfG prüft, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips (…) in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten (vgl. BVerfGE … 89, 155 [188]; dort zum ausbrechenden Rechtsakt). Darüber hinaus prüft das BVerfG, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist (vgl. BVerfGE 113, 273 [296] ).