Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Straßenverkehrsrecht; Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Mehrfachtäter-Punktsystem, § 4 StVG. ► Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen für den Erlass eines Verwaltungsakts und für die Entscheidung über die Anfechtungsklage. ► Erreichen der 18 Punkte i. S. des § 4 III Nr. 3 StVG; Verhältnis zur Tilgung durch Zeitablauf, § 29 StVG
BVerwG Urteil vom 25. 9. 2008 (3 C 21.07) NJW 2009, 610
Fall (Führerscheinverlust trotz Punktetilgung)
A war Inhaber einer Fahrerlaubnis. Am 29. 10. 2008 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt der für A zuständigen, im Lande L gelegenen Straßenverkehrsbehörde B mit, dass auf den Namen des A im Verkehrszentralregister 21 Punkte eingetragen sind. Daraufhin entzog die B-Behörde dem A nach Anhörung und mit formell fehlerfreier Begründung durch Bescheid vom 25. 11. 2008 die Fahrerlaubnis. Dagegen erhob A fristgerecht - den im Lande L noch zulässigen - Widerspruch. Noch bevor über den Widerspruch entschieden wurde, richtete das Kraftfahrt-Bundesamt am 12. 12. 2008 an B eine weitere Mitteilung, wonach inzwischen mehrere Verstöße des A wegen Zeitablaufs getilgt worden sind und das Punktekonto des A nur noch mit 10 Punkten belastet ist. Die Zeitpunkte der Tilgung lagen zwischen dem 30. 10. und dem 11. 12. 2008. Im Widerspruchsbescheid vom 24. 1. 2009 erklärte die Widerspruchsbehörde die Mitteilung vom 12. 12. 2008 für unerheblich und wies den Widerspruch des A zurück. Anschließend erhob A in zulässiger Weise Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis. Wie ist über die Klage zu entscheiden ?
Der Erfolg der Anfechtungsklage hängt gemäß § 113 I 1 VwGO davon ab, ob die Entziehung der Fahrerlaubnis vom 25. 11. 2008 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. 1. 2009, § 79 I Nr. 1 VwGO) rechtswidrig oder rechtmäßig ist. Gegen die formelle Rechtmäßigkeit des VA vom 25. 11. 2008 bestehen keine Bedenken. Es ist die materielle Rechtmäßigkeit zu prüfen.
I. Ermächtigungsgrundlage ist § 3 I StVG.
1. Voraussetzung hierfür ist, dass der Inhaber der Fahrerlaubnis ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist. Liegt Ungeeignetheit vor, muss die Fahrerlaubnis entzogen werden; es handelt sich um einen gebundenen VA, bei dem der Behörde kein Ermessen zusteht.
2. § 4 StVG enthält das Mehrfachtäter-Punktsytem. § 4 III 1 Nr. 3 StVG bestimmt: Ergeben sich 18 oder mehr Punkte, so gilt der Betroffene als ungeeignet; die Fahrerlaubnisbehörde hat die Fahrerlaubnis zu entziehen (deshalb könnte auch diese Vorschrift als Ermächtigungsgrundlage angesehen werden).
BVerwG Rdnr. 15: Das Mehrfachtäter-Punktsystem bezweckt ausweislich § 4 Abs. 1 Satz 1 StVG den Schutz vor Gefahren, die von Fahrzeugführern und -haltern ausgehen, die wiederholt gegen Verkehrsvorschriften verstoßen haben (so auch BRDrucks 821/96 S. 71). Dabei bildet die Entziehung der Fahrerlaubnis bei 18 oder mehr Punkten nach § 4 Abs. Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG in dem abgestuften Maßnahmensystem des § 4 StVG die letzte Eingriffsstufe. Die Entziehung der Fahrerlaubnis, weil der Betreffende diese Punktzahl trotz Hilfestellung durch Aufbauseminare und verkehrspsychologische Beratung, trotz Bonus-Gutschriften und trotz der Möglichkeit von zwischenzeitlichen Tilgungen im Verkehrszentralregister erreicht, beruht nach der Gesetzesbegründung auf dem Gedanken, dass die weitere Teilnahme derartiger Kraftfahrer am Straßenverkehr für die übrigen Verkehrsteilnehmer eine Gefahr darstellen würde. Hierbei falle besonders ins Gewicht, dass es sich um Kraftfahrer handele, die eine ganz erhebliche Anzahl von im Verkehrszentralregister erfassten und noch nicht getilgten Verstößen begangen haben (vgl. BRDrucks 821/96 S. 53).
Am 29. 10. 2008 hatten sich auf dem Konto des A mehr als 18 Punkte angesammelt. Damit waren zunächst die Voraussetzungen der §§ 3 I, 4 III Nr. 3 StVG erfüllt.
II. Jedoch handelt es sich bei § 4 StVG, wie ausgeführt, um ein abgestuftes und modifiziertes System. Es gibt Tatbestände, auf Grund derer eine Punktereduzierung erfolgt (insbesondere § 4 IV StVG). Nach § 29 StVG führt der Ablauf einer Frist von zwei oder fünf Jahren zur Tilgung einer Eintragung.
1. Dass im Falle des A solche Tilgungstatbestände eingetreten sind, ergibt sich aus der Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 12. 12. 2008. Dadurch ist der Punktestand des A auf 10 Punkte, also auf unter die nach § 4 III Nr. 3 erforderlichen 18 Punkte gesunken.
2. Dieses Absinken datierte zwischen dem 30. 10. und dem 11. 12. 2008. Damit lag es zeitlich nach dem Übersteigen der 18 Punkte am 29. 10., möglicherweise aber noch vor dem Erlass der Entziehungsverfügung am 25. 11. und auf jeden Fall vor der Entscheidung über den Widerspruch am 24. 1. 2009 und vor der erst noch bevorstehenden Entscheidung über die Anfechtungsklage. Es ist also während des der Entscheidung über die Anfechtungsklage vorangegangenen Verfahrensablaufs eine Änderung des Sachverhalts eingetreten. Damit stellt sich die Frage, auf welchen Zeitpunkt es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines VA bei einer Anfechtungsklage ankommt und damit zugleich, ob diese Änderung Einfluss auf die Rechtmäßigkeit des VA hat.
a) Als Leitlinien gelten folgende Grundsätze:
(1) Bei der Anfechtungsklage ist die Sach- und Rechtslage bei Erlass des VA maßgebend; ist ein Widerspruchsbescheid ergangen, kommt es auf den Widerspruchsbescheid an (BVerwGE 51, 362, Entziehung der Fahrerlaubnis; E 65, 1, Gewerbeuntersagung; DVBl 1992, 1435 LS 5c, Straßenplanung; NVwZ 1997, 1124, Ausländerrecht). Dafür spricht, dass bei der Anfechtungsklage die Entscheidung der Behörde überprüft wird und dass diese sich nur nach den Umständen richten kann, die bei ihrem Erlass vorhanden waren.
(2) Dagegen wird bei der Verpflichtungsklage und der Leistungsklage, grundsätzlich auch bei einer Feststellungsklage, auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abgestellt (BVerwGE 29, 304; 41, 227; 84, 160/1; 89, 356). Dafür spricht, dass bei einer Verpflichtungs- und einer Leistungsklage regelmäßig ein Anspruch geltend gemacht wird, der im Zeitpunkt der Entscheidung bestehen muss.
b) Von diesen Grundsätzen wurden aber schon immer Ausnahmen gemacht, so für VAe mit Dauerwirkung und für noch nicht vollzogene VAe. Nunmehr hat BVerwG DVBl 2008, 392 („Ausweisung nach Geldwäsche“) Rdnr. 13 den Grundsatz (1) generell in Frage gestellt: Das BVerwG geht in st. Rspr. davon aus, dass das Prozessrecht einen Grundsatz, wonach im Rahmen einer Anfechtungsklage die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes stets nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zu beurteilen ist, nicht kennt …, sondern letztlich dem materiellen Recht nicht nur die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes, sondern auch die Antwort auf die Frage zu entnehmen ist, zu welchem Zeitpunkt diese Voraussetzungen erfüllt sein müssen (vgl. BVerwGE 78, 243 [244]). Dementsprechend hat es in der dortigen Entscheidung dem Ausländerrecht den Grundsatz entnommen, dass bei der Klage gegen die Ausweisung eines Ausländers auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem VG abzustellen ist.
c) Also ist auch im vorliegenden Fall primär dem § 4 III 1 Nr. 3 StVG zu entnehmen, auf welchen Zeitpunkt bei der hier gegebenen Sachlage abzustellen ist. Zu diesem Zweck nimmt das BVerwG unter Rdnrn. 11 - 22 eine Auslegung dieser Vorschrift vor:
aa) Der in der Vorschrift verwendete Sprachgebrauch gibt keinen Aufschluss darüber, wie der maßgebliche Punktestand zu ermitteln ist, und insbesondere darüber, ob dabei nachträgliche Tilgungen zu berücksichtigen sind…
bb) Sinn und Zweck der Regelung zwingen jedoch zu dem Schluss, dass zugunsten des Betroffenen, der 18 Punkte erreicht hat und dem deshalb die Fahrerlaubnis zu entziehen ist, eine nach dem Überschreiten dieser Schwelle eingetretene Punktetilgung nicht mehr berücksichtigt werden kann.
Ausweislich der Gesetzesbegründung liegt es dem Gesetzgeber daran, Personen, die sich wegen des von ihnen erreichten Punktestandes als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen haben, rasch und wirksam von der Teilnahme am Kraftfahrverkehr auszuschließen. Diese Zielsetzung wird auch in § 4 Abs. 7 Satz 2 StVG deutlich, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Entziehung einer Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG keine aufschiebende Wirkung haben…Die danach im Interesse der Verkehrssicherheit zwingend durch Fahrerlaubnisentziehung zu ahndende fehlende Kraftfahreignung steht… mit dem Erreichen von 18 Punkten fest.
Der Gesetzgeber hat besonderen Wert auf ein abgestuftes System behördlicher Maßnahmen gelegt. Es sieht, bevor es zur Fahrerlaubnisentziehung kommt, als Vorstufen mindestens eine Verwarnung (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG) und bei weiteren Verkehrsverstößen die Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar, ersatzweise eine weitere Verwarnung (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG) vor. § 4 Abs. 5 StVG enthält eine Rückstufungsregelung, die sicherstellen soll, dass der Betroffene diese Vorstufen tatsächlich durchlaufen hat und ihn die mit dem Aufbauseminar und der verkehrspsychologischen Beratung beabsichtigte Hilfestellung auch erreichen konnte, bevor er 18 oder mehr Punkte erreicht. Der Betroffene hat danach die Möglichkeit, durch eigene Bemühungen zum Abbau vorhandener Einstellungsmängel und damit zur Verringerung seiner Punktzahl beizutragen…
Erreicht der Betroffene trotzdem 18 oder mehr Punkte und damit zugleich den Endpunkt des Mehrfachtäter-Punktsystems und erweist sich damit als nicht empfänglich für alle Warnungen und Hilfsangebote, hält der Normgeber eine gesetzliche Ungeeignetheitsvermutung für gerechtfertigt, die wie der Gesetzesbegründung ebenfalls zu entnehmen ist, grundsätzlich nicht widerleglich sein soll (BRDrucks 821/96 S. 53). All das sind hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass für die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG eine nach dem Überschreiten dieser Ungeeignetheitsschwelle eintretende Tilgung von Punkten nicht mehr berücksichtigt werden kann.
Schließlich spricht für diese Auslegung, dass nach dem Willen des Gesetzgebers in aller Regel die Eignungsmängel, die zur Entziehung führen, nicht ohne Weiteres beseitigt werden können und dass deshalb nach der Entziehung der Fahrerlaubnis bis zu deren Neuerteilung ein bestimmter Mindestzeitraum vergehen soll (…). Er hat daher in § 4 Abs. 10 Satz 1 StVG geregelt, dass eine neue Fahrerlaubnis frühestens sechs Monate nach Wirksamkeit der Entziehung nach Absatz 3 Satz 1 Nr. 3 erteilt werden darf… Außerdem sieht § 4 Abs. 10 Satz 3 StVG vor, dass die Fahrerlaubnisbehörde zum Nachweis, dass die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen wiederhergestellt ist, in der Regel die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Kraftfahreignung anzuordnen hat. Diese strengen Voraussetzungen für die erneute Teilnahme eines Mehrfachtäters am Kraftfahrverkehr würden aber unterlaufen, wenn bereits ein Absinken des Punktestandes unter 18 Punkte infolge einer Tilgung von Punkten dazu führte, dass die einmal begründete und nach dem Verständnis des Gesetzgebers unwiderlegliche Vermutung der mangelnden Eignung ohne Weiteres wieder entfiele.
d) Folglich ist ausreichend, dass einmal die Punktzahl von 18 erreicht wurde, was vorliegend am 29. 10. 2008 der Fall war. Die spätere Punktetilgung ist irrelevant. Aus dem materiellen (Straßenverkehrs-) Recht ergibt sich somit ein für die Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis und damit für die Entscheidung der Anfechtungsklage maßgeblicher Zeitpunkt, der noch vor dem Zeitpunkt des Erlasses des VA liegt. Maßgeblich sind weder der Zeitpunkt des Erlasses des VA noch der des Erlasses des Widerspruchsbescheids und erst recht nicht der Zeitpunkt der Entscheidung über die Anfechtungsklage.
3. Da A die Punktzahl von 18 erreicht (und sogar überschritten) hat und die spätere Tilgung ohne Bedeutung ist, ist er ungeeignet nach § 4 III 2 Nr. 3 StVO. Die Straßenbehörde musste ihm die Fahrerlaubnis entziehen. Die Entziehung vom 25. 11. 2008 war rechtmäßig, die Anfechtungsklage ist unbegründet.
Zusammenfassung