Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEU-V. Charta der Grundrechte der EU; Anwendbarkeit, Art. 51 GRCh. Auslegung des Art. 50 GRCh (ne bis in idem). Anwendungsvorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht

EuGH Urteil vom 26. 2. 2013 (C-617/10) NJW 2013, 1415 = EuZW 2013, 302

Fall (Fransson)

Die zuständigen Stellen des EU-Mitgliedstaats S (im Originalfall: Schweden) führten gegen F, Staatsangehöriger des Staates S, Verfahren wegen der Hinterziehung von Mehrwertsteuer durch und warfen F vor, Mitteilungspflichten bezüglich steuerpflichtiger Umsätze verletzt zu haben. Die Erhebung der Mehrwertsteuer beruht auf nationalen Gesetzen. Gemeinsame Vorschriften enthält die Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem. Die Mehrwertsteuer ist für die EU von grundlegender Bedeutung, weil die EU ihren Haushalt wesentlich über einen Anteil an den Mehrwertsteuereinnahmen der Mitgliedstaaten finanziert und dadurch sog. Eigenmittel erhält (Art. 311 Abs. 2 AEU-Vertrag).

In einem ersten Verfahren wurde F zur Nachzahlung der hinterzogenen Mehrwertsteuer, zur Zahlung eines Zuschlags und zur Zahlung von Zinsen verurteilt. Dagegen legte F kein Rechtsmittel ein, in der Erwartung, damit sei der Fall abgeschlossen. Später wurde gegen ihn wegen desselben Sachverhalts ein Steuerstrafverfahren eingeleitet. Das zuständige Gericht des Staates S hatte Zweifel, ob ein erneutes Verfahren in derselben Sache mit dem EU-rechtlichen Verbot der Doppelverfolgung (ne bis in idem) vereinbar ist; insbesondere der dem F bereits auferlegte Zuschlag könne einer weiteren Sanktion entgegenstehen. Es hat dem EuGH eine entsprechende Frage vorgelegt (1. Frage). Außerdem hat es die (2.) Frage vorgelegt, ob das in S praktizierte Verfahren, wonach das nationale Recht nur bei einem klaren Verstoß gegen EU-Recht zurücktritt, mit EU-Recht vereinbar ist. Wie wird der EuGH über die beiden Fragen entscheiden?

A. Es handelt sich um ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEU-V. Dieses müsste zulässig sein.

I. Das vorlegende Gericht muss vorlageberechtigt sein. Vorlageberechtigt sind alle nationalen Gerichte. Handelt es sich um ein letztinstanzliches Gericht, ist dieses, falls die weiteren Voraussetzungen des Art. 267 AEU-V vorliegen, nach Art. 267 Abs. 3 AEU-V zur Vorlage verpflichtet. Im vorliegenden Fall handelt es sich offenbar um ein Strafgericht erster Instanz; dieses kann die Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegen (Art. 267 Abs. 2).

II. Es muss sich um eine vorlagefähige Frage handeln (Art. 267 Abs. 1). Nach Art. 267 Abs. 1 Buchst. a) sind vorlagefähig Fragen nach der Auslegung der Verträge.

1. Für die 1. Frage kommt es darauf an, ob Art. 50 Grundrechte-Charta (GRCh), das Verbot der Doppelverfolgung und Doppelbestrafung, hier anwendbar ist, was sich nach Art. 51 GRCh richtet. Ist das zu bejahen, stellt sich die entscheidende Frage, ob ein doppeltes Verfahren wie im Fall des F unter das Verbot des Art. 50 GRCh fällt. Die Probleme der 1. Frage sind also durch Auslegung der Art. 50, 51 GRCh zu lösen. Da die GRCh zu den Verträgen gehört, betrifft die 1. Frage die Auslegung der Verträge.

2. Die 2. Frage betrifft das Verhältnis zwischen EU-Recht und nationalem Recht. Dieses ist zwar nicht explizit in den Verträgen geregelt, ist aber unter Heranziehung der Verträge zu beurteilen (vgl. Art. 4 Abs. 3 EU-Vertrag).

Somit entsprechen die vorgelegten Fragen dem Art. 267 Abs. 1 Buchst. a) AEU-V.

III. Die vorgelegten Fragen müssen für den Rechtsstreit vor dem vorlegenden Gericht, also für das Ausgangsverfahren, entscheidungserheblich sein. Das ist zunächst für die 1. Vorlagefrage zu entscheiden.

1. Nach Art. 267 Abs. 2 genügt, dass das vorlegende Gericht die Entscheidung einer Frage für erforderlich hält. Dementsprechend prüft der EuGH nicht selbst die Entscheidungserheblichkeit, sondern lässt es genügen, dass das vorlegende Gericht diese dargelegt hat, und knüpft daran die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Diese Entscheidungserheblichkeit kann aber widerlegt sein. Dazu EuGH EuZW 2013, 306, Melloni, [28, 29]:

Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (…). Die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen kann nur ausnahmsweise widerlegt werden, wenn die erbetene Auslegung der in den Fragen genannten Vorschriften des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (…).

Wird im vorliegenden Fall zunächst nur die Auslegung des Art. 50 GRCh betrachtet, liegt keiner der Ausnahmefälle vor. Vielmehr ist Art. 50 GRCh offensichtlich entscheidungserheblich. Denn wenn Art. 50 GRCh ein weiteres Verfahren verbietet, ist das Ausgangsverfahren unzulässig; andernfalls darf es durchgeführt werden. Diese Überlegung hat aber zur Voraussetzung, dass Art. 50 GRCh überhaupt auf das Ausgangsverfahren anwendbar ist. Wäre Art. 50 nicht anwendbar, wäre dessen Auslegung für das Ausgangsverfahren offensichtlich nicht entscheidungserheblich. Deshalb stellt sich die Frage, ob Art. 50 GRCh im Ausgangsverfahren anwendbar ist. Im Originalfall hatten der Generalanwalt, acht an dem Verfahren beteiligte Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, und die Europäische Kommission die Frage verneint und die Vorlage wegen Nichtanwendbarkeit des Art. 50 GRCh für unzulässig gehalten (Rabe NJW 2013, 1407).

2. Die Anwendbarkeit einer Vorschrift der Grundrechte-Charta richtet sich nach Art. 51 Abs. 1 GRCh. Danach ist die GRCh zunächst für die Organe der Union verbindlich; ein Organ der Union hat im vorliegenden Fall nicht gehandelt. Für die Mitgliedstaaten, also auch für das Strafgericht des Staates S, sind die GRCh-Grundrechte verbindlich „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Eine Durchführung des Rechts der Union liegt zunächst vor, wenn EU-Recht direkt angewendet wird (z. B. bei einer EU-Verordnung), wenn EU-Recht (z. B. eine Richtlinie) umgesetzt oder die umgesetzte Richtlinie angewendet wird (vgl. auch Weiß EuZW 2013, 288). Diese Fälle liegen hier nicht vor. Vielmehr wird in den steuerlichen Verwaltungsverfahren und im Steuer-Strafverfahren das Steuerrecht und das Strafrecht des Staates S angewendet, das nicht auf EU-Recht beruht. Gleichwohl könnte eine Durchführung von EU-Recht auch in einem solchen Fall vorliegen.

a) EuGH im Fall Fransson [19 - 27]: Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Rechtsvorschrift nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Sobald dagegen eine solche Vorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert (folgen umfangreiche Nachw.). Der EuGH erweitert also die „Durchführung“ dahin, dass es ausreicht, wenn eine nationale Vorschrift in den Geltungsbereich bzw. Anwendungsbereich von EU-Recht fällt. Nach den weiteren Ausführungen reicht ein Zusammenhang mit dem EU-Recht aus. Vorliegend ist zunächst festzustellen, dass die gegen Herrn Fransson festgesetzten steuerlichen Sanktionen und das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren teilweise im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer stehen. Daraus folgt dann weiterhin der Zusammenhang mit dem EU-Recht:

aa) In Bezug auf die Mehrwertsteuer geht…aus Art. 4 Abs. 3 EU-V hervor, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten… Nach Art. 4 Abs. 3 EU-V unterstützen die Mitgliedstaaten die Union bei der Erfüllung ihrer Ausgaben und unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten. Wird die Mehrwertsteuer nicht im gesetzlich vorgesehenen Umfang erhoben, gefährdet das die Finanzierung der Union und damit die Erfüllung ihrer Aufgaben.

bb) Außerdem sind die Mitgliedstaaten nach Art. 325 AEUV verpflichtet, zur Bekämpfung von rechtswidrigen Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, abschreckende und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, insbesondere müssen sie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen die finanziellen Interessen der Union richtet, dieselben Maßnahmen ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richtet (…). Da die Eigenmittel der Union…u. a. die Einnahmen umfassen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben, besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung des einschlägigen Unionsrechts und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union, da jedes Versäumnis bei der Erhebung Ersterer potenziell zu einer Verringerung Letzterer führt (…).

Folglich sind steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung wegen unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer, wie im Fall des Angeklagten des Ausgangsverfahrens, als Durchführung…der Richtlinie 2006/112 sowie von Art. 325 AEU-V und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen.

b) Die weite Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GRCh ist kritisch betrachtet worden. So hat nach Rabe NJW 2013, 1407 und 1408 das EuGH-Urteil „Unruhe verbreitet“ und die Frage nach einem „Verfassungskonflikt“ aufgeworfen. Streinz im NVwZ-Editorial 2013 Heft 7 hält die daran anknüpfenden Weiterungen für problematisch und befürchtet, dass sie „die Beschränkungsregel des Art. 51 I GRCh entwerten“. Weiß EuZW 2013, 288 meint, der EuGH wahre nicht einmal mehr der Form nach die Anknüpfung an Art. 51 I GRCh, stellt auf S. 289 aber fest: „Mag… die Auslegung durch den EuGH sicher weit gehen, dürfte sie aber kaum die vom BVerfG in der Honeywell-Entscheidung gezogene Grenze einer offenkundigen, strukturwirksamen Überschreitung seiner Auslegungsbefugnis verletzen.“ Eine offene Ablehnung des EuGH liegt in diesen Ausführungen nicht.

3. Somit ist dem EuGH zu folgen. Danach lässt sich nicht feststellen, dass die 1. Vorlagefrage nicht entscheidungserheblich ist. Falls sie zu bejahen ist, erhält auch die die 2. Vorlagefrage Bedeutung, da im Falle der Vereinbarkeit der restriktiven Praxis in S mit EU-Recht möglicherweise nicht EU-Recht (Art. 50 GRCh), sondern ausschließlich das nationale Recht von S zur Anwendung kommt.

Somit ist die Vorlage zulässig.

B. Innerhalb der Begründetheitsprüfung sind die gestellten zwei Fragen zu beantworten.

I. Die 1. Frage zielt auf die Auslegung des - hier anwendbaren (oben A III 2) - Art. 50 GRCh. Art. 50 könnte dahin auszulegen sein, dass nach der rechtskräftigen Verurteilung des F zur Nachzahlung der Mehrwertsteuer, zur Zahlung eines Zuschlags und zur Zahlung von Zinsen ein Steuerstrafverfahren nicht mehr zulässig ist.

1. EuGH [32 - 34]: Zunächst ist festzustellen, dass Art. 50 der Charta einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer steuerliche und strafrechtliche Sanktionen zu kombinieren. Die Mitgliedstaaten können, um die Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, die anwendbaren Sanktionen frei wählen (…). Dabei kann es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination der beiden handeln. Insoweit gilt dasselbe wie nach Art. 103 III GG, wobei sich bei Art. 101 III bereits aus dem Wortlaut „auf Grund der allgemeinen Strafgesetze“ ergibt, dass verwaltungsrechtliche Sanktionen, Bußgelder und Disziplinarstrafen nicht ausgeschlossen werden. Danach hindert die gegenüber F verhängte steuerliche Sanktion ein Steuerstrafverfahren nicht.

2. Der EuGH macht aber die Einschränkung:

a) [34]: W enn die verwaltungsrechtliche Sanktion strafrechtlichen Charakter im Sinne von Art. 50 der Charta hat und unanfechtbar geworden ist, steht diese Vorschrift der Einleitung eines Strafverfahrens gegen dieselbe Person wegen derselben Tat entgegen.

b) [35]: Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur von Steuerzuschlägen sind drei Kriterien maßgeblich: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens die Art und der Schweregrad der angedrohten Sanktion (…). Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht dieser Kriterien zu beurteilen, ob die nach nationalem Recht vorgesehene Kumulierung von steuerlichen und strafrechtlichen Sanktionen anhand der nationalen Schutzstandards im Sinne…des vorliegenden Urteils zu prüfen ist, was das Gericht unter Umständen zu dem Ergebnis führen kann, dass diese Kumulierung gegen diese Standards verstößt…..

3. Die Überlegungen 1. und 2. fasst der EuGH wie folgt zusammen und beantwortet damit die 1. Frage: Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgestellte Grundsatz ne bis in idem hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer eine steuerliche Sanktion und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen, sofern die erste Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter hat, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.


4. Für das Ausgangsverfahren bedeutet das, dass das Strafgericht prüfen muss, ob der Zuschlag, zu dem F bereits verurteilt worden ist, einen strafrechtlichen Charakter hat. Dabei dürfte der Schweregrad des Zuschlags wesentlich sein. Erreicht dieser eine erhebliche Höhe (etwa das Mehrfache des hinterzogenen Betrags), muss das zur Bejahung des strafrechtlichen Charakters führen, so dass Art. 50 GRCh das anhängige Steuerstrafverfahren für unzulässig erklärt. Bei einer nur moderaten Höhe ist dagegen der strafrechtliche Charakter zu verneinen; das Steuerstrafverfahren bleibt zulässig. (Wie sich aus EuGH [10] ergibt, war im Originalfall vom schwedischen Recht ein Zuschlag von grundsätzlich zwanzig Prozent vorgesehen; dieser dürfte noch keinen Strafcharakter haben.)

II. Die 2. Frage geht dahin, ob der in S geltende Grundsatz, dass das nationale Recht nur bei einem klaren Verstoß gegen EU-Recht zurücktritt, mit europäischem Recht vereinbar ist. Bedeutung könnte dieser Grundsatz im vorliegenden Fall dann erhalten, wenn nicht klar ist, ob der Zuschlag, zu dem F im ersten Verfahren verurteilt wurde, strafrechtlichen Charakter hat. Dann könnte diese Frage mit der Begründung offen gelassen werden, dass der strafrechtliche Charakter nicht klar und der Verstoß gegen EU-Recht deshalb ebenfalls nicht klar ist, so dass es bei der Anwendung des nationalen, ein Strafverfahren für zulässig erklärenden Rechts bleibt.

1. Für das Verhältnis des EU-Rechts zum nationalen Recht gilt im Kollisionsfall der Grundsatz, dass das Unionsrecht Anwendungsvorrang hat. Das folgt aus der Eigenständigkeit der EU-Rechtsordnung, aus der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EU-V) und daraus, dass andernfalls die einheitliche Geltung des EU-Rechts in den Mitgliedstaaten nicht gewährleistet wäre. Aus deutscher Sicht ergibt sich das aus der Integrationsermächtigung des Art. 23 GG. Anwendungsvorrang bedeutet, dass die widersprechende nationale Vorschrift im Umfang ihres Widerspruchs zum EU-Recht nicht angewendet wird, aber in Kraft und in den Fällen anwendbar bleibt, bei denen ein Widerspruch zum EU-Recht nicht besteht. Demgegenüber führt ein Geltungsvorrang zur Unwirksamkeit der kollidierenden nachrangigen Norm (so im Fall des Art. 31 GG).

2. Anwendungsvorrang hat auch die Grundrechte-Charta. EuGH [45]: Was die Konsequenzen betrifft, die das nationale Gericht aus einem Widerspruch zwischen Bestimmungen seines innerstaatlichen Rechts und den durch die Charta verbürgten Rechten zu ziehen hat, so ist dieses Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, nach ständiger Rechtsprechung gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede - auch spätere - entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (EuGH im Fall Simmenthal, Slg. 1978, 629, Randnrn. 21 und 24, im Fall Filipiak, Slg. 2009, I‑11049, Randnr. 81, sowie im Fall Melki und Abdeli, Slg. 2010, I‑5667, Randnr. 43).

3. Davon gibt es auch keine Ausnahmen, etwa für den Fall, dass der Widerspruch nicht klar auf der Hand liegt. EuGH [46, 47]: Mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen ist jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis unvereinbar, die dadurch zu einer Schwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führt, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden (Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem hat gemäß Art. 267 AEUV ein innerstaatliches Gericht, bei dem ein Rechtsstreit über das Unionsrecht anhängig ist und dem dessen Sinn oder Reichweite nicht klar ist, das Recht oder gegebenenfalls die Pflicht, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung der fraglichen Bestimmung des Unionsrechts vorzulegen (…). Dadurch kann eine eventuelle Unklarheit über den Widerspruch der Normen beseitigt werden.

4. Die Antwort des EuGH auf die 2. Frage lautet folglich: Das Unionsrecht steht einer Gerichtspraxis entgegen, die die Verpflichtung des nationalen Gerichts, Vorschriften, die gegen ein durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiertes Grundrecht verstoßen, unangewendet zu lassen, davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den betreffenden Rechtsvorschriften oder der entsprechenden Rechtsprechung ergibt, da sie dem nationalen Gericht die Befugnis abspricht - gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof der Europäischen Union - die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der Charta umfassend zu beurteilen.


Zusammenfassung