Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Urteilsverfassungsbeschwerde gegen Zivilurteil. Anwendung der Grundrechte im Privatrecht. Meinungsfreiheit, Art. 5 I 1 GG. Beschränkung der Meinungsfreiheit nach Art. 5 II GG; Schmähkritik. Kollision Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht; Abwägungsentscheidung. Berufsfreiheit, Art. 12 I GG

BVerfG
Beschluss vom 2. 7. 2013 (1 BvR 1751/12) NJW 2013, 3021

Fall
(Winkeladvokat)

Rechtsanwalt R vertrat in einem Arzthaftungsprozess vor dem Landgericht eine Patientin. Beklagte waren zwei Zahnärzte, die von Rechtsanwalt W vertreten wurden. R erhob gegenüber W den Vorwurf des Parteiverrats und der unzulässigen Vertretung trotz widerstreitender Interessen, weil im Falle eines für den einen Zahnarzt günstigen Vortrags der andere notwendig hätte belastet werden müssen. Als W darauf nicht reagierte, zeigte R den W bei der Staatsanwaltschaft und bei der Rechtsanwaltskammer an; beide Verfahren wurden jedoch eingestellt. In einem weiteren Rechtsstreit vor dem Landgericht vertrat R erneut dieselbe Patientin und W wieder die beiden Zahnärzte. In diesem Verfahren beanstandete R in einem Schriftsatz an das Landgericht einen aus seiner Sicht widersprüchlichen Außenauftritt des W. Es sei nicht klar, ob zwischen ihm und zwei anderen Rechtsanwälten eine Sozietät oder nur eine Bürogemeinschaft bestehe. Hier zeige sich eine Parallele zu den von W vertretenen Zahnärzten, bei denen auch nicht klar sei, ob sie eine Praxisgemeinschaft oder eine Gemeinschaftspraxis bildeten. Dem Schriftsatz fügte R eine E-Mail an die Rechtsanwaltskammer bei, in der er auf die Erledigung des berufsständischen Verfahrens reagiert hatte. Dort heißt es unter anderem: „Mir persönlich erscheint es fragwürdig, wie es die Rechtsanwälte W und Co. mit ihrer Wahrheitspflicht halten, wenn sie dem Gericht gegenüber eine ,҆Kooperation` behaupten, wo sonst von ihnen allenthalben der Eindruck einer Sozietät zu vermitteln versucht wird. Ich gehe davon aus, dass es nicht unsachlich ist, eine Verpackung der eigenen Kanzlei mal als Kooperation, mal als Sozietät (wie es gerade günstig ist) als ,҆Winkeladvokatur` zu apostrophieren.“

Wegen dieser Äußerung erhob W gegen R Klage, die sowohl vor dem Landgericht als auch vor dem Oberlandesgericht erfolgreich war. R wurde dazu verurteilt, „es zu unterlassen, den Kläger als Winkeladvokaten und/oder das von ihm geführte Büro als Winkeladvokatur zu bezeichnen.“ Zur Begründung führte das LG aus, jemand werde als Winkeladvokat bezeichnet, der ohne ausreichende Kenntnisse und versteckt („aus dem Winkel“) Rechtsberatung betreibe, was auf W offensichtlich nicht zutreffe und als reine Diffamierung zu bewerten sei. Zumindest seien die dahingehenden Ausführungen durch den Zivilprozess, innerhalb dessen sie vorgebracht wurden, in keiner Weise sachlich veranlasst gewesen. Das OLG nahm eine Abwägung vor und führte aus, aus der Verwendung des ehrenrührigen Begriffs Winkeladvokat ergebe sich, dass der Schutz des Persönlichkeitsrechts des W das Interesse des R an einer derartigen Äußerung überwiege.

Gegen das Urteil des OLG ist ein weiteres Rechtsmittel nicht zulässig. R beabsichtigt daher eine Verfassungsbeschwerde. Hätte diese Erfolg?

A. Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde

I. Die VfB muss sich gegen einen Hoheitsakt richten (§ 90 I BVerfGG).

1. Das Urteil eines Gerichts kann ein mit der VfB angreifbarer Hoheitsakt sein, da auch die Gerichte öffentliche Gewalt i. S. der § 90 I BVerfGG, Art. 93 I Nr. 4 a GG ausüben. Da das LG der Klage stattgegeben hat, ist das Urteil des LG der Hoheitsakt. Es handelt sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde.

2. Inhalt des OLG-Urteils kann nur die Zurückweisung der Berufung gewesen sein, worin kein weiterer Eingriff gelegen hat. Jedoch ist bei der Frage der Begründung auch auf das Urteil des OLG abzustellen, weil dieses als Berufungsurteil letztlich maßgeblich ist.

Beschwerdegegenstand der VfB ist also das Urteil des LG mit den Begründungen des LG und des OLG.

II. Der Beschwerdeführer muss geltend machen, in einem Grundrecht verletzt zu sein (§ 90 I BVerfGG). Dass auch Gerichte Grundrechte verletzen können, ergibt sich aus Art. 1 III GG, wenn dort bestimmt ist, dass Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden sind. R kann geltend machen, ihm werde durch Urteil eine Meinungsäußerung zu Unrecht untersagt, so dass das Grundrecht der Meinungsfreiheit, Art. 5 I 1 GG, verletzt sei.

III. Nach § 90 II 1 BVerfGG muss der Beschwerdeführer den Rechtsweg ausgeschöpft haben. R hat gegenüber dem Urteil des LG beim OLG Berufung eingelegt, die erfolglos geblieben ist. Ein weiteres Rechtsmittel stand nicht zur Verfügung.

IV. Falls auch die formellen Voraussetzungen für die Erhebung der VfB beachtet werden (§ 23 BVerfGG: Schriftform; § 92 BVerfGG: Begründung; § 93 I BVerfGG: Monatsfrist), ist die VfB zulässig.

B. Begründetheit der VfB

I. Das Urteil des LG könnte das Recht des R auf Meinungsfreiheit (Art. 5 I 1 GG) verletzen.

1. Dann müssten die Grundrechte im vorliegenden Fall anwendbar sein.

a) Dafür reicht nicht aus, dass die Gerichte an die Grundrechte gebunden sind und diese verletzen können. Denn eine mögliche Verletzung kann sich nur aus dem Inhalt des Urteils ergeben, und dieses betrifft das Rechtsverhältnis zwischen R und W, zweier Privatpersonen. Die Feststellung einer Verletzung würde bedeuten, dass R den Vorwurf der Winkeladvokatur weiter erheben dürfte, würde sich also zu Gunsten des R und zu Lasten des W auswirken. Folglich setzt die Anwendung des Art. 5 I 1 GG im vorliegenden Fall voraus, dass Grundrechte auch im Verhältnis von Privatpersonen zur Anwendung kommen. Grundsätzlich binden die Grundrechte unmittelbar nur Staatsorgane (Art. 1 III GG), nicht Privatpersonen. Für Privatpersonen ist das Privatrecht maßgebend. Jedoch können die Grundrechte mittelbare Rechtswirkungen im Privatrecht haben.

aa) Nach der herrschenden Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht (grundlegend das Lüth-Urteil BVerfGE 7, 198) fließen die Grundrechte in die Auslegung und Anwendung des Privatrechts ein und sind Elemente innerhalb einer Interessen- und Güterabwägung. Im Privatrecht „wirkt der Rechtsgehalt der Grundrechteüber das Medium der das einzelne Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften,insbesondere der Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Begriffe, die im Sinne dieses Rechtsgehalts ausgelegt werden müssen, auf dieses Rechtsgebiet ein …“ (BVerfGE 73, 261, 269).

bb) Anspruchsgrundlage für den im vorliegenden Fall von W geltend gemachten Unterlassungsanspruch können §§ 1004 I 2 analog, 823 I BGB sein. Als gestörtes Recht i. S. des § 823 I BGB kommt das allgemeine Persönlichkeitsrecht des W als sonstiges Recht in Betracht. Dieses Recht ist ein Rahmenrecht, das nicht bereits begrifflich festlegt, in welchen Fällen es verletzt ist, sondern das eine Wertung unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen erfordert. Innerhalb dieser Prüfung ist bei der Frage, ob eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts des W vorliegt, auch die Meinungsäußerungsfreiheit des R mit heranzuziehen. In dieser Form ist das Grundrecht des Art. 5 I 1 GG hier anwendbar.

b) Dadurch, dass unmittelbar und primär Privatrecht zur Anwendung kommt, hängt auch die Frage einer Verletzung des Grundrechts von der Anwendung des von Privatrecht ab. Dieses in vollem Umfang nachzuprüfen, ist aber nicht Aufgabe des BVerfG. Dieses überprüft in einer Urteilsverfassungsbeschwerde das Urteil des Fachgerichts nur auf spezifische Verfassungsverletzungen hin. Danach ist d ie Schwelle eines Verstoßes gegen Verfassungsrecht, den das BVerfG zu korrigieren hat, erst erreicht, wenn die Auslegung der Zivilgerichte Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind… (vgl. BVerfGE 89, 1 [9 f.]; 95, 28 [37]; 97, 391 [401]; 112, 332 [358 f.]). Ein Grundrechtsverstoß liegt insbesondere dann vor, wenn das Zivilgericht den grundrechtlichen Einfluss überhaupt nicht berücksichtigt oder unzutreffend eingeschätzt hat und die Entscheidung auf der Verkennung des Grundrechtseinflusses beruht (vgl. BVerfGE 97, 391 [401]). Eine genauere Bestimmung dessen, was eine spezifische Verfassungsverletzung ist, erfolgt bei der Anwendung des konkreten Grundrechts, im vorliegenden Fall also bei der nachfolgenden Anwendung des Art. 5 I GG.

2. Erforderlich ist ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG.

a) BVerfG [13]: Unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen nach st. Rspr. des BVerfG Werturteile und Tatsachenbehauptungen, wenn und soweit sie zur Bildung von Meinungen beitragen (vgl. BVerfGE 85, 1, 15). In der Bezeichnung des W als Winkeladvokat liegt ein (negatives) Urteil des R, somit eine Meinungsäußerung. Ob diese Aussage einen Tatsachenkern hat, dessen Richtigkeit Gegenstand einer Beweisaufnahme sein könnte (vgl. zur Abgrenzung Meinungsäußerung oder Tatsachenbehauptung BVerfG DVBl 2013, 1382), kann offen bleiben, denn zumindest überwiegend handelt es sich um ein Werturteil. Die Aussage des R fällt somit unter den Schutzbereich des Art. 5 I 1. Ob sie als Schmähkritik einzuordnen ist, kann an dieser Stelle noch offen bleiben, denn auch als solche fiele sie zunächst unter den Schutzbereich (BVerfGE 93, 266, 294, Soldaten sind Mörder).

b) Da die Äußerung des R durch das Urteil des LG untersagt wird, liegt auch ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung R vor.

3. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein, wobei Grundlage für die Rechtfertigung Art. 5 II GG ist.

a) BVerfGE [13]: Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist nicht vorbehaltlos gewährt. Es findet seine Schranke in den allgemeinen Gesetzen, zu denen die hier von den Gerichten angewandten Vorschriften der § 823 Abs. 1, Abs. 2, § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, § 185 StGB gehören. Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften sind Sache der Fachgerichte, die hierbei jedoch das eingeschränkte Grundrecht interpretationsleitend berücksichtigen müssen, damit dessen wertsetzender Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198, 205 ff.; 120, 180, 199 f.; st. Rspr).

An dieser Stelle ein Hinweis zum Gedankengang der Falllösung: Bei Prüfung des vorstehend angesprochenen zivilrechtlichen Anspruchs (§§ 823, 1004) ist das Persönlichkeitsrecht des W wesentlicher Bestandteil der Anspruchsgrundlage (dem entspricht nachfolgend b). Die Meinungsfreiheit des R ist in diesem Zusammenhang ein gegenläufiges Abwägungselement, ähnlich einer Gegennorm. Bei der VfB ist es umgekehrt: Die Meinungsfreiheit ist das im Vordergrund stehende Recht (oben 2 a und b), während das Persönlichkeitsrecht das gegenläufige, einer Gegennorm ähnliche Abwägungselement ist; dazu die Überlegungen unten c.

b) Eine Anwendung der unter a) aufgeführten Vorschriften im vorliegenden Fall hat zur Voraussetzung, dass ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des W durch die Äußerung des R erfolgt ist. BVerfG [19]: Zutreffend ist die Einschätzung des OLG, dass durch den Begriff „Winkeladvokatur“ in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers eingegriffen wird. Denn er insinuiert, dass der Kläger ein Rechtsanwalt sei, der eine geringe fachliche Eignung aufweist und dessen Seriosität zweifelhaft ist. Dies setzt ihn in seiner Persönlichkeit herab.

c) Somit war es Aufgabe des LG und des OLG, das Persönlichkeitsrecht des W und die Meinungsfreiheit des R in ihrer Bedeutung für den vorliegenden Fall zu gewichten und abzuwägen. BVerfG [13]: Verlangt wird in der Regel eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch ihr Verbot andererseits (…). Die dahingehenden Ausführungen der beiden Gerichte prüft das BVerfG unter dem Aspekt der spezifischen verfassungsrechtlichen Anforderungen nach (geht dabei aber teilweise über eine bloß spezifische Verfassungsprüfung hinaus, worauf Steinbach NVwZ 2013, 1406/7 zutreffend hinweist).

(1) Wenn das LG ausführt, die Äußerung des R sei eine reine Diffamierung des W, hat es diese Äußerung als Schmähkritik eingestuft. Eine solche Einstufung hat zur Folge, dass die Äußerung bei der Abwägung keinen Schutz erhält. Deshalb werden derartige Einstufungen vom BVerfG als verfassungsrechtlich relevant nachgeprüft. BVerfG [14]: Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit werden verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind (vgl. BVerfGE 85, 1, 14).

[15]: Eine Schmähkritik ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (vgl. BVerfGE 82, 272, 284). [17]: Im vorliegenden Fall wurde die Äußerung des R anlässlich einer sachthemenbezogenen Auseinandersetzung getätigt. Die Äußerung stellt eine etwaige Diffamierung des Klägers (= W) nicht in den Vordergrund, sondern weist Sachbezug auf, indem der Beschwerdeführer (= R) den Außenauftritt des Klägers (W) moniert. Dies wiederum steht in sachlichem Bezug zu dem Arzthaftungsprozess, in den der Beschwerdeführer die E-Mail eingeführt hat, denn er wollte auf die Parallelität der gesellschaftsrechtlichen Formen der Rechtsanwaltskanzlei des Klägers einerseits und der Arztpraxis von dessen Mandantschaft andererseits und auf einen möglichen Interessenkonflikt hinweisen. Diese Ausführungen sollten dem Interesse der Mandantin dienen und waren mithin keine Schmähkritik. Dass Ausführungen polemisch, überspitzt oder überzogen sind, lässt ihren Schutz durch Art. 5 I nicht entfallen, wie das BVerfG in DVBl 2013, 1382 [21]) wieder betont hat. Somit war die Einstufung der Äußerung des R als Schmähkritik verfassungsspezifisch fehlerhaft und durfte nicht negativ für R in die Abwägung eingestellt werden.

(Dagegen handelte es sich um eine Schmähkritik in dem von Steinbach NVwZ 2013, 1406 zitierten Urteil OLG Saarbrücken NJW-RR 2003, 176, in dem der Beklagte einen seine Gebühren einklagenden Rechtsanwalt als „arglistiger Täuscher“, „uneinsichtiger dummer Tölpel“ und „Prozessbetrüger“ bezeichnete.)

(2) Das Urteil des LG hat weiterhin zu Lasten des R berücksichtigt, dass dessen Ausführungen durch den Zivilprozess in keiner Weise sachlich veranlasst gewesen seien. Jedoch sind Gerichte in einer Unterlassungsklage nicht berechtigt, prozessuale Ausführungen der Parteien in einem Vorprozess nachzuprüfen und zu bewerten. BVerfG [20}: Das OLG… wird dem Ausnahmecharakter der Unzulässigkeit von Äußerungen in einem gerichtlichen Verfahren nicht gerecht. Denn Rechtsschutz gegenüber Prozessbehauptungen ist nur gegeben, wenn die Unhaltbarkeit der Äußerung auf der Hand liegt oder sich ihre Mitteilung als missbräuchlich darstellt (vgl. BVerfG NJW 2000, 3196, 3198). Die bloße „Unangemessenheit“ und „Unnötigkeit“ der Äußerung… reichen dafür nicht aus. Deshalb behält die Meinungsfreiheit des R ein erhebliches Gewicht.

(3) Auf der anderen Seite der Abwägung ist die Bedeutung der Äußerung des R für das Persönlichkeitsrecht des W zu gewichten. Dabei beanstandet BVerfG [20, 21], dass das OLG nicht genügend berücksichtigt hat, dass die Äußerung zunächst nur gegenüber der Rechtsanwaltskammer getätigt und dann in einen Zivilprozess eingeführt wurde, in dem nur die Prozessbeteiligten und das Gericht von ihr Kenntnis nehmen konnten… Außerdem gewichtet das OLG das Persönlichkeitsrecht des W insofern zu hoch, als es schon in der internen Verwendung eines ehrenrührigen Begriffs den Grund für ein Überwiegen seiner grundrechtlich geschützten Interessen sieht. Das OLG hat nicht hinreichend in seine Erwägungen eingestellt, dass der Vorwurf des Winkeladvokaten nur eine begrenzt gewichtige Herabsetzung allein in der beruflichen Ehre bedeutet und den Kläger damit lediglich in seiner Sozialsphäre betrifft, zumal der Beschwerdeführer (R) sich wörtlich allein auf die Kanzlei und nicht auf die Person bezogen und den Begriff Winkeladvokatur in Anführungszeichen gesetzt hat.

(4) Insgesamt haben die Fachgerichte verkannt, dass die Verurteilung zur Unterlassung einer Äußerung im Interesse des Schutzes der Meinungsfreiheit auf das zum Rechtsgüterschutz unbedingt Erforderliche beschränkt werden muss (…), nicht aber den Zweck hat, die sachliche Richtigkeit oder Angemessenheit der betreffenden Meinungsäußerung in dem Sinne zu gewährleisten, dass zur Wahrung allgemeiner Höflichkeitsformen überspitzte Formulierungen ausgeschlossen werden.

d) Somit wird die Meinungsfreiheit des R nicht durch ein überwiegendes Persönlichkeitsrecht des W eingeschränkt. Die abweichende Beurteilung durch LG und OLG verletzt Art. 5 I 1 GG des R in spezifisch verfassungsrechtlicher Weise. Damit steht bereits fest, dass die VfB begründet ist, die Urteile des LG und OLG aufgehoben werden und die Sache an das LG zurückverwiesen wird (§ 95 II BVerfGG).

II. Das Urteil des LG und die Begründung des Urteils des OLG könnten außerdem das Grundrecht des R auf Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) verletzen. (Vom BVerfG wird Art. 12 nicht behandelt; auch die Besprechungen dieses Falles von Muckel JA 2013, 875, Hufen JuS 2014, 89, Wüstenbecker RÜ 2013 Heft 11 S. 727 gehen nicht auf Art. 12 ein.)

1. Es müsste ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegen.

a) R hat seine Äußerung gegenüber W in Ausübung seines Berufs als Rechtsanwalt gemacht. Ein gleiches künftiges Verhalten, das ihm durch das Urteil untersagt wird, wäre ebenfalls beruflich veranlasst.

b) Das Verbot durch das Gericht bedeutet eine Beschränkung der beruflichen Tätigkeit und ist danach ein Eingriff. Allerdings ist noch nicht jede Beschränkung, die sich auf die Berufstätigkeit negativ auswirkt, ein Eingriff. (So ist nicht jede Verkehrsbeschränkung gegenüber dem, der beruflich unterwegs ist, ein Eingriff, der nach Art. 12 GG rechtfertigungsbedürftig ist.) Vielmehr muss die Maßnahme eine berufsregelnde Tendenz haben (BVerfG DVBl 2007, 1097 Rdnrn. 32, 33). Im vorliegenden Fall könnte argumentiert werden, der Schutz der Persönlichkeit vor herabsetzenden Erklärungen habe im vorliegenden Fall nur einen mehr zufälligen Bezug zur beruflichen Tätigkeit und sei übergreifender Natur, so dass es an der berufsregelnden Tendenz fehle. Andererseits bedeutet das Urteil, dass R künftig bei seiner beruflichen Tätigkeit als Rechtsanwalt zurückhaltender argumentieren muss, was speziell seine berufliche Tätigkeit betrifft. Es spricht deshalb mehr dafür, einen Eingriff in Art. 12 I zu bejahen.

2. Da das gerichtliche Verbot sich nur auf die Berufsausübung bezieht, könnte es über Art. 12 I 2 gerechtfertigt sein. Gesetze i. S. dieses Gesetzesvorbehalts sind dieselben, die oben B I 1 a bb und 3 a herangezogen wurden: §§ 823 I, 1004 I 2 analog BGB. Bei ihrer Anwendung ist zu prüfen, ob eine Abwägung des Persönlichkeitsrechts des W mit der Berufsfreiheit des R dazu führt, dass das Persönlichkeitsrecht des W überwiegt und der Eingriff deshalb gerechtfertigt ist.

a) Die dahingehende Prüfung kann sich an den Überlegungen oben B I 3 b orientieren.

(1) Die Berufsfreiheit des R hat nicht etwa deshalb zurückzutreten, weil R eine Schmähkritik zur Last zu legen wäre. Vielmehr hatte die umstrittene Äußerung des R einen sachlichen Bezug zu dem Zivilprozess und hatte nicht ausschließlich den Zweck, W zu diffamieren.

(2) Auch im Zusammenhang mit Art. 12 I GG war das LG nicht dazu befugt, die sachliche Notwendigkeit der Ausführungen des R zu beanstanden. Welche Ausführungen ein Rechtsanwalt im Interesse seiner Mandantin für gerechtfertigt hält, ist - von krassen Fehlgriffen abgesehen - von ihm selbst zu entscheiden. Somit spricht diese Überlegung für ein Überwiegen der Berufsfreiheit.

(3) Auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 I ist von Bedeutung, dass die Auseinandersetzung zwischen R und W sich lediglich in der Sozialsphäre abgespielt hat und dass unter Rechtsanwälten Auseinandersetzungen im Interesse der Mandanten auch mit scharfen Worten nicht unüblich sind, so dass der Vorwurf der Winkeladvokatur nur eine begrenzt gewichtige Herabsetzung des W bedeutet.

(4) Eine Verurteilung zur Unterlassung einer beruflichen Tätigkeit muss auf das zum Rechtsschutz des Persönlichkeitsrechts unbedingt Erforderliche beschränkt bleiben. Wegen der nur begrenzten Wirkung der Äußerung des R innerhalb des Zivilprozesses erscheint eine Verurteilung zur Unterlassung nicht als unbedingt notwendig.

b) Somit kommt auch die Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des W und der Berufsfreiheit des R zu dem Ergebnis, dass die Berufsfreiheit des R nicht durch ein überwiegend gewichtiges Persönlichkeitsinteresse des W beschränkt wird. Die Urteile bedeuten deshalb auch eine Verletzung des Rechts des R aus Art. 12 I GG, so dass die VfB auch aus diesem Grund begründet ist.


Zusammenfassung