Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Entziehung der Fahrerlaubnis nach 46 FeV wegen Ungeeignetheit zum Führen eines Kraftfahrzeugs. ► Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach § 13 FeV; Rechtmäßigkeit. ► Schluss auf die Ungeeignetheit wegen Nichtvorlage des Gutachtens, § 11 VIII FeV. ► Vorrang eines Strafurteils und eines strafrechtlichen Verfahrens, § 3 III, IV StVG
VGH Mannheim Beschluss vom 19. 8. 2013 (10 S 1266/13) NJW 2014, 484
Fall (Verdacht auf Alkoholmissbrauch)
A war Inhaber einer Fahrerlaubnis. Sie war ihm vor einigen Jahren wegen eines unter Alkoholeinfluss begangenen Verkehrsunfalls entzogen, später aber wiedererteilt worden. In den folgenden Jahren war A mehrmals in alkoholisiertem Zustand auffällig geworden, davon zweimal im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs und einmal bei der Anwendung häuslicher Gewalt. Am 3. 1. wurde gegen A ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer am selben Tag begangenen Trunkenheit im Verkehr eingeleitet. Davon erhielt die für A zuständige Straßenverkehrsbehörde B Kenntnis. Die Sachbearbeiterin erkundigte sich am 15. 1. telefonisch bei der Staatsanwaltschaft und erhielt die Auskunft, die Lebensgefährtin des A habe ihre Aussage, dass A am Steuer gesessen habe, zurückgezogen; voraussichtlich werde das Verfahren deshalb eingestellt.
Mit Schreiben vom 22. 1. forderte die B-Behörde den A dazu auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, in dem geklärt wird, ob A trotz des Verdachts auf Alkoholmissbrauch zum Führen eines Kraftfahrzeugs geeignet und nicht zu erwarten sei, dass er ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde. Begründet wurde das durch Bezugnahme auf den Vorfall vom 1. 3. und die vorangegangenen Vorfälle sowie mit den einschlägigen Vorschriften der Fahrerlaubnisverordnung (FeV). Das Gutachten sei bis zum 22. 3. vorzulegen; andernfalls werde B aus der Nichtvorlage auf eine fehlende Eignung des A schließen.
A legte das Gutachten nicht vor. Mit formell fehlerfreier Verfügung vom 11. 4. entzog B dem A die Fahrerlaubnis und begründete dies mit der Nichtvorlage des Gutachtens. Am selben Tage wurde das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen A eingestellt. Gegen die Verfügung vom 11. 4. hat A in zulässiger Weise verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage erhoben. Er macht geltend, bei ihm liege kein Alkoholmissbrauch vor. Dafür spreche auch die Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Da dieses Verfahren Vorrang gehabt habe, seien weder die Aufforderung zur Beibringung eines Gutachtens noch die Entziehung der Fahrerlaubnis zulässig gewesen. B beruft sich darauf, dass der Verdacht einer Nichteignung des A nach wie vor bestehe und ein eventueller Vorrang des Ermittlungsverfahrens jedenfalls mit dessen Einstellung entfallen sei. Wie ist über die Anfechtungsklage zu entscheiden?
Die - in zulässiger Weise erhobene - Anfechtungsklage ist begründet, wenn die Voraussetzungen des § 113 I 1 VwGO erfüllt sind. Dazu müsste die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtswidrig sein. Formelle Bedenken hiergegen bestehen laut Sachverhalt nicht. In materieller Hinsicht bedarf die Entziehung der Fahrerlaubnis einer Ermächtigungsgrundlage.
I. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist in § 3 StVG und in § 46 FeV geregelt. § 46 I FeV ist wegen des den Begriff der Ungeeignetheit konkretisierenden Satzes 2 und der Regelungen in Absatz 7 und 8 spezieller und daher als Ermächtigungsgrundlage anzuwenden. § 3 StVG behält Bedeutung für die Lösung des Falles durch seine Absätze 3 und 4.
II. Voraussetzung für § 46 I FeV ist, dass sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet erweist.
1. Nach der über § 46 I 2 FeV anwendbaren Anlage 4 Ziff. 8.1 fehlt die Eignung, wenn ein Missbrauch von Alkohol vorliegt, so dass d as Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können. Dass diese Voraussetzung auf A zutrifft, bestreitet dieser. Auch die B-Behörde geht nicht vom Vorliegen dieser Voraussetzungen aus. Andernfalls hätte sie nicht auf die Nichtvorlage des Gutachtens abgestellt, sondern §§ 46 III, 11 VII FeV angewendet, wonach die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens unterbleibt, wenn die Nichteignung feststeht. Es kann also nicht festgestellt werden, dass A nach § 46 I FeV i. V. mit der Anlage 4 Ziff. 8.1 ungeeignet ist. Diese Vorschriften scheiden als Ermächtigungsgrundlage aus.
2. Ermächtigungsgrundlage könnten §§ 46 III, 11 VIII FeV sein. Danach darf die Behörde, wenn der Betroffene ein gefordertes Gutachten nicht fristgerecht beibringt, auf dessen Nichteignung schließen.
a) Mit Schreiben vom 22. 1. hat B von A die Vorlage eines Gutachtens gefordert. Dabei hat B, wie von § 11 VIII 2 FeV gefordert, auf die Folge bei Nichtvorlage hingewiesen. A hat das Gutachten nicht vorgelegt.
b) Da die Aufforderung zur Beibringung des Gutachtens eine wesentliche Voraussetzung für die Anwendung des § 11 VIII FeV ist, muss sie rechtmäßig sein.
aa) Davon wäre allerdings ohne weitere Prüfung auszugehen, wenn die Aufforderung im Schreiben vom 22. 1. ein Verwaltungsakt wäre. Denn A hat gegen das Schreiben keinen Rechtsbehelf eingelegt. Ein erlassener und nicht mit einem Rechtsbehelf angegriffener VA ist nach § 43, I, II VwVfG wirksam und zu beachten. Der einfache Einwand, der VA sei rechtswidrig, ist nicht zulässig (anders nur, wenn der VA nichtig ist, § 43 III VwVfG). Jedoch ist die Aufforderung zur Beibringung eines Gutachtens kein VA, sondern eine Maßnahme des Verwaltungsverfahrens zur Vorbereitung eines VA (vgl. VGH nachfolgend unter bb). Regelung im Sinne des VA-Begriffs (§ 35 VwVfG) ist nur die abschließende Regelung und nicht eine die eigentliche Sachentscheidung bloß vorbereitende Maßnahme. Wegen § 44 a VwGO, wonach Verfahrenshandlungen nicht selbstständig anfechtbar sind, wäre auch eine Klage gegen die Aufforderung nicht zulässig gewesen. Die Aufforderung zur Beibringung eines Gutachtens ist auch kein vollstreckbares Gebot, sondern ihre Rechtsfolge ist die Anwendung des § 11 VIII FeV. Somit ergibt sich aus einem VA-Charakter der Aufforderung nicht, dass von ihrer Rechtmäßigkeit auszugehen ist.
bb) Vielmehr ist die Rechtmäßigkeit der Aufforderung in dem Verfahren über die Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis inzidenter zu überprüfen. VGH S. 486: Da eine Gutachtensanordnung nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung nicht selbständig anfechtbar ist, sondern nur im Rahmen eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen eine daran anknüpfende Fahrerlaubnisentziehung oder sonstige in Rechte des Betroffenen eingreifende Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde inzidenter auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden kann, ist es ein Gebot effektiven Rechtsschutzes, insoweit strenge Anforderungen zu stellen. S. 485: Der Schluss auf die Nichteignung ist nur zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (vgl. BVerwG DAR 2001, 522 und DAR 2005, 578…).
Diese Beurteilung der Gutachtensanforderung hat für den Betroffenen auch den Vorteil, dass er nicht mit der Notwendigkeit einer Anfechtung belastetet wird, sondern abwarten kann, welche Konsequenzen die Behörde aus einer Nichtvorlage eines Gutachtens zieht.
3. Somit ist zu prüfen, ob die Gutachtensaufforderung vom 22. 1. rechtmäßig war. Über § 46 III FeV sind bei Bedenken über die Fahreignung §§ 11 - 13 FeV anwendbar. Im Falle eines möglichen Alkoholmissbrauchs ist § 13 FeV die gegenüber § 11 FeV speziellere Vorschrift.
a) Nach § 13 Satz 1 Nr. 2 a, 2. Alt. FeV kann zur Abklärung der Fahreignung ein medizinisch-psychologisches Gutachten verlangt werden, wenn (sonstige) Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen. Aus dem Zusammenhang, in dem diese Vorschrift steht, ergibt sich, dass die Tatsachen noch nicht die Gewissheit von Alkoholmissbrauch begründen müssen, sondern dass ein abklärungsbedürftiger Verdacht ausreicht.
b) Im Fall des A liegen mehrfache Anhaltspunkte vor, aus denen sich ergeben könnte, dass A Alkohol konsumiert und in diesem Zustand verbotswidrig ein Fahrzeug führt. Dazu gehören zunächst die drei Vorgänge, die im Zusammenhang mit dem Führen von Kraftfahrzeugen stehen. Dabei ist auch der Vorfall vom 3. 1. einzubeziehen. Zwar gilt A nach der Einstellung des Verfahrens als nicht schuldig, gleichwohl bleibt der verwaltungsrechtlich relevante Verdacht, dass A - entsprechend der früheren Aussage seiner Lebensgefährtin - alkoholisiert am Steuer eines Fahrzeugs gesessen hat, so dass Klärungsbedarf besteht. Auch der Fall häuslicher Gewalt unter Alkoholeinfluss ist einzubeziehen. Nach VGH S. 485 ist in der Rechtsprechung geklärt, dass nicht nur ein alkoholbedingtes Fehlverhalten im Straßenverkehr, sondern unter besonderen Umständen auch die Berücksichtigung nicht straßenverkehrsbezogener Alkoholauffälligkeiten gestattet ist (folgen Nachw.). Erwiesene häusliche Gewalt unter Alkoholeinfluss ist ein Fehlverhalten, das nicht unberücksichtigt bleiben darf. Insgesamt rechtfertigen somit die Umstände einen zur Bejahung des § 13 S. 1 Nr. 2 a FeV ausreichenden Verdacht.
4. Zur Rechtswidrigkeit der Aufforderung könnte aber das am 1. 3. eingeleitete und am 11. 4. eingestellte strafrechtliche Ermittlungsverfahren führen. Dieses hätte nach § 69 StGB zu einer Entziehung der Fahrerlaubnis als Maßregel der Besserung und Sicherung führen können. Im Verhältnis zwischen strafrechtlichem und straßenverkehrsrechtlichem Verfahren hat das strafrechtliche Verfahren Vorrang. Das ergibt sich aus § 3 III, IV StGB.
a) § 3 IV StGB bestimmt: Will die Fahrerlaubnisbehörde in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigen, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, so kann sie zu dessen Nachteil vom Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen, als es sich auf die Feststellung des Sachverhalts oder die Beurteilung der Schuldfrage oder der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht. Eine ähnliche Regelung enthält § 35 III GewO für den Fall einer Gewerbeuntersagung. Während sonst bei Urteilen nur der Tenor verbindlich ist, erstreckt sich in diesen Fällen die Bindung auch auf wichtige Teile der Begründung, um insoweit widersprüchliche Entscheidungen zu vermeiden. Im vorliegenden Fall ist allerdings kein Urteil ergangen.
b) Nach § 3 III StGB darf die Fahrerlaubnisbehörde, solange gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis ein Strafverfahren anhängig ist, in dem die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 des Strafgesetzbuchs in Betracht kommt, den Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens ist, in einem Entziehungsverfahren nicht berücksichtigen. Sowohl § 3 III als auch IV StVG beziehen sich nicht nur auf die Entziehung der Fahrerlaubnis selbst, sondern auch auf vorbereitende Aufklärungsmaßnahmen wie die Anforderung eines Gutachtens (VGH S. 486 unter Hinweis auf BVerwGE 80, 43). Denn solange die Fahrerlaubnis nicht entzogen werden darf, haben vorbereitende Maßnahmen keinen Sinn.
VGH S. 486: Im Zeitpunkt der Gutachtensanordnung vom 22. 1. war das Ermittlungsverfahren gegen A wegen des Verdachts auf Trunkenheit im Straßenverkehr nach § 316 StGB noch anhängig. In diesem Verfahren kam die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB in Betracht. Daher stand § 3 III StVG der Anforderung eines Gutachtens entgegen. Unerheblich ist, dass die StA die Einstellung des Verfahrens bereits angekündigt hat… § 3 Abs. 3 StVG stellt nach Wortlaut und Sinn und Zweck nicht darauf ab, ob eine Fahrerlaubnisentziehung im konkreten Fall mehr oder weniger wahrscheinlich ist. Die Bindungswirkung des § 3 Abs. 3 StVG tritt vielmehr mit der Einleitung des Strafverfahrens ein; ab diesem Zeitpunkt ist der Vorgang, auf den sich die strafrechtlichen Ermittlungen erstrecken, auch im Hinblick auf die Fahreignung vorrangig durch die Strafverfolgungsbehörden zu bewerten… Denn selbst wenn die Einstellung des Verfahrens nur noch als Formalie erscheint, ist eine andere Entscheidung bis zur förmlichen Einstellung des Verfahrens nicht ausgeschlossen, wie hier etwa dann, wenn die Lebensgefährtin des A ihre Aussage geändert hätte. Auf die datumsmäßig bestimmte Einstellungsentscheidung abzustellen, wird nicht zuletzt durch das Gebot der Rechtssicherheit nahegelegt.
c) Allerdings ist das sich aus § 3 III StVG ergebende vorübergehende Verfahrenshindernis mit der Einstellung des Verfahrens am 11. 4. entfallen.
aa) VGH S. 486: Der Zugriff auf den Sachverhalt ist nach diesem Zeitpunkt dadurch wieder eröffnet, dass das deswegen eingeleitete Strafverfahren mittlerweile seinen Abschluss gefunden hat… Auch wenn das Verfahren nicht durch ein Strafurteil, sondern durch eine Einstellungsentscheidung abgeschlossen wird, ist danach ein Zugriff der Fahrerlaubnisbehörde grundsätzlich wieder möglich, weil hier widersprechende Entscheidungen der Fahrerlaubnisbehörde und des Strafgerichts ausgeschlossen sind. Die Fahrerlaubnisbehörde war daher seit der Einstellungsentscheidung vom 11. 4. befugt, auf den Vorfall vom 3.1. zurückzugreifen und den hierdurch begründeten Eignungszweifeln nachzugehen sowie die Fahrerlaubnis zu entziehen….
bb) Jedoch hat die B-Behörde nicht neu ermittelt, sondern sich auf die Nichtbeibringung des am 22. 1. rechtswidrig geforderten Gutachtens gestützt. Da die Gutachtensanforderung vom 22. 1. rechtswidrig bleibt, ist die Anwendung des § 11 VIII FeV nicht gerechtfertigt.
VGH S. 486/7: Wie ausgeführt, ist der Schluss auf die Nichteignung nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV nur zulässig, wenn die Gutachtensanordnung formell und materiell rechtmäßig war… Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung ist der Zeitpunkt ihres Erlasses. Eine unberechtigte Aufforderung zur Gutachtensbeibringung kann nicht nachträglich geheilt werden (BVerwG, Urt. v. 5.7.2001 - 3 C 13/01 - juris Rn. 27; VGH Mannheim, Urt. v. 23.2.2010 - 10 S 221/09 - juris Rn. 41…). Denn der Betroffene muss sich zeitnah innerhalb der noch offenen Beibringungsfrist darüber Klarheit verschaffen können, ob er sich der Begutachtung aussetzt oder ob er diese für ungerechtfertigt hält (…). So war es A im vorliegenden Fall nicht zuzumuten, sich während des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens der Belastung durch die medizinisch-psychologische Untersuchung zu unterziehen, obwohl die Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis möglicherweise im Strafverfahren zu fallen hatte (VGH S. 486).
Ergebnis: Wegen der Rechtswidrigkeit der Gutachtensanforderung vom 22. 1. durfte die Nichtvorlage eines Gutachtens nicht zu Lasten des A nach §§ 46 II, 11 VIII FeV verwendet werden. Für die Entziehung der Fahrerlaubnis greifen weder § 46 I FeV noch §§ 46 III, 11 VIII FeV als Ermächtigungsgrundlage ein. Die Entziehung der Fahrererlaubnis war rechtswidrig und verletzte A in seinem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG). Die Anfechtungsklage ist begründet.
Zusammenfassung