Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Verhältnis des EU-Rechts zum nationalen, deutschen Recht; Anwendungsvorrang des EU-Rechts, Art. 23 GG. ► Kontrolle von EU-Rechtsakten anhand von Vorschriften, die zur Verfassungsidentität des Grundgesetzesgehören (Identitätskontrolle). ► Schutz der Menschenwürde (Art. 1 I GG) gegenüber Maßnahmen der Strafverfolgung; Schuldprinzip. ► Europäischer Haftbefehl; Auslieferung einer Person an einen EU-Staat; Prüfungspflicht des deutschen Gerichts
BVerfG Beschluss vom 15. 12. 2015 (2 BvR 2735/14) NJW 2016, 1149
Fall (Auslieferung nach Italien)
B, der Bürger der USA ist, wurde in Italien vor einem Gericht in Florenz angeklagt. Nachdem ihn die Anklageschrift und die Terminsladung nicht erreicht hatten, fand die Verhandlung in Abwesenheit des B statt. In dem anschließend ergangenen Urteil wurde B wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Einfuhr und Besitz von Kokain zu einer Haftstrafe von 30 Jahren verurteilt. Da B sich nicht in Italien aufhielt, erließ die Staatsanwaltschaft in Florenz gegen ihn einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung der Strafe. Grundlage hierfür ist der vom Rat der EU erlassene „Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten“. Nach dessen Art. 1 Abs. 2 vollstrecken die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. B hielt sich in Deutschland auf und wurde hier aufgrund des Europäischen Haftbefehls festgenommen. Über die mit dem Haftbefehl beantragte Auslieferung nach Italien hatte nach §§ 12, 13 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) das zuständige Oberlandesgericht durch Beschluss zu entscheiden.
In der Anhörung vor dem OLG verwies B auf die Umstände seiner Verurteilung und darauf, dass er in Italien nach italienischem Strafprozessrecht lediglich Wiedereinsetzung in die Berufungsinstanz erreichen könne und dass im Berufungsverfahren eine Entscheidung nach Aktenlage und ohne Beweisaufnahme möglich sei. Er müsse deshalb damit rechnen, dass er endgültig verurteilt werde, ohne dass er persönlich zu der Anklage habe Stellung nehmen können und ohne dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe umfassend geprüft würden. Das OLG holte eine Stellungnahme der italienischen Justiz ein. Für diese erklärte die zuständige Staatsanwaltschaft, B könne den Antrag stellen, dass das Verfahren in der Berufungsinstanz fortgeführt werde, wobei auch eine erneute Beweisaufnahme möglich sei. Anschließend erließ das OLG einen Beschluss, in dem die Auslieferung für zulässig erklärt wurde. Zur Begründung verwies es darauf, dass es grundsätzlich an den Europäischen Haftbefehl gebunden sei und dass die Erklärung der italienischen Staatsanwaltschaft die Rechte des B wahre, insbesondere weil eine erneute Beweisaufnahme jedenfalls nicht ausgeschlossen sei. Da ein Rechtsmittel gegen diesen Beschluss nicht vorgesehen ist, fragt B, ob eine Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg hat.
Lösung
Hinweis: Sowohl der Sachverhalt als auch die Lösung sind im Vergleich zum Originalfall stark vereinfacht.
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (VfB)
I. Nach § 90 I BVerfGG kann jedermann VfB erheben, also auch der US-Bürger B.
II. Die VfB muss sich gegen einen Hoheitsakt richten (§ 90 I BVerfGG). B wird durch zwei Maßnahmen belastet:
1. Der gegen ihn gerichtete Europäische Haftbefehl verpflichtet die Polizei- und Justizbehörden der EU-Staaten dazu, ihn festzunehmen und auszuliefern. Jedoch wurde der Haftbefehl von einer italienischen Justizbehörde erlassen. Die VfB nach deutschem Recht kann sich nur gegen Akte der deutschen Staatsgewalt richten, folglich nicht gegen den von einer ausländischen Behörde ausgestellten Haftbefehl.
2. Akt der deutschen Staatsgewalt ist der Beschluss des OLG, durch den die Auslieferung des B für zulässig erklärt wurde. Auch eine gerichtliche Entscheidung kann Gegenstand einer VfB sein (vgl. § 95 II BVerfGG), so dass dieser Beschluss der Hoheitsakt ist, gegen den sich die VfB richtet.
III. Der Beschwerdeführer muss geltend machen, in einem Grundrecht verletzt zu sein (§ 90 I BVerfGG). Dass auch ein Gericht ein Grundrecht verletzen kann, ergibt sich aus Art. 1 III GG, wenn dort bestimmt ist, dass Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden sind.
1. Welches Grundrecht des B möglicherweise verletzt ist, liegt nicht von vornherein auf der Hand. Art. 103 II GG (nulla poena sine lege) scheidet aus, weil es für die Verfolgung des B sowohl im italienischen als auch im deutschen Recht die erforderlichen Rechtsgrundlagen gibt. B macht geltend, er werde in Italien bestraft, ohne dass die dafür erforderlichen Voraussetzungen festgestellt wurden, insbesondere werde gegen den Grundsatz verstoßen, dass eine Bestrafung nicht erfolgen dürfe, ohne dass seine Schuld umfassend aufgeklärt worden ist. Ein den Grundsatz nulla poena sine culpa ausdrücklich absicherndes Grundrecht gibt es nicht. Da eine Bestrafung schwerwiegend in die Persönlichkeit eingreift, kommt in Betracht, dass dieser Grundsatz von Art. 1 I, 2 I GG erfasst wird. B kann somit geltend machen, er werde in seinen Grundrechten aus Art. 1 I, 2 I GG verletzt.
2. B muss auch geltend machen, dass der angegriffene Hoheitsakt, der Beschluss des OLG, das Grundrecht verletzt. Dem könnte entgegenstehen, dass der Beschluss den Europäischen Haftbefehl und damit einen auf EU-Recht gestützten Hoheitsakt vollzieht, dass sich diese Vollziehung lediglich nach EU-Recht und nicht nach deutschen Grundrechten richtet und deshalb auch nicht Gegenstand der Überprüfung durch eine VfB vor dem BVerfG sein kann. Ob und inwieweit Hoheitsakte, die europarechtlich determiniert sind, durch deutsche Grundrechte begrenzt werden und vom BVerfG überprüft werden können, ist das Hauptproblem dieses Falles. Es ist nicht Aufgabe der Zulässigkeitsprüfung der VfB, dieses Problem ganz oder teilweise zu behandeln. Vielmehr muss an dieser Selle die Feststellung genügen, dass eine Verletzung eines Grundrechts durch den Beschluss des OLG auch dann nicht ausgeschlossen ist, wenn der Beschluss EU-Recht vollzieht. B kann durch dahingehende Ausführungen geltend machen, dass aus seiner Sicht eine solche Verletzung erfolgt, was zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 90 I BVerfGG ausreicht (vgl. die Ausführungen des B im Originalfall unter [34]). Die eigentliche Prüfung dieser Frage erfolgt innerhalb der Begründetheit der VfB.
IV. Nach § 90 II 1 BVerfGG muss der Beschwerdeführer den Rechtsweg ausgeschöpft haben. Gegen einen Beschluss des OLG, wonach die Auslieferung zulässig ist, gibt es kein weiteres Rechtsmittel. Somit ist die Voraussetzung des § 90 II 1 BVerfGG erfüllt.
V. Es kann davon ausgegangen werden, dass B die formellen Voraussetzungen für die Erhebung der VfB beachtet (§ 23 BVerfGG: Schriftform; § 92 BVerfGG: Begründung). Auch die Monatsfrist (§ 93 I BVerfGG) kann eingehalten werden. Folglich ist die VfB zulässig.
B. Begründet ist die VfB, wenn der Beschluss des OLG ein Grundrecht des B verletzt.
I. Dann müssten Grundrechte des GG auf den Auslieferungsbeschluss des OLG anwendbar sein.
1. Der Auslieferungsbeschluss erfüllt die Verpflichtung aus Art. 1 II des EU- Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, der auf Art. 82 Abs. 1 UA II d AEUV gestützt ist. Diese Verpflichtung ist europäisches Recht, das in Deutschland gilt und Anwendungsvorrang gegenüber dem deutschen Recht hat, auch gegenüber deutschem Verfassungsrecht. Verdrängt aber der Rahmenbeschluss auch deutsche Grundrechte, sind diese grundsätzlich nicht anwendbar und können durch Vollziehung des Rahmenbeschlusses nicht verletzt werden. Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts hat deshalb auch zur Folge, dass nicht nur Akte der EU-Organe von der Überprüfung durch das BVerfG ausgenommen sind, sondern grundsätzlich auch Maßnahmen deutscher Stellen, soweit sie durch EU-Recht determiniert sind. Deutsches Recht bleibt aber anwendbar, soweit der Ausführungsakt durch EU-Recht nicht determiniert ist, sondern deutsche Stellen Spielraum haben. Im einzelnen dazu BVerfG [37-39]:
a) Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wirkt die Bundesrepublik Deutschland an der Gründung und Fortentwicklung der Europäischen Union mit. Für den Erfolg der Europäischen Union ist die einheitliche Geltung ihres Rechts von zentraler Bedeutung (vgl. BVerfGE 73, 339, 368; 123, 267, 399; 126, 286, 301 f.). Als Rechtsgemeinschaft von derzeit 28 Mitgliedstaaten könnte sie nicht bestehen, wenn die einheitliche Geltung und Wirksamkeit ihres Rechts nicht gewährleistet wäre (vgl. grundlegend EuGH, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1251, 1269 f.). Art. 23 Abs. 1 GG enthält insoweit auch ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das unionale Recht (…).
b) Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, billigt das Grundgesetz daher die im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen enthaltene Einräumung eines Anwendungsvorrangs zugunsten des Unionsrechts. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 129, 78, 100) und führt bei einer Kollision im konkreten Fall in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit (vgl. BVerfGE 126, 286, 301).
c) Auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG kann der Integrationsgesetzgeber nicht nur Organe und Stellen der Europäischen Union, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Grundrechte und andere Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen, sondern auch deutsche Stellen, die Recht der Europäischen Union vollziehen (…). Das gilt nicht zuletzt für die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene, wenn diese Sekundär- oder Tertiärrecht umsetzen, ohne dabei über einen Gestaltungsspielraum zu verfügen (vgl. BVerfGE 118, 79, 95; 122, 1, 20). Umgekehrt sind die bei Bestehen eines Gestaltungsspielraums zur Ausfüllung erlassenen Rechtsakte einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich (vgl. BVerfGE 122, 1, 20 f.; 129, 78, 90 f.).
d) BVerfG [77] Am Anwendungsvorrang des Unionsrechts nehmen auch Rahmenbeschlüsse teil.
Nach diesen Überlegungen sind deutsche Grundrechte auf den Auslieferungsbeschluss des OLG, der den Europäischen Haftbefehl im Fall des B vollzieht, nicht anwendbar.
2. Zu einem weniger strikten Vorrang des Unionsrechts vor deutschen Grundrechten könnte die Solange-Rechtsprechung des BVerfG (E 73, 339) führen. Danach wollte das BVerfG keine Überprüfung von EU-determinierten Rechtsakten anhand deutscher Grundrechte mehr vornehmen, solange die EU einen Grundrechtsschutz hat, der nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten ist ( dazu auch die Besprechung dieses Falles von Sauer NJW 2016, 1134). Der darin enthaltene Vorbehalt greift aber nur ein, wenn der Grundrechtsstandard der EU generell nicht ausreicht, und hat keine praktische Bedeutung mehr, seitdem die EU in Art. 6 EUV und der Grundrechte-Charta einen eigenen Grundrechtskatalog hat. Allerdings zeigt der vorliegende Fall, dass die EU-Grundrechte nicht alle regelungsbedürftigen Fälle abdecken und dass insbesondere die Durchsetzbarkeit der EU-Grundrechte, da das EU-Recht keine EU-VfB kennt, dem Standard des deutschen Rechts nicht voll entspricht.
3. Nach neuerer, im vorliegenden Fall bestätigter Rechtsprechung gewährleistet das BVerfG einen unabdingbaren Mindeststandard an Rechtsschutz dadurch, dass es die Vorschriften des GG anwendet, die zur Verfassungsidentität gehören und nach Art. 23 I 3, 79 III GG auch im Verhältnis zur EU unantastbar sind. Gebildet wird die Verfassungsidentität des GG von Art. 79 III, Art. 1 und 20 GG. Die dadurch bewirkte Begrenzung des Anwendungsvorrangs wird EU-rechtlich abgesichert durch Art. 4 II EUV, wonach die EU die „nationale Identität“ der Mitgliedstaaten achtet, die in ihren „grundlegenden…verfassungsmäßigen Strukturen“ zum Ausdruck kommt.
BVerfG [42-46]:
a) Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge (vgl. BVerfGE 113, 273, 296; 123, 267, 348; 134, 366, 384 Rn. 27). Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts reicht also nur so weit, wie der die Hoheitsrechte übertragende deutsche Gesetzgeber dazu nach dem GG befugt ist.
b) Im Rahmen der Identitätskontrolle ist zu prüfen, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der Europäischen Union berührt werden (vgl. BVerfGE 123, 267, 344, 353 f.;…134, 366, 384 f. Rn. 27). Diese Prüfung kann - wie der Solange-Vorbehalt (…) oder die Ultra-vires-Kontrolle (…) - im Ergebnis dazu führen, dass Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden muss. Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG…, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem BVerfG vorbehalten bleibt (vgl. BVerfGE 123, 267, 354).… Mit der Identitätskontrolle kann das BVerfG auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) befasst werden (vgl. BVerfGE 123, 267, 354 f.).
c) Die Identitätskontrolle verstößt nicht gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Sinne von Art. 4 Abs. 3 EUV. Sie ist vielmehr in Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV der Sache nach angelegt… Eine substantielle Gefahr für die einheitliche Anwendung des Unionsrechts ergibt sich daraus nicht. Zum einen wird gerade im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Grundsätze des Art. 1 GG eine Verletzung schon deshalb nur selten vorkommen, weil Art. 6 EUV, die Charta der Grundrechte und die Rechtsprechung des EuGH in der Regel einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union gewährleisten (…). Zum anderen sind die dem BVerfG vorbehaltenen Kontrollbefugnisse zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben (…).
Somit ist im vorliegenden Fall das zur Verfassungsidentität Deutschlands gehörende Grundrecht des Art. 1 I GG anwendbar und kann dazu führen, dass das OLG im Fall des B nicht an den Europäischen Haftbefehl gebunden ist.
II. Die Auslieferung des B an Italien und die sich daran anschließende Fortsetzung des Strafverfahrens könnte gegen die Würde des Menschen (Art. 1 I GG) verstoßen.
1. Der durch die Würde des Menschen gewährte Schutz lässt sich nicht durch eine einfache Formel bestimmen, sondern muss durch Fallgruppen, insbesondere unter Heranziehung möglicher Verletzungsfälle konkretisiert werden. Im vorliegenden Fall geht es um die Bedingungen für eine schwerwiegende Bestrafung eines Menschen. BVerfG [53-58]:
a) Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz (BVerfGE 123, 267, 413; 133, 168, 197 Rn. 53). Dieser den gesamten Bereich staatlichen Strafens beherrschende Grundsatz ist in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert (vgl. BVerfGE 45, 187, 259 f.; 86, 288, 313;… 133, 168, 197 Rn. 53). Mit seiner Grundlage in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG gehört der Schuldgrundsatz zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist (vgl. BVerfGE 123, 267, 413). Er muss daher auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils gewahrt werden.
Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (nulla poena sine culpa) setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann. Dem Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten (…). Deshalb bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG auf dem Gebiet der Strafrechtspflege die Auffassung vom Wesen der Strafe und dem Verhältnis von Schuld und Sühne (…) sowie den Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt (…). Mit der Strafe wird dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen (…). Das damit verbundene Unwerturteil berührt den Betroffenen in seinem in der Menschenwürde wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch (…). Eine solche staatliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar (…).
b) Die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt, ist zentrales Anliegen des Strafprozesses… Dem Täter müssen Tat und Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden (…). Bis zum Nachweis der Schuld wird seine Unschuld vermutet (… st. Rspr.)… Dies setzt grundsätzlich voraus, dass das Gericht in der öffentlichen Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten einen Einblick in seine Persönlichkeit, seine Beweggründe, seine Sicht der Tat, des Opfers und der Tatumstände erhält. Jedenfalls muss für den Angeklagten das Recht gewährleistet sein, insbesondere rechtfertigende, entschuldigende oder strafmildernde Umstände dem Gericht persönlich, im Gegenüber von Angeklagtem und Richter, darzulegen.
2. Diese Überlegungen lassen sich nicht ohne weiteres auf den Auslieferungsbeschluss des OLG anwenden, weil dieser Beschluss keine Bestrafung vornimmt. Sie dürfen aber auch nicht unberücksichtigt bleiben, weil der Beschluss den Weg dafür eröffnet, dass in Italien ein in Abwesenheit des B ergangenes Urteil vollstreckt werden soll.
a) Einerseits trägt das OLG grundsätzlich keine Verantwortung dafür, dass der Strafprozess in Italien fehlerfrei abläuft. BVerfG [62-67] Vielmehr gilt im europäischen Auslieferungsverkehr der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.
b) Andererseits darf die deutsche Hoheitsgewalt die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen… Die zuständigen Auslieferungsgerichte tragen insoweit auch für die Behandlung des Verfolgten im ersuchenden Staat Verantwortung.… Das über die Auslieferung entscheidende Gericht trifft deshalb eine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts, die ebenfalls dem Schutz von Art. 1 Abs. 1 GG unterfällt… Zu dem von den deutschen Gerichten zu ermittelnden Sachverhalt gehört insbesondere die Behandlung, die der Verfolgte im ersuchenden Staat zu erwarten hat.
[75] Stellt sich nach Abschluss der Ermittlungen heraus, dass der vom Grundgesetz geforderte Mindeststandard vom ersuchenden Mitgliedstaat nicht eingehalten wird, darf das zuständige Gericht die Auslieferung nicht für zulässig erklären.
c) Welchen Mindeststandard der Betroffene erwarten darf, ergibt sich aus den Überlegungen oben II 1 b). Es muss gewährleistet sein, dass über seine Schuld durch eine Beweisaufnahme entschieden wird, und er muss entlastende Umstände dem Gericht persönlich darlegen können. Es ist zu prüfen, ob dieser Mindeststandard beim Beschluss des OLG gewahrt wurde.
Das OLG hatte davon auszugehen, dass B an der ersten Verhandlung vor dem Strafgericht in Florenz nicht teilgenommen hatte, ohne dass ihm das vorgeworfen werden kann. Für das weitere Verfahren hat B dargelegt, dass er lediglich ein Berufungsverfahren erreichen könne; das wurde von der italienischen Staatsanwaltschaft bestätigt. B hat weiterhin vorgetragen, dass in der Berufungsinstanz nach Aktenlage und ohne Beweisaufnahme entschieden werden könne. Diesen Vortrag haben die italienische Behörde und das OLG nicht widerlegt. Ihre Feststellung, in der Berufungsinstanz sei eine erneute Beweisaufnahme möglich, reicht dafür nicht aus. Folglich ist weder eine Beweisaufnahme gewährleistet noch die Möglichkeit des B, dem Gericht die für ihn sprechenden Umstände vorzutragen.
BVerfG [116, 119, 120] Das Vorbringen des B lässt befürchten, dass ihm die Möglichkeit, eine erneute Beweisaufnahme im Berufungsverfahren zu erwirken, nach italienischem Recht nicht sicher eröffnet ist… Den substanziierten und plausiblen Einwänden des B hätte das OLG nachgehen müssen. Seine Ermittlungen stellen sich als unzureichend dar.
Das OLG versucht, die Bedenken des B mit dem Argument auszuräumen, es genüge, wenn im italienischen Berufungsverfahren in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung der Abwesenheitsverurteilung stattfinde, im Rahmen derer eine erneute Beweisaufnahme „jedenfalls nicht ausgeschlossen“ sei. Damit ist jedoch nicht sichergestellt, dass B tatsächlich eine Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung der Kenntnis von der Abwesenheitsverurteilung wirksam zu verteidigen, insbesondere entlastende Umstände vorzutragen und deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls Berücksichtigung zu erreichen.
Folglich ermöglicht der Beschluss des OLG eine Strafvollstreckung, der keine vom Schuldprinzip geforderte gerichtliche Verhandlung und Beweisaufnahme vorangegangen ist. Darin liegt ein Verstoß gegen das Schuldprinzip. Da das Schuldprinzip von der Gewährleistung der Menschenwürde umfasst wird, enthält der Auslieferungsbeschluss einen Verstoß gegen Art. 1 I GG. Das OLG war unter den hier gegebenen Umständen nicht an den Europäischen Haftbefehl gebunden; vielmehr war der dem Rahmenbeschluss und dem Haftbefehl grundsätzlich zukommende Anwendungsvorrang durch die Begrenzungswirkung des Art. 1 I GG entfallen.
3. Das BVerfG führt unter [84] zusätzlich aus, einer Begrenzung des dem Rahmenbeschluss zukommenden Anwendungsvorrangs habe es nicht bedurft, weil sowohl der Rahmenbeschluss selbst als auch das diesen umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen eine Auslegung gebieten, die den von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten bei einer Auslieferung Rechnung trägt. Insofern genügen die einschlägigen Vorgaben des Unionsrechts den durch das Grundgesetz zur Absicherung des integrationsfesten Schuldprinzips gebotenen Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten. (wird unter [85-108] näher ausgeführt)
In welchem Verhältnis diese zusätzlichen Überlegungen zu den vorangegangenen Ausführungen stehen, wird nicht klar. Zunächst stehen sie im Widerspruch zu den Ausführungen des BVerfG unter [36, 52, 76], wonach die Entscheidung des OLG, soweit es das EU-Recht betrifft, durch dieses determiniert war. Weiterhin fehlt es, wenn man den zusätzlichen Ausführungen folgt, an einer Kollision zwischen EU-Recht und deutschem Recht, so dass die grundsätzlichen Überlegungen zum Anwendungsvorrang des EU-Rechts und dessen Begrenzung durch Art. 1 I GG als überflüssig erscheinen (Sauer NJW 2016, 1135). Sachs JuS 2016, 373, 375, in einer Besprechung der Entscheidung des BVerfG, spricht das Problem an und bezeichnet die zusätzlichen Ausführungen als „Kehrtwende, die allerdings dann doch folgenlos bleibt“.
Nach dem hier zur Bearbeitung gestellten Sachverhalt bestand keine Veranlassung dazu, näher auf den Rahmenbeschluss und das IRG einzugehen. Gegen ein solches Eingehen spricht auch, dass es sich um eine Urteils-VfB handelt, bei der das BVerfG nur spezifische Verfassungsverletzungen prüft, wobei weder der Rahmenbeschluss noch das IRG spezifisches deutsches Verfassungsrecht sind. Der hier vorgeschlagene Lösungsweg ergibt sich also aus den Ausführungen unter A, B bis II 2 und ohne die unter 3. wiedergegebenen Ausführungen des BVerfG.
III: Abschließend führt das BVerfG unter [125] noch aus: Einer Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 AEUV bedarf es nicht. Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt („acte clair“, vgl. EuGH, Slg. 1982, S. 3415, Rn. 16 ff.). Das Unionsrecht gerät mit dem Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG im vorliegenden Fall nicht in Konflikt. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, wie dargelegt, deutsche Gerichte und Behörden nicht, einen Europäischen Haftbefehl ohne Prüfung auf seine Vereinbarkeit mit den aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Anforderungen zu vollstrecken… Jedenfalls im hier zu entscheidenden Fall ist kein Anhaltspunkt erkennbar, dass Unionsrecht einer Pflicht des OLG, die Wahrung der Rechte des B eingehender zu prüfen, entgegen stand.
Ergebnis: Die VfB des B ist begründet. Demgemäß lautet der Tenor der Entscheidung des BVerfG (vgl. § 95 II BVerfGG): Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 7. November 2014 - 3 Ausl 108/14 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit er die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt; er wird in diesem Umfang aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.
Zusammenfassung