Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte mit Doppelwirkung, §§ 80 I 2, 80a, 80 V VwGO. Antrag auf Sofortvollzug eines belastenden VA mit begünstigender Doppel- bzw. Drittwirkung, §§ 80a II, III VwGO; Prüfungsmaßstab. Anspruch auf behördliches Einschreiten gegen Geruchsimmissionen

OVG Lüneburg Beschluss vom 13. 11. 2006 (1 ME 166/06) NVwZ 2007, 478

Fall (Nachbarn gegen Rinderhaltung)

Bauer B betreibt in seinem landwirtschaftlichen Betrieb eine Rindermast. Gebäude und Betrieb liegen im Außenbereich und sind baurechtlich genehmigt. Die Baugenehmigung enthält den Hinweis, dass B beabsichtigt, in der Mastanlage 260 Rinder zu halten. Inzwischen hat B die Zahl der Rinder auf etwa 500 erhöht. Die Anlieger A1 und A2 (= A) besitzen Wohnhäuser in einer Entfernung von 330 und 500 m; A nutzt einen Teil seines Hauses als Pension. Sie wenden sich gegen die Gerüche, die von den Rindern, dem für sie bereitgehaltenen Futter und der anfallenden Gülle ausgehen, wobei aber die Beurteilungen von A und B, über welchen Zeitraum und in welchem Ausmaß die Gerüche stören, weit auseinandergehen.

A verlangten von der zuständigen Immissionsschutzbehörde (I-Behörde) ein Einschreiten und erhoben schließlich verwaltungsgerichtliche Klage gegen die I-Behörde, die zur Zeit ruht. Nach Klageerhebung erließ die I-Behörde am 2. 1. eine Verfügung gegen B, in der ihm die Rückführung der Zahl der gehaltenen Rinder auf 260 aufgegeben wurde und deren sofortige Vollziehung angeordnet wurde. Nachdem B hiergegen verwaltungsgerichtliche Klage erhoben und außerdem mit Schadensersatzansprüchen gedroht hatte, hob die I-Behörde am 20. 2. die Anordnung der sofortigen Vollziehung wieder auf und begründete das damit, es spreche viel dafür, dass B bis zu 500 Rinder halten könne; auch habe die Landwirtschaftskammer erklärt, die Güllewirtschaft des B entspreche den Vorschriften. A wollen die Aufhebung vom 20. 2. nicht hinnehmen, sondern dagegen den Rechtsweg beschreiten. Sie bitten um ein Gutachten, was sie unternehmen können und welche Aussichten auf Erfolg bestehen.

A. Zulässigkeit eines gerichtlichen Rechtsbehelfs

 I. Zulässiger Rechtsweg könnte der Verwaltungsrechtsweg (§ 40 I VwGO) sein. Die von A anhängig zu machende Streitigkeit betrifft zwar nicht unmittelbar die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung vom 2. 1., sondern nur deren, am 2. 1. angeordneten und von der Verfügung am 20. 2. wieder ausgesetzten Vollzug. Die Frage des Vollzuges einer Grundverfügung hängt aber untrennbar mit der Grundverfügung selbst zusammen und richtet sich deshalb ebenso wie die Grundverfügung nach öffentlichem Recht. Es liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor, die keinem anderen Gericht zugewiesen ist und für die der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 I VwGO gegeben ist.

II. Es ist die zulässige Verfahrensart zu bestimmen.

1. Die Streitigkeit um den Vollzug einer (Grund-)Verfügung ist keine Streitigkeit im Hauptsacheverfahren, sondern ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes. (Streitigkeit im Hauptsacheverfahren sind die von A und B erhobenen Klagen, in denen es primär um die Rechtmäßigkeit der am 2. 1. erlassenen Grundverfügung geht.) Beim verwaltungsgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutz gibt es zwei Verfahrensarten: die im wesentlichen die Aussetzung des Vollzugs betreffenden „Fälle der §§ 80 und 80a“ (so die Formulierung in § 123 V VwGO) und die einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO. Vorrang haben nach § 123 V die §§ 80, 80a. Im vorliegenden Fall erstreben A den Fortbestand der Anordnung des sofortigen Vollzugs, die in § 80 II Nr. 4 geregelt ist. Somit liegt zumindest ein Fall des § 80 vor. Eine einstweilige Anordnung scheidet aus, es kommt nur ein Verfahren nach §§ 80, 80a in Betracht.

2. Bei der Einordnung eines Verfahrens in §§ 80, 80a in derartigen Fällen ist wie folgt vorzugehen:

(1) Normaler VA im zweipoligen Verhältnis oder VA mit Doppelwirkung ?

Zunächst ist zu prüfen, ob es um den Vollzug eines normalen VA zwischen Bürger und Behörde geht (dann nur § 80) oder um den Vollzug eines VA mit Doppelwirkung i. S. des § 80 I 2 (dann §§ 80a, 80 V). Im vorliegenden Fall wurde am 2. 1. ein VA erlassen, der den einen Beteiligten begünstigt (A) und einen anderen belastet (B). Es handelt sich um einen VA mit Doppelwirkung. Folglich richtet sich der Rechtsschutz primär nach § 80a.

(2) Gericht oder Behörde ?

Zwar wird im vorliegenden Fall gerichtlicher Rechtsschutz geprüft, den das Gesetz in § 80a Abs. 3 behandelt. Dieser knüpft aber an das in § 80a Abs. 1 und 2 geregelte Verfahren bei der Behörde an. Dem entspricht, dass die Behörde im gerichtlichen Verfahren Antragsgegner ist. Somit ist zunächst zu prüfen, wie der Fall nach § 80a Abs. 1 und 2 im Verfahren vor der Behörde zu behandeln ist.

(3) § 80a Abs. 1 oder 2 ?

Im Verfahren vor der Behörde ist zwischen den in § 80a Abs. 1 und Abs. 2 geregelten Fällen zu unterscheiden.

(a) § 80a Abs. 1 behandelt den VA, der den Adressaten begünstigt und einen Dritten belastet (VA mit drittbelastender Doppelwirkung), und unterscheidet wiederum danach, ob ein eingelegter Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat (dann Nr. 1) oder ob das (wie z. B. nach § 212a BauGB bei Baugenehmigungen) nicht der Fall ist (dann Nr. 2).

(b) Im vorliegenden Fall greift Abs. 2 ein, der einen VA betrifft, der den Adressaten (hier B) belastet und einen Dritten (hier A) begünstigt. Zwar handelt es sich hier nicht um den Normalfall des § 80 II, III, in dem die Behörde nach Erhebung eines Rechtsbehelfs durch den VA-Adressaten die Anordnung der sofortigen Vollziehung abgelehnt hat und der Dritte hiergegen um gerichtlichen Rechtsschutz nachsucht. Vielmehr hat die I-Behörde zunächst von sich aus den Sofortvollzug angeordnet, diese Anordnung aber nach der Klage des Adressaten B aufgehoben, was ebenfalls vom Wortlaut und Sinn des § 80a II, III erfasst wird.

(4) Übertragung auf das gerichtliche Verfahren

Nach § 80a III 1 kann das VG u. a. eine Maßnahme nach dem Abs. 2 „treffen“. Folglich können A beim VG den Antrag stellen, das VG möge die sofortige Vollziehung der Verfügung vom 2. 1. (wieder) anordnen. OVG Lüneburg S. 478: Der Eilantrag ist nach § 80a II VwGO grundsätzlich statthaft. Diese Vorschrift erfasst die…Sachlage, in der die Behörde eine Verfügung erlässt, die den Adressaten zum Vorteil eines bestimmten Dritten belastet. Wird die Vollziehung dieses Bescheides durch die Suspensivwirkung des/eines vom Adressaten dagegen eingelegten Rechtsbehelfs gehemmt, kann der Dritte auf der Grundlage dieser Vorschrift versuchen, einstweilig deren Durchsetzung zu erwirken. Versagt sich die Behörde einem mit dieser Zielrichtung gestellten, nach dem Wortlaut des § 80a II VwGO erforderlichen Antrag des Begünstigten, kann dieser gem. § 80a III 1VwGO das Gericht mit dem Ziel anrufen, eine solche Anordnung zu treffen.

(Zu den verschiedenen Fällen des § 80a auch Budroweit/Wuttke JuS 2006, 876, speziell S. 879 unter III.)

III. Ob der Antragsteller vor dem Verfahren nach §§ 80a III, II einen Antrag bei der Behörde stellen muss (so OVG Lüneburg S. 478 unter Hinweis auf §§ 80a III 2, 80 VI) oder ob der Antrag beim VG auch ohne vorangegangenen Antrag bei der Behörde zulässig ist (so die h. M., Nachw. bei Budroweit/Wuttke JuS 2006, 880 unter b und Fn. 9), kann hier offen bleiben. Denn A haben sich als erstes an die I-Behörde gewandt. Wenn diese nach Erlass der Anordnung auf Sofortvollzug die Anordnung wieder aufgehoben hat, bedarf es keines weiteren Antrages der A. OVG S. 478: Denn der Ag. hatte gleich durch zwei Entscheidungen verdeutlicht, wie er sich hinsichtlich der Frage verhalten wolle, ob der Beigel. die Zahl seiner Tiere schon vor Bestandskraft der Verfügung vom 2. 1. zu reduzieren habe. Sinn und Zweck des durch § 80 VI VwGO angeordneten Zwischenverfahrens, die (Bauaufsichts-)Behörde vor Anrufung des VG und zu dessen Entlastung über die sofortige Vollziehbarkeit voniihr angeordneter Maßnahmen befinden zu lassen, ist damit erfüllt.

IV. Antragsgegner ist die I-Behörde (bei Anwendbarkeit des § 78 I Nr. 2 VwGO) oder der hinter ihr stehende Verwaltungsträger (bei Anwendbarkeit des § 78 I Nr. 1; bei einer staatlichen Behörde also das Land).

V. Weitere Zulässigkeitsbedenken sind nicht ersichtlich. Ein an das örtlich zuständige VG gerichteter Antrag auf (erneute) Anordnung des Sofortvollzuges der Verfügung vom 2. 1. wäre zulässig.

B. Begründetheit des Antrags

 I. Die Prüfung der Begründetheit hat davon auszugehen, dass § 80a III 2 VwGO auf § 80 V VwGO verweist.

1. Es gelten also die Grundregeln des Vollzugsaussetzungsverfahrens nach § 80 V, aber nur „entsprechend“, so dass die unterschiedliche Interessenlage zu berücksichtigen ist. Deren Besonderheit besteht darin, dass die Antragsteller im vorliegenden Fall nicht, wie im Normalfall des § 80 V, Aussetzung des Vollzugs durch Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs verlangen, sondern dass ihr Antrag - umgekehrt - auf Herbeiführung des Vollzugs gerichtet ist.

2. Ausgangspunkt ist auch hier eine Interessenabwägung, die wesentlich von der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns abhängt. Während aber im Normalfall des § 80 V die Rechtswidrigkeit des VA zur Begründetheit des Antrags führt, ist erste Voraussetzung im vorliegenden Fall der §§ 80a III, II, 80 V die Rechtmäßigkeit des VA. OVG S. 478: Erforderlich ist eine Vorausbeurteilung der materiellen Rechtslage. Unter dem Aspekt der Entscheidung in der Hauptsache lässt sich das auch so darstellen: Im Normalfall des § 80 V muss die Anfechtungsklage voraussichtlich begründet sein, im vorliegenden Fall eine Verpflichtungsklage auf Einschreiten. Bei einer Verpflichtungsklage ist zwar notwendig, dass der begehrte VA rechtmäßig ist, hinzukommen muss aber, dass der Kläger auch in seinem Recht auf Erlass dieses VA verletzt ist. Das gilt auch für den hier in Rede stehenden vorläufigen Rechtsschutz. OVG S. 479: Klage und Eilantrag können daher nur in dem Maße Erfolg haben, wie die Ast. kraft eigenen öffentlichen Baurechts verlangen können, dass die getroffene Maßnahme aufrechterhalten bleibt… Ausschlaggebend ist mithin, ob das öffentliche Baurecht den Ast. einen Anspruch auf Einschreiten zumindest des Inhalts vermittelt, dass die Verfügung vom 2. 1. aufrechterhalten wird. Im Eilverfahren hinzukommen muss im Falle, dass die Befolgung der Verfügung zu endgültigen, irreparablen Folgen zu führen vermag, ob diese wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls verantwortet werden können.

3. Begründetheitsvoraussetzungen für einen Antrag auf Herbeiführung des Vollzugs durch Anordnung des Sofortvollzugs (§§ 80a III, II, 80 V) sind somit: · die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung; · ein Anspruch auf Einschreiten durch Erlass einer Grundverfügung oder im vorliegenden Fall zumindest auf Aufrechterhalten der Grundverfügung; · ein überwiegendes Interesse des Antragstellers am Sofortvollzug (§ 80 II Nr. 4 VwGO: „im überwiegenden Interesse eines Beteiligten“).

II. Ob die Verfügung vom 2. 1. rechtmäßig war, lässt sich nicht beurteilen.

1. Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit wäre, dass eine Rechtsvorschrift eingreift, nach der B in seinem Betrieb nicht mehr als 260 Rinder halten darf. Vorschriften über Obergrenzen für den zu haltenden Rinderbestand hängen von der Größe des Betriebs, von den baulichen und technischen Einrichtungen sowie von der Möglichkeit ab, die anfallende Gülle zu lagern und zu entsorgen. Diese Umstände lassen sich anhand des Sachverhalts nicht sicher feststellen. Die im Zusammenhang mit der Baugenehmigung erwähnte Beschränkung auf 260 Tiere wird nur als „Hinweis“ auf eine „Absicht“ bezeichnet, ist also offenbar keine verbindliche Auflage oder sonstige Regelung.

2. Allerdings ist beim vorläufigen Rechtsschutz die Rechtmäßigkeit des VA nur ein - wenn auch ganz wichtiges - Element der Interessenabwägung. Es kann hinter andere Elemente zurücktreten. Im vorliegenden Fall ist ein weiteres wichtiges Element, ob A im Falle der Rechtmäßigkeit des Einschreitens einen Anspruch auf Einschreiten haben, weil sie durch die von der Rinderhaltung ausgehenden Immissionen mehr als unerheblich betroffen sind.

III. Auch die für einen Anspruch der A erforderliche Betroffenheit lässt sich ohne sachverständige Beurteilung nicht sicher feststellen. Allerdings genügt beim vorläufigen Rechtsschutz eine summarische Betrachtung. Hierfür könnten die Angaben im Sachverhalt ausreichen.

1. Zunächst stellt sich die Frage, wie das Maß einer nicht mehr zu duldenden Geruchsbeeinträchtigung festgestellt wird. Es gibt hierzu verschiedene Vorschriften wie z. B. die TA Luft (= Technische Anleitung Luft); die Geruchsimmissionen-Richtlinie (GIRL) der Länder; die VDI-Richtlinien 3471 und 3472 (zu Tierimmissionen vgl. auch Scheidler DVBl 2007, 936 ff.). OVG Lüneburg S. 479: Bei der Beurteilung der Frage, ob die Haltung von Kühen und Rindern mit dem Schutzanspruch benachbarter Wohnnutzungen zu vereinbaren ist, orientiert sich der Senat in st. Rspr. (…) an den Ergebnissen der Geruchsfahnenbegehungen an Rinderställen, welche die Bayerische Landesanstalt für Landtechnik der Technischen Universität München…hat durch führen lassen und deren Ergebnisse im Juni 1999 als Gelbes Heft Nr. 63 der Landtechnischen Berichte aus Praxis und Forschung veröffentlicht wurden.

2. Als wesentliche Ergebnisse dieser Untersuchung hebt das OVG hervor: Die durchschnittliche Geruchsschwellenentfernung bei Kühen und Rindern ist bemerkenswert gering. Sie betrug selbst bei größeren Beständen…nur rund 30 m, teilweise auch weniger. Für die Klassierung „Stallgeruch deutlich wahrnehmbar“ wurden sogar Entfernungen von unter 10 m festgestellt…. Allerdings unterscheiden sich die Ergebnisse nach Art des Stalles. Bei Ställen, die keine Entlüftungsvorrichtungen aufweisen, sondern die frei belüftet werden, sind deutliche Gerüche in 90 % der Fälle bis zu einer Entfernung von 35 m wahrzunehmen, in keinem Fall jenseits einer Entfernung von 70 m.

 Danach kommt das OVG (auf S. 479 re. Sp. Mitte) zu dem Ergebnis, es spreche nichts für die Annahme, die Ast. würden infolge der angegriffenen Tierhaltung wesentlichen Geruchseinträgen ausgesetzt. Dafür ist die Entfernung zu groß. Diese beträgt hinsichtlich des Ast. zu 1 (etwa 330 m) rund das 4,7fache der Schwelle, jenseits dieser in 100 % der Fälle keine erheblichen Gerüche mehr wahrzunehmen waren (70 m); bei dem Ast. zu 2 (Abstand 500 m) ist es sogar gut das Siebenfache. Hinzu kommt, dass die Grundstücke der Ast. nur in geringerem Umfang Schutz gegen Geruchsbelästigungen beanspruchen können. Entgegen dem Eindruck, den ihre Verfahrensbevollmächtigten durch die Zitierung von § 34 BauGB zu erwecken suchen, liegen ihre Grundstücke gerade nicht im unverplanten Innen-, sondern eindeutig im Außenbereich…Als Außenbereichsbebauung haben die Ast. die Belästigungen hinzunehmen, die einem Misch- oder Dorfgebiet entsprechen…

Somit fehlt es an der für einen Anspruch auf Einschreiten erforderlichen Betroffenheit der A. Sie haben keinen Anspruch auf Aufrechterhaltung der Grundverfügung und damit erst recht keinen Anspruch auf deren sofortigen Vollzug. Ein Antrag der A im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wäre unbegründet.

Zusammenfassung