Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

► Verfassungsbeschwerde gegen ein Landesgesetz; Selbstbetroffenheit des Beschwerdeführers. ► Allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 I GG. ► Eingriff durch ein Gesetz, von dem der Beschwerdeführer nur mittelbar betroffen ist. ► Rechtfertigung eines Eingriffs in die Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) und die Berufsfreiheit (Art. 12 I GG). ► Schutz der Sonntagsruhe, Art. 140 GG, 139 WRV

BerlVerfGH Beschluss vom 1. 4. 2008 (VerfGH 120/07) NVwZ 2008, 1005

Fall (Shoppen auch am Sonntag - Berliner Ladenöffnungsgesetz)

Vorbemerkung: Die hier behandelte Entscheidung stützt sich auf gesetzliche Vorschriften des Berliner Landesrechts, insbesondere auf die Grundrechte der Berliner Landesverfassung. Diese haben aber den gleichen Inhalt wie die entsprechenden Vorschriften des Bundesrechts und anderer Landesverfassungen, so dass die Ausführungen des BerlVerfGH übergreifende Bedeutung haben. Deshalb wird der Fall wie folgt gefasst, wobei auch die Zitate aus der Entscheidung angepasst werden.

Das Bundesland L hat ein neues Ladenöffnungsgesetz (LadÖffG) erlassen. Danach dürfen die Geschäfte von Montag bis Sonnabend unbegrenzt (von 0 bis 24 Uhr) geöffnet haben. § 3 LadÖffG bestimmt, dass Verkaufsstellen an Sonntagen und Feiertagen geschlossen sein müssen. B ist von Beruf Fotolaborant und wohnt in einer Großstadt des Landes L. Er hat Verfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht mit der Begründung erhoben, er werde durch § 3 LadÖffG daran gehindert, seinen Tag frei zu gestalten und seine Besorgungen auch am Sonntag zu erledigen. Wie ist über die Verfassungsbeschwerde zu entscheiden ?

Hinweis für die Lösung: Die Verfassung des Landes L enthält dieselben Grundrechte wie das GG; auch entsprechen die Vorschriften des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof den Vorschriften des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Bei der Lösung des Falles sind deshalb das GG und das BVerfGG anzuwenden.

A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (VfB)

I. Angegriffener Hoheitsakt (§ 90 I BVerfGG) ist das LadÖffG des Landes L. Es handelt sich um ein Landesgesetz, das nach den Vorschriften des Landes L mit der VfB an das Landesverfassungsgericht angegriffen werden kann (im Originalfall: § 49 I BerlVerfGHG).

II. B muss behaupten, in einem Grundrecht verletzt zu sein (§ 90 I BVerfGG).

1. Vorschriften über Ladenschluss und Ladenöffnung betreffen in erster Linie die Berufsausübungsfreiheit der Geschäftsinhaber und sind deshalb an Art. 12 I GG zu messen. B ist jedoch nicht in seiner beruflichen Tätigkeit betroffen, so dass er sich auf Art. 12 I nicht berufen kann.

2. B macht geltend, er werde durch § 3 LadÖffG daran gehindert, seinen Tag frei zu gestalten und auch sonntags einzukaufen. Damit beruft er sich auf die durch Art. 2 I GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit und auf die Verletzung dieser Vorschrift.

III. Das Gebot vorheriger Rechtswegerschöpfung (§ 90 II BVerfGG) steht der Zulässigkeit der VfB nicht entgegen, weil es gegenüber formellen Gesetzen keinen Rechtsweg - außer der VfB - gibt (vgl. § 93 III BVerfGG). Auch der Grundsatz der Subsidiarität greift nicht ein, BerlVerfGH unter II 1b): Im Gegensatz zu Inhabern von Verkaufsstellen…steht dem Bf. keine Möglichkeit offen, mit seinem Anliegen vor der Anrufung des VerfGH zunächst die Fachgerichte zu befassen, um dort Rechtsschutz zu erlangen.

IV. Die VfB unmittelbar gegen ein Gesetz (oder eine andere Rechtsnorm) setzt zusätzlich voraus, dass der Beschwerdeführer von dem Gesetz selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist.

1. BerlVerfGH unter II 1a): Von einer Norm selbst betroffen ist derjenige, der ihrem Tatbestand und damit ihren Rechtsfolgen unterfällt… Der Bf. ist zwar nicht Adressat der von ihm angegriffenen Regelungen des Ladenöffnungsgesetzes. Das Gesetz richtet sich vielmehr an die Inhaber von Verkaufsstellen im Einzelhandel und enthält im einzelnen Maßgaben zu den Zeiträumen zulässiger Ladenöffnung. Die Einwirkung solcher Regelungen auf die Handlungsfreiheit des Bf. geht jedoch über eine bloße Reflexwirkung hinaus, da die an Ladeninhaber gerichteten Normen zwangsläufig die Kundschaft am Einkauf hindern und somit wie ein unmittelbar an diese gerichteter Gesetzesbefehl wirken (vgl. BVerfGE 13, 230 [232] zum Bundesgesetz über den Ladenschluss von 1956).

Es handelt sich um die gleiche Überlegung, mit der das BVerfG in der Entscheidung „Rauchverbot in Gaststätten“ (NJW 2008, 2409 = www.juratelegramm.de - ÖR - StaatsR - Art. 12 GG) unter Rdnr. 93, 94 die Betroffenheit der Gastwirte durch das an sich nur gegen die Gäste gerichtete Rauchverbot bejaht hat: Durch das an die Gäste gerichtete Rauchverbot wird dem Gaststättenbetreiber die Möglichkeit genommen, selbst darüber zu bestimmen, ob den Besuchern in seiner Gaststätte das Rauchen gestattet oder untersagt ist… Diese Beeinträchtigung der beruflichen Betätigung ist nicht ein bloßer Reflex des an die Raucher gerichteten Verbots, sondern stellt einen unmittelbaren Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Gaststättenbetreiber dar. Der Unterschied zwischen den beiden Fällen besteht lediglich darin, dass im Rauchverbotsfall das Verbot gegenüber den Kunden in deren Recht aus Art. 2 I eingriff und sich auf das Grundrecht der Gastwirte aus Art. 12 I auswirkte, während im vorliegenden Fall das Verbot gegenüber den Geschäftsinhabern in deren Recht aus Art. 12 I eingreift, während es sich gegenüber den Kunden als Eingriff in Art. 2 I auswirkt.

2. B ist auch gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Zur unmittelbaren Betroffenheit BerlVerfGH unter II 1a): Die Regelungen des Ladenschlusses wirken ohne einen vermittelnden Akt - insbesondere ohne einen Vollzugsakt des Exekutive - unmittelbar auf den Rechtskreis des Bf. ein (vgl. … BVerfGE NVwZ 1994, 889 [890]; BVerfGE 90, 128).

B. Begründetheit der VfB

B könnte in seinem Grundrecht aus Art. 2 I GG verletzt sein.

I. Dann müsste zunächst ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts vorliegen.

1. Zum Schutzbereich führt der BerlVerfGH unter II 2 a) aus: Art. 2 I GG gewährleistet die allgemeine Handlungsfreiheit in einem umfassenden Sinn (vgl.…BVerfGE 6, 32 [36], Elfes-Fall; 80, 137 [152 f.; st. Rspr.). Geschützt ist jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Entfaltung der Persönlichkeit zukommt (vgl. BVerfGE 54, 143 [146]). Zu ergänzen ist allerdings: Es fallen nur die Formen menschlichen Handelns unter Art. 2 I, die nicht durch ein anderes, „benanntes“ Freiheitsrecht (wie insbesondere Art. 4, 5, 12 GG) geschützt sind. Ein spezielles Grundrecht auf Freiheit des Einkaufens gibt es jedoch nicht. Deshalb schützt Art. 2 I die Entscheidung des B, sonntags einkaufen gehen zu wollen. Das Verhalten des B fällt somit unter den Schutzbereich des Art. 2 I.

2. Dass § 3 LadÖffG einen Eingriff gegenüber B enthält, ergibt sich aus den Ausführungen zur Selbstbetroffenheit des B oben A IV 1.

Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 I liegt somit vor.

II. Der Eingriff könnte aber gerechtfertigt sein.

1. Dann müsste eine Schranke des Grundrechts vorhanden sein, die Eingriffe gestattet. BerlVerfGH unter II 2 a): Schranken der grundrechtlichen Verbürgung ergeben sich nach dem Wortlaut des Art. 2 I GG insbesondere aus der verfassungsmäßigen (Rechts-)Ordnung. Darunter ist die Gesamtheit der Normen zu verstehen, die formell und materiell verfassungsmäßig sind, d. h. den Anforderungen der Bundes- und der Landesverfassung einschließlich ihrer Kompetenznormen genügen (vgl.…BVerfGE 6, 32 [37 f.]; 80, 137 [153]). Damit wird die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung als Gesetzesvorbehalt verstanden.

§ 3 LadÖffG ist ein Gesetz, das die Handlungsfreiheit beschränken kann, sofern es formell und materiell verfassungsmäßig ist.

2. Zur formellen Verfassungsmäßigkeit gehört, dass der das Gesetz erlassende Gesetzgeber über die Gesetzgebungszuständigkeit verfügt. Im vorliegenden Fall ergibt sich die Zuständigkeit des Landesgesetzgebers aus Art. 70 I GG. Seit der Föderalismusreform von 2006 hat der Bund keine Gesetzgebungszuständigkeit mehr für den Ladenschluss. Art. 74 I Nr. 11 GG, die Kompetenzvorschrift für das Recht der Wirtschaft, nimmt die Regelung des Ladenschlusses ausdrücklich von der konkurrierenden Bundeszuständigkeit aus (BerlVerfGH unter II 2b aa). Mangels einer Bundeszuständigkeit steht den Ländern die Gesetzgebungszuständigkeit für die Regelung der Ladenschluss- und -öffnungszeiten zu, also auch dem Land L.

3. In materieller Hinsicht muss § 3 LadÖffG mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein. BerlVerfGH unter II 2 a): Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass das gewählte Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet und erforderlich ist und dass der damit verbundene Eingriff in den grundrechtlichen Freiheitsanspruch des Bürgers nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Zweck steht (vgl. … BVerfGE 80, 137 [153]; 109, 279 [335 ff.] m. w. Nachw.).

a) Zunächst ist der von der Regelung verfolgte Zweck (= das Ziel der Regelung) zu ermitteln. Mit dem Ladenschluss an Sonn- und Feiertagen werden zwei Zwecke verfolgt:

(1) BerlVerfGH unter II 2 b bb): Das…Verbot der Öffnung von Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen …dient dem Zweck, den durch Art. 140 GG i. V. mit Art. 139 WRV [Weimarer Reichsverfassung] verfassungsrechtlich garantierten Schutz der Sonn- und Feiertage als „Tage der Arbeitsruhe“ und (nach Art. 139 WRV) „der seelischen Erhebung“ auf dem Gebiet des Ladenschlussrechts umzusetzen. Der Sonn- und Feiertagsschutz ist…nicht auf einen religiösen oder weltanschaulichen Sinngehalt beschränkt, sondern zielt in der säkularisierten Gesellschafts- und Staatsordnung auf ein Freihalten dieser Tage von „werktäglicher Geschäftigkeit“ (vgl.…BVerfGE 111, 10 [50 f.]; BVerwGE 90, 337 [344]).

(2) Der Ladenschluss dient aber auch dem Zweck, den Beschäftigten der Verkaufsstellen die Sonntage als freie Tage zu erhalten, denn andernfalls müssten aller Voraussicht nach Beschäftigte in größerem Umfang zur Arbeitsleistung an diesen Tagen herangezogen werden (BerlVerfGH unter II 2 b bb).

b) Diese Ziele lassen sich nur mit einem Gebot zum Ladenschluss an Sonn- und Feiertagen erreichen, so dass die Regelung in § 3 LadÖffG hierfür geeignet und erforderlich sind.

c) Bei der Frage der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i. e. S.) ist zwischen den Vor- und Nachteilen entsprechend dem Gewicht der dabei verfolgten Zwecke und der beeinträchtigten Interessen abzuwägen. Einerseits hat vor allem der Zweck, Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe zu schützen, hohes Gewicht, wie sich aus seiner Verankerung in der Verfassung ergibt. Die Arbeitsruhe an diesem Tag entspricht auch langer Tradition. Diese ist heute keineswegs überholt. Vielmehr soll der Sonntag weiterhin als Ausgleich für die ständig wachsenden Anforderungen in der Arbeitswelt zur Erholung, für die Gestaltung des Familienlebens, zur Pflege gesellschaftlicher, sportlicher kultureller und nicht zuletzt auch religiöser Aktivitäten zur Verfügung stehen (BerlVerfGH unter II 2 b bb). Auf der anderen Seite bedeutet es angesichts der Möglichkeit, während sechs Tagen in der Woche weitgehend unbeschränkt einkaufen zu können, eine geringe Belastung, darauf am siebten Tage verzichten zu müssen. Die Regelung ist deshalb nicht unangemessen. Sie ist insgesamt verhältnismäßig.

4. Zur materiellen Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gehört auch, dass es nicht gegen andere Grundrechte verstößt. Das gilt unabhängig davon, ob gerade der Beschwerdeführer sich auf dieses Grundrecht berufen kann. Deshalb wäre der Eingriff in die Handlungsfreiheit nicht gerechtfertigt, wenn § 3 LadÖffG gegen Art. 12 I GG verstoßen würde.

a) Das Gebot zum Ladenschluss an Sonn- und Feiertagen enthält einen Eingriff in Berufsausübungsfreiheit der Geschäftsinhaber.

b) Dieser ist aber gerechtfertigt. Art. 12 I 2 gestattet Beschränkungen durch Gesetz. Ein solches Gesetz ist § 3 LadÖffG. Es müsst auch verhältnismäßig sein (vgl. zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit BVerfG NJW 2008, 2409 „Rauchverbot in Gaststätten“ Rdnrn. 102 - 112 = www.juratelegramm.de - ÖR - StaatsR - Art. 12 GG). Bei der Frage der Verhältnismäßigkeit sind bei Art. 12 I dieselben Überlegungen anzustellen wie oben 3. im Rahmen des Art. 2 I. Auch die Berufsfreiheit der Geschäftsinhaber darf mit Rücksicht auf den Schutz des Sonntags als Tag der Arbeitsruhe, insbesondere auch für die Beschäftigten, eingeschränkt werden. Somit ist Art. 12 nicht verletzt.

5. § 3 LadÖffG ist folglich formell und materiell verfassungsmäßig. Der darin liegende Eingriff in die Handlungsfreiheit des B ist gerechtfertigt. Art. 2 I ist nicht verletzt. Die VfB ist unbegründet.


Zusammenfassung