Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Gleichheit der Wahl, Art. 38 I 1 GG; Zählwert und Erfolgswert. ► Mehrheits- und Verhältniswahl. ► Chancengleichheit der politischen Parteien, Art. 21 I GG. ► Abweichungen vom Erfolgswert einer Stimme
BVerfG Urteil vom 13. 2. 2008 (2 BvK 1/07) NVwZ 2008, 407
Fall (Fünf-Prozent-Klausel für Kommunalwahlen)
Die Landesverfassung des Landes L (im Originalfall: Schleswig-Holstein) enthält in Art. 3 I die Vorschrift: Der Rat der Gemeinde wird in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt (ebenso wie Art. 38 I 1, 28 I 2 GG). Die nähere Regelung enthält das Gemeinde- und Kreis-Wahlgesetz (GKWahlG, auch als Kommunalwahlgesetz bezeichnet). Danach haben die Wähler eine Stimme, mit der sie einen Direktkandidaten und eine Liste wählen. Über das Stärkeverhältnis der Parteien und Gruppen im Rat entscheidet letztlich das Verhältnis der für die Listen abgegebenen Stimmen; auf sie werden die erhaltenen Direktmandate angerechnet. Nach § 10 I GKWahlG erhalten nur solche Parteien Mandate aus der Liste, die mindestens 5 % der Stimmen auf sich vereinigt haben (ebenso wie in § 6 VI 1 Bundeswahlgesetz). Nach der Gemeindeordnung des Landes L wird der Bürgermeister von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt. Seine Amtszeit hängt nicht von der Wahlperiode des Rates ab.
Im Lande L gibt es kein Verfassungsgericht. Die Landesverfassung hat gemäß Art. 99 GG das Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung über Verfassungsstreitigkeiten auf Landesebene für zuständig erklärt. In einem in zulässiger Weise vor dem BVerfG anhängig gemachten Verfahren hat die P-Partei die Feststellung beantragt, dass § 10 I GKWahlG gegen Verfassungsrecht verstößt. Ist der Antrag begründet ?
Der Antrag ist begründet, wenn § 10 I GKWahlG gegen eine verfassungsrechtliche Vorschrift verstößt, wobei sich eine solche Vorschrift aus der Landesverfassung oder dem Grundgesetz ergeben kann.
A. Demzufolge bedarf es zunächst einer Bestimmung des Prüfungsmaßstabes.
I. Primär ist Prüfungsmaßstab Art. 3 I LaVerf, da § 10 I GKWahlG eine organisationsrechtliche Vorschrift für die Kommunen des Landes ist und deren Organisation - auch mangels einer Zuständigkeit des Bundes für das Kommunalrecht - sich nach Landes-(Verfassungs-)Recht richtet. Art. 3 I LaVerf hat aber denselben Inhalt wie Art. 38 I 1 GG. Deshalb kann im Folgenden auf diese Vorschrift und die dazu entwickelten Grundsätze abgestellt werden (BVerfG S. 408 unter II 1a). Als verletzter Teilaspekt des Art. 38 I 1 GG kommt hier die Gleichheit der Wahl (Wahlrechtsgleichheit) in Betracht.
1. Zur Bedeutung und zum Inhalt der Wahlrechtsgleichheit BVerfG S. 408:
a)Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger (vgl. BVerfGE 41, 399 [413]…99, 1 [13]). Die Gleichbehandlung aller Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechts ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung (…).
b) Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet, dass alle Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können. Er ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (vgl. BVerfGE 51, 222 [234]…85, 264 [315]).
c) Die Wahlgleichheit ist gewahrt, wenn jede Stimme denselben Zählwert und grundsätzlich auch den gleichen Erfolgswert hat. BVerfG: Aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben.
2. Allerdings lässt sich allein mit den fünf Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 I 1 noch keine Wahl durchführen, bei der eine große Zahl von Stimmen zu einer größeren Zahl von Mandaten führen muss. Hierfür bedarf es noch eines Wahlsystems. Wahlsysteme sind die Mehrheitswahl (Persönlichkeitswahl) oder die Verhältniswahl (Listenwahl). BVerfG: Die Wahlgleichheit wirkt sich im Mehrheitswahlsystem und im Verhältniswahlsystem jeweils unterschiedlich aus.
a) Dem Zweck der Mehrheitswahl entspricht es, dass nur die für den Mehrheitskandidaten abgegebenen Stimmen zur Mandatszuteilung führen. Die auf den Minderheitskandidaten entfallenden Stimmen bleiben hingegen bei der Vergabe der Mandate unberücksichtigt. Die Wahlgleichheit fordert hier über den gleichen Zählwert aller Stimmen hinaus nur, dass bei der Wahl alle Wähler auf der Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise und von daher mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können (BVerfGE 95, 335 [353]). Erforderlich sind also gleicher Zählwert und im übrigen Chancengleichheit.
b) Hingegen bedeutet Wahlgleichheit bei der Verhältniswahl, dass jeder Wähler mit seiner Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der Vertretung haben muss (vgl. BVerfGE 1, 208 [246 f.]; 16, 130 [139]; 95, 335 [353]). Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Zur Zählwertgleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu.
c) Für welches Wahlsystem sich der Verfassungs- oder Gesetzgeber entscheidet, ist ihm sowohl für die Bundestags-, als auch für die Landtags- und die Kommunalwahlen freigestellt. BVerfG: Die Landesverfassung schreibt für das Kommunalwahlrecht kein bestimmtes Wahlsystem vor. Der Gesetzgeber ist bei der Wahl zwischen der Mehrheits- und der Verhältniswahl grundsätzlich frei (vgl. BVerfGE 6, 104 [111]; Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: März 2007, Art. 38 Rn. 158…; a. A. Meyer, in: Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 45 Rn. 31). Gleichermaßen steht es dem Gesetzgeber zu, beide Wahlsysteme miteinander zu verbinden [so wie im BWahlG für die Bundestagswahlen und im Lande L für die Kommunalwahlen]. Der breite Entscheidungsspielraum, den Grundgesetz und Landesverfassung dem Gesetzgeber bei der Gestaltung des Wahlrechts einräumen, ist aber nicht unbeschränkt. Der Gesetzgeber ist vielmehr verpflichtet, das ausgewählte Wahlsystem ungeachtet verschiedener Ausgestaltungsmöglichkeiten in seinen Grundelementen folgerichtig zu gestalten, und er darf keine strukturwidrigen Elemente einführen (vgl. Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Aufl. 2002, § 1 Rn. 31).
II. Prüfungsmaßstab für § 10 I GKWahlG kann außerdem der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 I 1 GG sein.
1. BVerfG S. 409: Der Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber findet für die Parteien seine Grundlage in Art. 21 Abs. 1 GG. Beruht die Demokratie auf der freien Konkurrenz von Meinungen und Interessen, so müssen die Parteien und Gruppen, die sich die unterschiedlichen Meinungen zu eigen machen, unter den gleichen Bedingungen und mit den gleichen Chancen am politischen Wettbewerb teilnehmen können.
2. Inhaltlich verlangt der Grundsatz der Chancengleichheit, dass jeder Partei, jeder Wählergruppe und ihren Wahlbewerbern grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen folgt auf Landesebene aus ihrem in Art. 21 Abs. 1 GG umschriebenen verfassungsrechtlichen Status, der unmittelbar auch für die Länder gilt und Bestandteil der Landesverfassungen ist (…).
3. Auch die Anforderungen, die die Chancengleichheit der Parteien im Zusammenhang mit einer Wahl stellt, wird von dem geltenden Wahlsystem beeinflusst.
III. Somit sind Prüfungsmaßstab für § 10 I GKWahlG: Art. 38 I 1 GG und Art. 21 I GG mit den oben dargestellten Inhalten.
B. Bei der Frage der Verletzung dieser Verfassungsvorschriften können Art. 38 I 1 und Art. 21 I zusammen geprüft werden, weil sie beide Gleichheitsgebote sind und inhaltlich in engem Zusammenhang stehen. BVerfG S. 409: Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Deshalb ist in diesem Bereich - ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler - Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn zu fordern. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen (BVerfGE 85, 264 [297]). Eine strenge Prüfung ist insoweit auch deshalb erforderlich, weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die jeweilige parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird.
I. Wie ausgeführt, beeinflusst das Wahlsystem die konkreten Anforderungen an die Gleichbehandlung. BVerfG: Das Land L hat sich in seinem Gemeinde- und Kreiswahlgesetz auf ein Wahlsystem nach den Grundsätzen der Verhältniswahl festgelegt. Die…bestehende Möglichkeit der Erringung von Direktmandaten stellt keine Durchbrechung des Verhältniswahlsystems dar, weil die Wählerstimme zugleich als Votum für die Liste gilt und die Mandate unter Anrechnung der errungenen Direktsitze nach der Gesamtstimmenzahl verteilt werden. Mit der Entscheidung für das Verhältniswahlsystem ist der Gesetzgeber daran gebunden, sowohl die Zähl- als auch die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen sicherzustellen.
II. Eine Verletzung der Wahlgleichheit hat eine Ungleichbehandlung entweder beim Zählwert oder beim Erfolgswert zur Voraussetzung.
1. BVerfG S. 409: Die Fünf-Prozent-Sperrklausel in § 10 Abs. 1 GKWG bewirkt eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen. Während der Zählwert aller Wählerstimmen von der Fünf-Prozent-Sperrklausel unberührt bleibt, werden die Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts ungleich behandelt, je nachdem,
(1) ob die Stimme für eine Partei abgegeben wurde, die mehr als fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, oder
(2) für eine Partei, die an der Fünf-Prozent-Sperrklausel gescheitert ist.
Zu (1): Diejenigen Wählerstimmen, welche für Parteien abgegeben worden sind, die mehr als fünf Prozent der Stimmen erhalten haben, haben unmittelbaren Einfluss auf die Sitzverteilung nach dem Verhältnisausgleich. Zu (2): Dagegen bleiben diejenigen Wählerstimmen, die für Parteien abgegeben worden sind, die an der Sperrklausel gescheitert sind, ohne Erfolg. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel nimmt diesen Stimmen ihren Erfolgswert.
2. Zugleich wird durch die Fünf-Prozent-Sperrklausel das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 6, 104 [112]). Dabei handelt es sich nicht nur um eine unerhebliche und zu vernachlässigende Benachteiligung. Dies wird durch den Vortrag der Antragstellerin[Bündnis 90/Die GRÜNEN] bestätigt, die unter Vorlage der endgültigen Ergebnisse der Kommunalwahl…aus dem Jahr 2003 dargelegt hat, dass sie in verschiedenen Kreisen an der Fünf-Prozent-Sperrklausel gescheitert ist und damit nicht in gleicher Weise wie andere Parteien, die die Fünf-Prozent-Hürde überwunden hatten, an der Sitzverteilung teilnehmen konnte.
III. Die Ungleichbehandlung könnte aber gerechtfertigt sein.
1. Zu den hierfür geltenden Anforderungen wird von BVerfG S. 409 ausgeführt:
a) Der Grundsatz der Wahlgleichheit unterliegt ebenso wie der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien keinem absoluten Differenzierungsverbot. Jedoch ist bei der Prüfung, ob eine Differenzierung innerhalb der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt ist, grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 82, 322 [338]; 93, 373 [377]; 95, 408 [418]…). Das BVerfG geht hierbei seit jeher von dem Erfordernis eines „zwingenden Grundes“ aus (seit BVerfGE 1, 208 [248 f.]; vgl. auch BVerfGE 95, 408 [418]). Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellen muss, wie dies etwa in Fällen der Kollision des Grundsatzes der Wahlgleichheit mit den übrigen Wahlrechtsgrundsätzen oder anderen Grundrechten der Fall sein kann. Differenzierungen im Wahlrecht sind auch durch Gründe gerechtfertigt, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann (vgl. BVerfGE 95, 408 [418]). Es ist nicht erforderlich, dass die Verfassung diese Zwecke zu verwirklichen gebietet. Vielmehr genügen in diesem Zusammenhang auch „zureichende“, „aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebende Gründe“ (vgl. BVerfGE 1, 208 [248]; 6, 84 [92]; 95, 408 [418]). Hierzu zählt insbesondere die Verwirklichung der mit der Wahl verfolgten Ziele. Dazu gehörendie Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (BVerfGE 95, 408 [418]).
b) Differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich daher auch danach, mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird. Ebenso können gefestigte Rechtsüberzeugung und Rechtspraxis Beachtung finden.
2. Anschließend sucht das BVerfG auf S. 410 unter III nach zureichenden, sich aus der Natur des Sachbereichs „Wahl einer Volksvertretung“ ergebenden Gründen.
a) Die Fünf-Prozent-Sperrklausel kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie dem Zweck diene, verfassungsfeindliche oder (rechts-)extremistische Parteien von der Beteiligung an kommunalen Vertretungsorganen fernzuhalten. Die Bekämpfung politischer Parteien ist in diesem Zusammenhang ein sachfremdes Motiv. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel wirkt nicht nur gegen (unerwünschte) extremistische Parteien, sondern trifft alle Parteien gleichermaßen, ebenso wie kommunale Wählervereinigungen und Einzelbewerber. Für die Bekämpfung verfassungswidriger Parteien steht das Verfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG zur Verfügung. Diese Regelung verbietet zudem die staatliche Bekämpfung einer politischen Partei, solange das Bundesverfassungsgericht sie nicht durch Urteil für verfassungswidrig erklärt und aufgelöst hat (vgl. BVerfGE 111, 382 [410]).
b) Auch in der Sicherung der Gemeinwohlorientierung politischer Kräfte kann gegenwärtig kein zwingender Grund für die Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel für die Wahl der Kommunalvertretungen…gesehen werden. Der unbegrenzte Proporz erleichtert es im Rahmen des Verhältniswahlrechts zwar, dass auch solche kleinen Gruppen eine Vertretung erlangen, die nicht ein am Gesamtwohl orientiertes politisches Programm, sondern im Wesentlichen nur Partikularinteressen vertreten (vgl. BVerfGE 51, 222 [236])…Jedoch sind Kommunalverfassungsrecht und -wirklichkeit von dem Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Gemeindebürger geprägt. Auch wenn insbesondere in größeren Gemeinden und Kreisen die Willensbildung der Bürger überwiegend von den politischen Parteien geformt wird, so folgt doch aus der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, dass die Auslese der Kandidaten für die kommunalen Vertretungskörperschaften jedenfalls auch nach partikularen Zielen möglich sein muss und daher nicht ausschließlich den ihrem Wesen und ihrer Struktur nach in erster Linie am Staatsganzen orientierten politischen Parteien vorbehalten werden darf. Es muss auch ortsgebundenen, lediglich kommunale Interessen verfolgenden Wählergruppen (Rathausparteien oder Wählervereinigungen) das Wahlvorschlagsrecht und ihren Kandidaten eine chancengleiche Teilnahme an den Kommunalwahlen gewährleistet sein (BVerfGE 11, 266 [276]).
c) Möglicher Rechtfertigungsgrund kann aber sein, die Funktionsfähigkeit des maßgeblichen Leitungsorgans einer Körperschaft sicher zu stellen.
aa) BVerfG S. 410/411 unter 3: Als ein Grund, der Differenzierungen bei der Wahlrechtsgleichheit im System der Verhältniswahl rechtfertigt, ist in der Rspr. des BVerfG wiederholt die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung angesehen worden (vgl. etwa BVerfGE 1, 208 [247 f.]…82, 322 [338]). Für Wahlen zu gesetzgebenden Körperschaften hat das BVerfG ausgeführt, die Verhältniswahl könne dazu führen, dass im Parlament viele kleine Gruppen vertreten sind und hierdurch die Bildung einer stabilen Mehrheit erschwert oder verhindert wird. Würde der Grundsatz der getreuen Abbildung der politischen Meinungsschichtung in der Wählerschaft bis zur letzten Konsequenz durchgeführt, bestünde die Gefahr, dass die gesetzgebenden Körperschaften funktionsunfähig werden, insbesondere nicht mehr in der Lage sind, eine politisch aktionsfähige Regierung zu schaffen (vgl. BVerfGE 1, 208 [248]). Mit dieser Begründung hat das BVerfG die Fünf-Prozent-Klausel bei den Wahlen zum Bundestag, zu den Landtagen und zum Europaparlament gerechtfertigt.
bb) Zwar kommt auch im Kommunalwahlrecht die Wahrung der Funktionsfähigkeit des zu wählenden Organs als Rechtfertigungskriterium für Differenzierungen hinsichtlich der Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien grundsätzlich in Betracht… Jedoch ist zu berücksichtigen, dass Gemeindevertretungen und Kreistage nicht Parlamente im staatsrechtlichen Sinne sind (vgl. BVerfGE 65, 283 [289]; 78, 344 [348]…). Die Wahrnehmung der Aufgaben des örtlich beschränkten Wirkungsbereichs durch die kommunale Vertretungskörperschaft ist mit der Ausübung von Staatsgewalt durch die Parlamente nicht zu vergleichen. Die Gemeindevertretung ist ein Organ der Verwaltung, dem in erster Linie verwaltende Tätigkeiten anvertraut sind. Anders als staatliche Parlamente üben Gemeindevertretungen und Kreistage keine Gesetzgebungstätigkeit aus. Hieran ändern auch die kollegiale Struktur des Vertretungsorgans sowie die Befugnis zur Satzungsgebung nichts (…). Die kommunalen Vertretungsorgane haben auch keine Kreationsfunktion für ein der Regierung vergleichbares Gremium.
cc) Ob die Verwaltungsbefugnisse des Rates und ihre mögliche Gefährdung durch den Einzug von Splittergruppen in den Rat ein so hohes Gewicht haben, dass sie eine Fünf-Prozent-Klausel rechtfertigen, darf zunächst der Gesetzgeber beurteilen. Jedoch unterliegt diese Beurteilung einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle. BVerfG: Gerade bei der Wahlgesetzgebung besteht die Gefahr, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt (…). Die im Landesparlament vertretenen Parteien könnten an der Fünf-Prozent-Sperrklausel festhalten, um die Konkurrenz durch kleinere Parteien und kommunale Wählergemeinschaften möglichst klein zu halten (…).… Danach kann jedenfalls die allgemeine und abstrakte Behauptung, durch den Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien und Wählergemeinschaften in die kommunalen Vertretungsorgane erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesen Organen erschwert, einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit nicht rechtfertigen. Nur die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungsorgane kann die Fünf-Prozent-Sperrklausel rechtfertigen (…).
d) Dass eine relevante Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Gemeindeorgane im Lande L nicht vorliegt, stützt das BVerfG wesentlich darauf, dass im Lande L der Bürgermeisters unmittelbar durch das Volk gewählt wird. Damit ist gewährleistet, dass unabhängig von Entscheidungen des Rates stets eine stabile Gemeindeverwaltung vorhanden ist. S. 412: Mit der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister in hauptamtlich verwalteten Gemeinden sowie der Landräte ist das zentrale Element weggefallen, das bislang die Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklause…gestützt hat…Der hauptamtliche Bürgermeister und der Landrat sind seit der Einführung ihrer Direktwahl vom Vertrauen der Volksvertretung nicht mehr abhängig. Die unmittelbare Wahl durch das Volk sichert dem hauptamtlichen Bürgermeister und dem Landrat eine besondere institutionelle Unabhängigkeit…Die Direktwahl des Bürgermeisters garantiert bereits weitgehend eine funktionierende Gemeindeverwaltung unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in der Gemeindevertretung… Denn der Bürgermeister trägt in eigener Zuständigkeit die alleinige umfassende Verantwortung für die Leitung der Gemeindeverwaltung, für die sachliche und wirtschaftliche Erledigung der Aufgaben und für den Geschäftsgang der Verwaltung… Er hat die unentziehbare Zuständigkeit für Personalentscheidungen beamten-, arbeits- und tarifrechtlicher Art für die Dienstkräfte der Gemeinde. Für dringende Maßnahmen, die sofort ausgeführt werden müssen, hat der Bürgermeister ein Eilentscheidungsrecht.
e) Weiterhin drohen auch bei einer größeren Anzahl von Fraktionen oder Einzelvertretern in der Gemeindevertretung oder im Kreistag keine nachhaltigen Gefahren für die Fähigkeit der Kommunalvertretung, Beschlüsse zu fassen und Wahlen erfolgreich durchzuführen (wird näher ausgeführt).
3. Somit bestehen für das Kommunalwahlrecht keine hinreichend gewichtigen Gründe für das Abweichen vom Erfolgswert, den die einzelne Wählerstimme hat, durch eine Fünf-Prozent-Klausel. § 10 I GKWahlG des Landes L verletzt Art. 38 I 1 GG (genauer: Art. 3 I LaVerf) und Art. 21 I GG. Der Antrag der P-Partei ist begründet.
Zusammenfassung