Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Anschluss- und Benutzungszwang an gemeindliche Abwasserentsorgung. Benutzungsgebühren: Kostendeckungsprinzip, Wirklichkeitsmaßstab, Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Einheitlicher Frischwassermaßstab oder gesplittete Abwassergebühr

Fall
(Gemeindliches Regenwasser)

A. BayVerfGH vom 10. 11. 2008 (Vf. 4-VII-06) NVwZ 2009, 298 (unter Einbeziehung von OVG Münster NuR 2003, 501)

Nach § 9 der Gemeindeordnung des Landes L darf die Gemeinde Grundeigentümern bei öffentlichem Bedürfnis und aus Gründen des allgemeinen Wohls durch Satzung den Anschluss an die Wasserversorgung (Wasserleitung) und die Abwasserentsorgung (Kanalisation) sowie die Benutzung dieser Einrichtungen vorschreiben. In der Gemeinde G besteht die Abwasserentsorgung aus einem Kanalsystem für das Schmutzwasser und einem Kanalsystem für das Regenwasser (Niederschlagswasser), also nicht ein Mischsystem (nur ein Kanal), sondern ein Trennsystem. G hat eine Entwässerungssatzung (EWS) erlassen, durch die der Anschluss- und Benutzungszwang auch für das Niederschlagswasser angeordnet wurde (§ 5 EWS). Im Rahmen eines Rechtsstreits stellte sich die Frage, ob § 5 EWS rechtmäßig ist. Wie ist diese Frage zu entscheiden ?

B. OVG Münster vom 18. 12. 2007 (9 A 3648/04) DÖV 2008, 294

Nach § 6 EWS hat jeder, der an die gemeindliche Abwasserentsorgung angeschlossen ist, Abwassergebühren zu zahlen. Maßstab hierfür ist das bezogene Frischwasser („einheitlicher Frischwassermaßstab“). Die zu zahlenden Gebühren ergeben sich aus den Kosten sowohl für das Ableiten und Reinigen des Schmutzwasser als auch für das Sammeln und Ableiten des Regenwassers. Ist diese Regelung rechtmäßig ?

A. Lösung von Fallvariante A: Rechtmäßigkeit des § 5 EWS

Als untergesetzliche Rechtsnorm ist § 5 EWS nur rechtmäßig, wenn sie auf einer Ermächtigungsgrundlage beruht. Ermächtigungsgrundlage kann § 9 GO sein.

I. Dann müsste § 9 GO seinerseits verfassungsmäßig sein. Er könnte gegen das Grundrecht auf Schutz des Eigentums (Art. 14 GG) verstoßen, weil der Anschluss- und Benutzungszwang bei Eigentümern, die eine eigene Entwässerungsanlage haben - ebenso wie einen eigenen Brunnen - die Folge hat, dass sie diese Anlage nicht mehr benutzen dürfen und statt dessen die entsprechenden Leistungen gegen Gebühr von der Gemeinde beziehen müssen.

1. Hierfür ist zunächst der Inhalt des § 9 GO genauer zu bestimmen. BayVerfGH unter A 1:  Vor der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit einer abgeleitete Rechtsnorm ist deren Ermächtigungsgrundlage auszulegen und ihr Anwendungs- und Wirkungsbereich zu ermitteln.

a) Zunächst ist zu fragen, ob sich der Anschluss- und Benutzungszwang auch auf Regenwasser erstrecken darf. Beim Mischsystem ist das zwingend, weil hierbei nur ein Kanalsystem existiert und nur ein einziger Anschluss an dieses möglich ist. Beim Trennsystem ist diese Frage streitig.

(1) OVG Münster NuR 2003, 501 hat für das nordrhein-westfälische Landesrecht entschieden, dass sich der Anschluss- und Benutzungszwang nicht auf das Regenwasser erstreckt. Zwar wird auch in § 9 GO NRW ohne Einschränkung auf die „Kanalisation“ verwiesen. Jedoch schließt das OVG aus dem weiteren Text, der den Anschluss- und Benutzungszwang auch auf „ähnliche der Volksgesundheit dienende Einrichtungen“ erstreckt, dass auch die Kanalisation nur erfasst wird, soweit sie der Volksgesundheit dient. Das ist beim Schmutzwasser der Fall, weil bei dessen nicht ordnungsgemäßer Entsorgung Krankheitskeime verbreitet werden können und das für die Trinkwassergewinnung bestimmte Grundwasser gefährdet ist, was beides zu Gefahren für die Volksgesundheit führt. Beim Regenwasser ist das nicht der Fall (dazu auch noch unten b). Wird dieser Auffassung gefolgt, so scheidet § 9 GO als Ermächtigungsgrundlage für § 5 EWS aus. § 5 EWS ist dann rechtswidrig und nichtig.

(2) Demgegenüber entscheidet der BayVerfGH im vorliegenden Fall für das bayerische Recht, dass - auf Grund gefestigter Rspr. - die entsprechende Vorschrift der Bay GO (Art. 24 I Nr. 2) auch das Regenwasser erfasst. Dieses sei Abwasser und werde vom Anschluss- und Benutzungszwang nicht ausgenommen. Auf den Aspekt der Volksgesundheit, der auch in der GO Bay enthalten ist, geht der BayVerfGH nicht ein. Für die grundsätzliche Erstreckung des Anschluss- und Benutzungszwanges auf Regenwasser spricht auch, dass die Erfassung des Abwassers auch dem Hochwasserschutz dienen kann und eine geordnete Ableitung zu diesem Zweck gesichert sein muss.

b) Jedoch legt der BayVerfGH die gesetzliche Ermächtigung (nach obiger Aufgabenstellung: § 9 GO) einschränkend aus. S. 299:  Von Dach- und Terrassenflächen sowie privaten Hof- und Verkehrsflächen in Wohngebieten abfließendes Niederschlagswasser ist im allgemeinen nur gering belastet oder verschmutzt. Das Niederschlagswasser aus solchen Flächen kann, wie es dem natürlichen Wasserkreislauf entspricht, grundsätzlich auch dadurch schadlos und regelmäßig auch billiger beseitigt werden, dass es versickert oder in oberirdische Gewässer eingeleitet wird… Die Pflicht zur Einleitung von Niederschlagswasser in eine öffentliche Entwässerungsanlage bedarf daher… einer besonderen Rechtfertigung…

S. 300:  Die Einführung eines Anschluss- und Benutzungszwanges im Hinblick auf eine öffentliche Entwässerungseinrichtung verlangt deshalb…regelmäßig eine besondere wasserwirtschaftliche Rechtfertigung. Als solche Gründe kommen etwa in Betracht besondere Verhältnisse des Untergrunds, die Lage in städtischen Verdichtungsbereichen, der Schutz des Grundwassers, sonstiger Gewässer oder von Trinkwasserreservoiren…

2. Sowohl das OVG Münster als auch der BayVerfGH legen die Ermächtigung in der GO somit eng und begrenzt auf die Fälle aus, in denen ein Anschluss- und Benutzungszwang aus überwiegenden Gründen des öffentlichen Wohls geboten ist. Eine so ausgelegte gesetzliche Ermächtigung ist eine zulässige Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums (Art. 14 I 2, II GG) und ist insbesondere auch verhältnismäßig. Das entspricht, wie der BayVerfGH auf S. 300 unter cc) darlegt, auch ständiger Rechtsprechung.

II. Wird dem BayVerfGH gefolgt, so müssen die oben b) behandelten Voraussetzungen im Fall der EWS der Gemeinde G erfüllt sein. Das ließ sich im entschiedenen Fall nicht feststellen. Die Gemeinde G konnte lediglich für einen kleineren Ortsteil darlegen, dass kein versickerungsfähiger Bodenaufbau vorhanden ist, nicht aber für die anderen Ortsteile. Da § 5 EWS aber für die gesamte Gemeinde gilt, fehlt dessen Abstützung durch § 9 GO. § 5 EWS ist somit rechtswidrig und nichtig.

Somit ist § 5 EWS sowohl nach der Auffassung des OVG Münster - oben I 1 a (1) - als auch nach dem Lösungsweg des BayVerfGH - oben (2) und folgend - rechtswidrig und nichtig.

B. Lösung von Fallvariante B: Ist die Regelung der Abwassergebühren rechtmäßig ?

Die Gebührenregelung in § 6 EWS ist eine untergesetzliche, belastende Regelung, die einer gesetzlichen Ermächtigung bedarf. Ermächtigungsgrundlage ist die im Landes-Kommunalabgabengesetz enthaltene Regelung der Benutzungsgebühren, im Fall des OVG Münster: § 6 KAG NRW.

I. Danach muss zunächst die Benutzung einer gemeindlichen Einrichtung vorliegen. Im Fall des § 6 EWS wird die gemeindliche Kanalisation benutzt. Die Benutzung ist unabhängig davon, ob ein Benutzungszwang besteht und ob dieser rechtmäßig ist.

II. Die Gesamtsumme, die durch die Gebühren aufgebracht werden soll, ist begrenzt durch den Gesamtbetrag der anfallenden Kosten (Kostendeckungsprinzip, § 6 I 3 KAG NRW). Im vorliegenden Fall ergeben sich die zu zahlenden Gebühren aus den Kosten sowohl für das Ableiten und Reinigen des Schmutzwasser als auch für das Sammeln und Ableiten des Regenwassers. Dadurch wird dem Kostendeckungsprinzip Rechnung getragen, insbesondere wird keine Gewinnerzielung angestrebt.

III. Es muss ein gesetzmäßiger Maßstab für die Verteilung der Kosten auf die einzelnen Benutzer zur Anwendung kommen. Es handelt sich um den Maßstab für die Bemessung der Gebühren.

1. Grundsätzlich richtet sich die Gebührenbemessung nach dem Maß der Benutzung (§ 6 III 1 KAG, Wirklichkeitsmaßstab). Das würde beim Abwasser voraussetzen, dass Menge und Verschmutzung des Abwassers bei jedem Grundstücksanschluss gemessen werden. Das ist praktisch kaum möglich, zumindest unvertretbar aufwändig.

2. Ist die Berechnung nach dem Wirklichkeitsmaßstab besonders schwierig oder wirtschaftlich nicht vertretbar, kann ein Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt werden (§ 6 III 2 KAG). OVG S. 294:  Dieses ist bei Abwasserentsorgungsgebühren der Fall… Dabei muss für das Maß der Inanspruchnahme auf Bemessungsgrößen abgestellt werden, die sich jedenfalls nach einer pauschalierenden Betrachtungsweise des Zusammenhangs zwischen Höhe der Gebühr einerseits und dem Maß der Inanspruchnahme andererseits als noch plausibel rechtfertigen lassen uns als sachgerechte Differenzierungsmerkmale anerkannt werden können.

OVG DÖV 2008 S. 295:  Der einheitliche Frischwassermaßstab geht davon aus, dass zwischen dem Umfang der Inanspruchnahme der Abwasseranlage einerseits und dem Frischwasserverbrauch je angeschlossenem Grundstück [dieser wird gemessen] andererseits ein das Maß der Benutzung widerspiegelnder Zusammenhang besteht…

a) Dieser Zusammenhang besteht beim Schmutzwasser. OVG:  Es ist nämlich ohne weiteres nachzuvollziehen, dass die Menge des Frischwassers, die einem an die Abwasseranlage angeschlossenen Grundstück zugeführt wird, in etwa der anfallenden Abwassermenge entspricht.

b) Früher wurde das vielfach auch für das Niederschlagswasser angenommen. Dem hat das OVG jetzt eine Absage erteilt.  Der Frischwasserverbrauch ist keine geeignete Bemessungsgröße, die einen verlässlichen Rückschluss darauf erlaubt,  wie viel Niederschlagswasser von dem betreffenden Grundstück der öffentlichen Abwasseranlage zugeführt wird… Der Frischwasserverbrauch ist regelmäßig personen- und produktionsabhängig. Die Menge des eingeleiteten Niederschlagswassers hängt dagegen von Größen wie Topographie, Flächengröße, Oberflächengestaltung und der Menge des Niederschlags ab.  So verbraucht eine in einem kleineren Haus auf einem kleinen Grundstück wohnende Familie mit mehreren Kindern viel Frischwasser, es fällt aber wenig Regenwasser auf dem Grundstück an. Demgegenüber fällt bei einem Aldimarkt in einem Flachbau mit einem großen Parkplatz eine große Menge Regenwasser an, aber es wird wenig Frischwasser verbraucht. Der einheitliche Frischwassermaßstab würde deshalb die Familie erheblich benachteiligen, den Aldimarkt dagegen unvertretbar bevorzugen.

c) Der einheitliche Frischwassermaßstab ist auch nicht deshalb zulässig, weil es keine praktikable Alternative gibt. OVG (Originalurteil; in der DÖV nicht mit abgedruckt):  Insoweit steht es dem Beklagten frei, z. B. ohne großen finanziellen Aufwand im Rahmen einer Selbstveranlagung der Gebührenschuldner die an die Abwasseranlage angeschlossenen versiegelten Flächen zu ermitteln und sich auf eine stichprobenweise Überprüfung zu beschränken.  Bestehen Zweifel an der Richtigkeit der Angaben, kann eine Nachprüfung erfolgen.

d) Infolgedessen muss die Gemeinde zwischen den Gebühren für die Entsorgung des Schmutzwassers und denen des Regenwassers aufteilen; geboten ist eine „gesplittete“ Abwassergebühr.

3. Der einheitliche Frischwassermaßstab auch für Regenwasser verstößt somit gegen den für die Gebührenbemessung geltenden Maßstab und ist unzulässig. § 6 EWS ist rechtswidrig und nichtig.


Zusammenfassung
(für beide Fälle)