Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Eilrechtsschutz beim Verwaltungsakt mit Doppelwirkung, §§ 80a, 80 V VwGO; Rechtsstellung des durch den Verwaltungsakt begünstigten Adressaten. Voraussetzungen für eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung, §§ 5, 6 BImSchG. Planungsrechtliche Zulässigkeit einer Windenergieanlage, § 35 BauGB. Klagemöglichkeit einer Nachbargemeinde gegen Windräder

BayVGH
vom 31. 10. 2008 (22 CS 08.2369) NVwZ 2009, 338

Fall
(Nachbarn gegen WEA)

Die Stadt S hat in ihrem Flächennutzungsplan ein im Außenbereich gelegenes Sondergebiet „Windenergieanlagen“ (WEA) ausgewiesen. Dort hat die Fa. A ein größeres Grundstück erworben, wo sie vier Windkraftanlagen errichten will. Sie hat bei der zuständigen Kreisbehörde B die vorgeschriebene immissionsschutzrechtliche Genehmigung beantragt und erhalten.

Dagegen haben sechs Einwohner der Stadt S, deren Häuser und Wohnungen 2 km vom Bauplatz entfernt liegen (K1-6), Klage erhoben, ebenso die zwei angrenzenden Gemeinden G1 und G2. Die Kläger verweisen darauf, dass die WEA zwischen 150m und 180m hoch sind und von ihnen Störungen ausgingen. A hat ein nach der TA Lärm erstelltes Schallgutachten beigebracht, das zu dem Ergebnis kommt, dass der Lärm in einer Entfernung von 1km maximal 35 dB (A) beträgt. Nach Auffassung der Kläger ist die TA Lärm aber nur auf bodennahe, nicht auf hohe Schallquellen anwendbar. Auch seien die von den WEA ausgehenden Infraschallauswirkungen nicht berücksichtigt. Schließlich gingen von den Anlagen weitere Störungen aus: sie lägen in Hauptblickrichtung; nachts sehe man die Blinkfeuer an den Rotoren; im Winter könne es zu Eiswurf von der Anlage kommen. Die klagenden Gemeinden G1 und G2 beklagen darüber hinaus eine Störung des Orts- und Landschaftsbildes, des Natur- und Landschaftsschutzes und des Tourismus. Über die Klagen ist bisher nicht entschieden.

A will eine längere Verzögerung des Baues und der Inbetriebnahme der Anlagen, für die sie schon beträchtliche Vorleistungen erbracht hat, nicht hinnehmen und bittet um ein Gutachten über die Rechtslage.

A. Gutachtliche Überlegungen zum Auffinden des richtigen Rechtsbehelfs

I. Da die Fa. A die benötigte immissionsschutzrechtliche Genehmigung hat, darf sie zunächst einmal bauen.

II. Es könnte aber eine aufschiebende Wirkung der Klagen der K1-6, G1 und 2 dem Vorhaben entgegen stehen.

1. Nach § 80 I 1 VwGO haben die Anfechtungsklagen aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80 I 2). Die immissionsschutzrechtliche Genehmigung ist ein die Fa. A begünstigender und die klagenden K1-6 und G1,2 belastender VA, also ein VA mit Doppelwirkung (vgl. § 80 a I VwGO).

2. Nach § 212 a BauGB haben Widerspruch und Klage gegen die „bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens“ keine aufschiebende Wirkung. Die BImSchG-Genehmigung berechtigt zwar zum Bau der Anlage und umfasst damit die Baugenehmigung, geht aber über  deren Wirkung hinaus und ist keine (bloße) Baugenehmigung i. S. des § 212 a BauGB. Als Ausnahmevorschrift ist diese Vorschrift auch nicht analog anwendbar. Das BImSchG enthält keine dem § 212 a BauGB entsprechende Vorschrift. Somit entfällt die aufschiebende Wirkung der Klagen nicht. Fa. A darf zunächst nicht bauen.

III. Ein Recht zum sofortigen Bauen erhielte A aber dann, wenn sie erreichen würde, dass die B-Behörde die sofortige Vollziehung der Genehmigung anordnet. Denn dann entfiele die aufschiebende Wirkung (§ 80 II Nr. 4 VwGO). Ein solcher Antrag könnte in Anwendung des § 80 a VwGO zulässig und begründet sein.

Bei der Einordnung eines Falles in die Systematik der §§ 80, 80a ist wie folgt vorzugehen:

(1) Normaler VA im zweipoligen Verhältnis oder VA mit Doppelwirkung ? Wie bereits ausgeführt, handelt es sich hier um einen VA mit Doppelwirkung (begünstigender VA mit drittbelastender Doppelwirkung). Folglich richtet sich der Rechtsschutz primär nicht nach § 80 V VwGO, sondern nach § 80a.

(2) Gericht oder Behörde ? § 80a I und II behandeln das Verfahren bei der Behörde § 80a III das Verfahren bei Gericht. Aber auch wenn es um ein gerichtliches Verfahren geht (§ 80a III), muss der Fall, weil § 80a III auf § 80a I, II Bezug nimmt, in die Systematik der § 80a I oder II eingeordnet werden. Erst wenn die Einordnung in diese beiden Absätze erfolgt ist, kann das Ergebnis auf das gerichtliche Verfahren (§ 80a III) übertragen werden. Folglich ist zunächst auf das Verfahren bei der Behörde einzugehen.

 (3) § 80a Abs. 1 oder 2 ? Im Verfahren vor der Behörde ist zwischen den in § 80a I und II geregelten Fällen zu unterscheiden.

(a) § 80a I behandelt den - hier vorliegenden - VA, der den Adressaten begünstigt und einen Dritten belastet (VA mit drittbelastender Doppelwirkung). Er unterscheidet wiederum danach, ob ein eingelegter Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat (dann Nr. 1) oder ob das (wie z. B. nach § 212a BauGB bei Baugenehmigungen) nicht der Fall ist (dann Nr. 2). Da die im vorliegenden Fall erhobenen Klagen aufschiebende Wirkung haben, greift § 80a I Nr. 1 ein.

(b) § 80a II behandelt den VA, der den Adressaten belastet und einen Dritten begünstigt und dem gegenüber der Adressat einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung eingelegt hat.

Da im vorliegenden Fall vorstehend (a) eingreift, kann Fa. A bei der B-Behörde die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Genehmigung gemäß § 80a I Nr. 1 beantragen. Allerdings muss damit gerechnet werden, dass die Behörde dem Antrag nicht stattgibt. Dann bedarf es einer Anrufung des VG; von diesem Fall wird im Folgenden ausgegangen. Es folgt dann als 4., letzter Schritt die:

(4) Übertragung auf das gerichtliche Verfahren: Nach § 80a III 1 kann das VG Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 ändern oder auf heben oder solche Maßnahmen treffen. Im vorliegenden Fall soll es sie „treffen“. Somit ist richtiger Rechtsbehelf ein Antrag an das VG, es möge die sofortige Vollziehung der Genehmigung anordnen.

B. Zulässigkeit eines Antrags an das VG, die sofortige Vollziehung anzuordnen

I. Die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs ergibt sich aus § 40 I VwGO. Es handelt sich um die Vollziehung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung, deren Anordnung sich wesentlich auch nach dem BImSchG richtet, also nach einer öffentlich-rechtlichen Vorschrift.

II. Die Antragsart ergibt sich aus §§ 80a III 1, I Nr. 1 VwGO. Fa. A als Begünstigte aus einem VA mit Doppelwirkung wendet sich dagegen, dass die Anfechtungsklagen der K1-6, G1,2 aufschiebende Wirkung haben und verlangt die Überwindung der aufschiebenden Wirkung durch Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 II Nr. 4 VwGO.

III. Ein vorheriger Antrag bei der Behörde nach § 80a I Nr. 1 VwGO ist zwar zweckmäßig, ist aber keine Zulässigkeitsvoraussetzung für das gerichtliche Verfahren (h. M., Nachw. bei Budroweit/Wuttke JuS 2006, 880 unter b und Fn. 9).

IV. Weitere Zulässigkeitsbedenken bestehen nicht. Ein verwaltungsgerichtlicher Eilantrag wäre somit zulässig.

C. Die Begründetheit ist entsprechend den Grundsätzen zu § 80 V VwGO, auf den § 80a III 2 verweist, zu prüfen. Während im Normalfall des § 80 V der Antrag Erfolg hat, wenn das Aufschubinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Behörde überwiegt, ist es beim Antrag nach §§ 80a III, I Nr.1 insofern umgekehrt, als das Vollzugsinteresse des Antragstellers das Aufschubinteresse des durch den VA Belasteten überwiegen muss. Im vorliegenden Fall muss also das Vollzugsinteresse der A das Aufschubinteresse der K1-6, G1,2 überwiegen. Das ist der Fall, wenn die immissionsschutzrechtliche Genehmigung - bei summarischer Betrachtung - sich als rechtmäßig erweist. Denn mit dem Erlangen einer rechtmäßigen Genehmigung hat A auch grundsätzlich das Recht erworben, von der Genehmigung Gebrauch zu machen und sie insofern vollziehen zu dürfen.

Geregelt ist die Rechtmäßigkeit der BImSchG-Genehmigung in § 6 I Nr. 1 und 2 BImSchG. Diese Vorschrift verweist in Nr. 1 auf § 5 BImSchG (und Rechtsverordnungen) und in Nr. 2 auf „andere öffentlich-rechtliche Vorschriften“.

I. Zu den anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften gehören vor allem die planungsrechtlichen Regelungen des BauGB. Auch eine WEA ist eine bauliche Anlage, die bauplanungsrechtlich zulässig sein muss (§§ 29 ff. BauGB). Da es sich um eine bauliche Anlage im Außenbereich handelt, ist § 35 BauGB anzuwenden.

1. Nach dieser Vorschrift sind zulässig die in Absatz 1 aufgeführten (privilegierten) Vorhaben unter den dort aufgeführten Voraussetzungen. Dazu gehört nach § 35 I Nr. 5 BauGB ein Vorhaben, wenn es „der Nutzung der Wind- oder Wasserenergie dient“. Die WEA der A dienen der Nutzung der Windenergie.

2. Allerdings dürfen keine öffentlichen Belange entgegenstehen (§ 35 I Satz 1). In welchen Fällen öffentliche Belange entgegenstehen, ist in § 35 III 1 Nr. 1 - 8 aufgeführt, von denen keiner im vorliegenden Fall zutrifft. Nach § 35 III 3 können öffentliche Belange einem Vorhaben nach Absatz 1 Nr. 2 - 6  entgegenstehen, soweit hierfür durch Darstellungen im Flächennutzungsplan oder als Ziele der Raumordnung eine Ausweisung an anderer Stelle erfolgt ist. Im vorliegenden Fall ist die Ausweisung eines Sondergebiets gerade in dem Bereich erfolgt, in dem A die WEA bauen will. Somit steht § 35 III 3 dem Vorhaben nicht entgegen.

3. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Erschließung gesichert ist (§ 35 I 1). An die Erschließung eines WEA-Grundstücks sind nur geringe Anforderungen zu stellen. Insbesondere braucht keine dauernde Zufahrtsmöglichkeit zu bestehen.

Somit ist die planungsrechtliche Zulässigkeit der von A geplanten WEA zu bejahen.

II. Von dem Vorhaben dürfen keine schädlichen Umwelteinwirkungen ausgehen (§§ 6 I Nr. 1, 5 I Nr. 1, 3 I - IV BImSchG).

1. Die Zulässigkeit von Lärm richtet sich nach der TA Lärm.

a) Diese ist keine Rechtsnorm, sondern eine Verwaltungsvorschrift. Normale, norminterpretierende Verwaltungsvorschriften sowie Ermessensrichtlinien haben deshalb Verbindlichkeit nur im Innenverhältnis der Verwaltung, dagegen mangels Rechtsnormcharakters keine unmittelbare Verbindlichkeit gegenüber dem Bürger und auch nicht für die Gerichte. Im Außenverhältnis können sie nur mittelbar, über Art. 3 I GG Bedeutung erhalten. Technische Regelwerke gemäß § 48 BImSchG (insbesondere die TA Lärm, TA Luft) haben aber eine darüber hinaus gehende Bedeutung. Sie sind normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften mit unmittelbarer Bindungswirkung auch gegenüber den Bürgern und den Gerichten (BVerwGE 129, 209, dazu JuS 2008, 1022; BayVGH im vorliegenden Fall S. 338). Sie sind auch auf hohe Schallquellen wie Windräder anzuwenden (BayVGH a. a. O.)

b) Nach dem gemäß der TA Lärm erstellten Schallgutachten beträgt der Lärm in einer Entfernung von 1 km nicht mehr als 35 dB (A). Das ist der Wert, der nachts für reine Wohngebiete zugelassen ist. Da die Kläger in einer Entfernung von 2 km wohnen, liegt die maximale Lärmbelastung noch weit darunter. Eine unzulässige Lärmbelastung kann somit ausgeschlossen werden.

c) Die von den Klägern vorgebrachten Infraschallauswirkungen können, da sie nicht hörbar sind, zu keiner schädlichen Umwelteinwirkung führen (BayVGH S. 339).

2. Den von den Klägern ins Spiel gebrachten Eiswurf würdigt der BayVGH als mögliche sonstige Gefahr i. S. des § 5 I Nr. 1 BImSchG, verneint aber ihr Vorliegen, weil die in 2 km Entfernung wohnenden Kläger davon nicht betroffen sein können und weil bei den im konkreten Fall geplanten Anlagen eine automatische Abschaltvorrichtung im Fall von Eisbildung vorgesehen war.

III. Die Einwendungen der Kläger wegen der Hauptblickrichtung und der Blinkfeuer könnten zu einem Verstoß gegen das baurechtliche Rücksichtnahmegebot führen (BayVGH S. 339). Ebenso erscheint es möglich, diese Einwendungen für erheblich zu halten, wenn die vorgeschriebenen Mindestabstände nicht eingehalten werden. Bei einer Entfernung von 2 km haben diese Umstände aber nicht die erforderliche Störungsintensität. Auch sind die vorgeschriebenen Abstände bei weitem nicht unterschritten.

IV. Auf eventuelle Störungen des Orts- und Landschaftsbildes, des Natur- und Landschaftsschutzes und des Tourismus können sich die K1-6 nicht berufen, weil gegen derartige Störungen gerichtete Rechtsvorschriften nicht dem Schutz einzelner Bürger dienen und deshalb keine subjektiven Rechte der K1-6 begründen. Sie können aber von den Nachbargemeinden G1,2 geltend gemacht werden, wenn darin eine Verletzung ihres Selbstverwaltungsrechts (Art. 28 II GG) liegt.

1. Aus der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie folgt ein Selbstgestaltungsrecht der Gemeinde (BayVGH S. 339 unter 4). Dieses löst Abwehransprüche aber nur dann aus,  wenn eine Gemeinde durch Maßnahmen betroffen wird, die das Ortsbild entscheidend prägen und hierdurch nachhaltig auf das Gemeindegebiet und die Entwicklung der Gemeinde einwirken (BVerwG NVwZ-RR 1999, 554); gewisse ästhetische Einbußen für das Ortsbild als Folge ansonsten zulässiger Vorhaben hat die Gemeinde hinzunehmen. Da bei privilegierten Vorhaben, wie sie hier vorliegen (§ 35 I Nr. 5 BauGB), die Genehmigungsfähigkeit nicht schon bei einer bloßen Beeinträchtigung öffentlicher Belange, sondern erst bei deren Entgegenstehen entfällt, ist die Annahme eines Abwehrrechts zusätzlich erschwert.

2. Im vorliegenden Fall können G1,2 als Nachbargemeinden nur gewisse Beeinträchtigungen geltend machen, jedoch keine das Ortsbild oder die Entwicklung der Gemeinden entscheidend und nachteilig prägenden Maßnahmen. Es darf davon ausgegangen werden, dass es sich um die üblichen Windräder an geeigneten Standorten handelt, die vom Gesetzgeber gewollt sind (§ 35 I Nr. 5 BauGB) und die auch von der überwiegenden Bevölkerung inzwischennicht mehr als wesentlich störend empfunden werden. Somit ist eine Verletzung des Selbstgestaltungsrechts der G1,2 nicht gegeben.

Ergebnis: Die der A erteilte BImSchG-Genehmigung war rechtmäßig. Das Vollzugsinteresse der A überwiegt. Der Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung ist begründet.


Zusammenfassung