Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Einbürgerungs- und Ausländerrecht. Rücknahme einer Einbürgerung, § 35 StAG. Erledigung eines Verwaltungsakts, § 43 VwVfG. Voraussetzungen für Aufenthaltstitel im Ausländerrecht, § 5 AufenthG. Niederlassungs- und Aufenthaltserlaubnis, §§ 9, 7 AufenthG. Aufenthaltserlaubnis für ehemalige Deutsche, § 38 AufenthG, unmittelbar und analog

BVerwG
Urteil vom 19. 4. 2011 (1 C 16.10) NVwZ 2012, 58 (unter Einbeziehung von BVerwG NVwZ 2012, 56, beide Urteile zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen)

Fall
(Gescheiterte Einbürgerung)

M ist marokkanischer Staatsbürger. Er lernte die deutsche Staatsangehörige Frau F kennen und heiratete diese 2004 in Marokko. Anfang 2005 reiste M mit einem Visum zum Zwecke der Familienzusammenführung nach Deutschland. Er fand hier eine Wohnung - zusammen mit F - und geht seitdem einer einfachen Arbeit nach. Zunächst erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis, Anfang 2009 eine Niederlassungserlaubnis. Im August 2009 beantragte er die deutsche Staatsangehörigkeit und erklärte in dem Antrag, dass er in ehelicher Gemeinschaft mit seiner Ehefrau zusammen lebe. Am 19. 12. 2009 wurde M die deutsche Staatsangehörigkeit durch Aushändigung der Einbürgerungsurkunde verliehen. Dabei wurde ihm gestattet, die marokkanische Staatsangehörigkeit beizubehalten; M besitzt deshalb auch noch einen marokkanischen Pass. Eine Rückkehr nach Marokko plant er jedoch nicht.

Im Juni 2010 wurde die Ehe zwischen M und F, die kinderlos geblieben war, geschieden. Aus dem Scheidungsurteil wurde der Einbürgerungsbehörde bekannt, dass M und F spätestens seit Mai 2009 getrennt gelebt hatten. In seiner Anhörung dazu erklärte M, er habe in seinem Antrag die erst kurz vorher erfolgte Trennung nicht erwähnt, weil er geglaubt habe, sie sei noch nicht endgültig. Die Einbürgerungsbehörde nahm mit Bescheid vom 24. 9. 2010 die Einbürgerung wegen arglistiger Täuschung mit Rückwirkung auf den 19. 12. 2009 zurück. Die dagegen erhobene Klage des M wies das Verwaltungsgericht im April 2011 ab; das Urteil wurde am 9. 6. 2011 rechtskräftig.

Am 1. 7. 2011 beantragte M bei der zuständigen Ausländerbehörde B der Stadt S die Bestätigung, dass er weiterhin über die Niederlassungserlaubnis von 2009 verfüge. Für den Fall, dass B dem nicht folgt, beantragte er die Erteilung einer neuen Niederlassungs- oder Aufenthaltserlaubnis. Mit Bescheid vom 1. 10. 2011 lehnte B die Anträge mit der auf Vorschriften des AufenthG gestützten Begründung ab, die arglistige Täuschung stehe jeder Art Aufenthalt des M in Deutschland und auch der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegen. Hiergegen hat M form- und fristgerecht Klage beim zuständigen VG erhoben, mit der er vor allem geltend macht, es sei nicht einzusehen, dass die gescheiterte Einbürgerung dazu führe, dass ihm jede Möglichkeit zum Verbleib in Deutschland genommen werde. Wie ist über die Klage zu entscheiden ? Es ist davon auszugehen, dass ein Widerspruchsverfahren nach § 68 VwGO aufgrund landesrechtlicher Vorschrift nicht mehr erforderlich ist.

A. Zulässigkeit der verwaltungsgerichtlichen Klage

I. Der Verwaltungsrechtsweg ist nach § 40 I 1 VwGO eröffnet. Die streitentscheidenden Normen ergeben sich aus dem AufenthG und sind öffentlich-rechtlicher Natur. Somit ist die Streitigkeit hinsichtlich beider Anträge eine öffentlich-rechtliche. Sie ist auch nichtverfassungsrechtlich und keinem anderen Gericht zugewiesen.

II. Die Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren des M (§ 88 VwGO).

1. Wie sich aus den von M bei der B-Behörde gestellten Anträgen ergibt, begehrt M zunächst die Feststellung, dass ihm weiterhin die 2009 erteilte Niederlassungserlaubnis zusteht. Insoweit könnte eine Feststellungsklage auf Bestehen eines Rechtsverhältnisse (§ 43 VwGO) statthaft und zulässig sein.

a) Eine Niederlassungserlaubnis ist ein Aufenthaltstitel (§§ 4 Nr. 3, 9 AufenthG) und berechtigt den Inhaber zum Aufenthalt in Deutschland. Somit handelt es sich um ein Rechtsverhältnis zwischen dem Ausländer und der Bundesrepublik Deutschland, für die die Ausländerbehörde der Stadt S handelt. M behauptet dessen Bestehen; die B-Behörde bestreitet dies mit der Behauptung, die arglistige Täuschung des M stehe jeder Art Aufenthalt des M entgegen.

b) Ob die früher erteilte Niederlassungserlaubnis fortbesteht, kann M weder durch Gestaltungs- noch durch Leistungsklage klären lassen. Die Subsidiarität der Feststellungsklage (§ 43 II VwGO) steht ihrer Zulässigkeit somit nicht entgegen.

c) M hat auch ein (erhebliches) berechtigtes Interesse an der Feststellung, weil die Rechtslage für ihn nicht klar ist und er im Falle einer Feststellung über ein unbefristetes, auch zur Fortsetzung seiner Arbeit berechtigendes Aufenthaltsrecht verfügt.

2. Das Begehren des M auf Erteilung eines neuen Aufenthaltstitels könnte als Verpflichtungsklage (§ 42 I VwGO) statthaft sein.

a) Sowohl die Niederlassungserlaubnis nach §§ 4 I Nr. 3, 5, 9 AufenthG als auch die Aufenthaltserlaubnis nach §§ 4 I Nr. 2, 7 AufenthG ist ein Verwaltungsakt (§ 35 VwVfG) mit der Regelungswirkung, dass M hierdurch ein Aufenthaltsrecht erhält. M hat sie beantragt, die Behörde hat sie abgelehnt.

b) M hat den dahingehenden Antrag nur hilfsweise gestellt, was als Anwendungsfall der objektiven Klagehäufung (§ 44 VwGO) zulässig ist. Ein Hilfsantrag wird unter der Bedingung gestellt, dass über den Hauptantrag negativ entschieden wird. Nur in diesem Fall bedarf es einer sachlichen Befassung mit dem Verpflichtungsantrag.

III. Die für den Feststellungsantrag analog § 42 II VwGO (nach BVerwGE 100, 262, 271) und für den Verpflichtungsantrag unmittelbar aus dieser Vorschrift erforderliche Klagebefugnis ergibt sich daraus, dass M geltend macht, er verfüge über das Recht aus der Niederlassungserlaubnis oder - hilfsweise - er habe ein Recht auf Erteilung einer neuen Niederlassungs- oder Aufenthaltserlaubnis. In diesen Rechten werde er durch den Bescheid vom 1. 10. 2011 verletzt.

IV. Klagegegner ist die Stadt S (§§ 61 Nr. 1, 78 I Nr. 1 VwGO). Die Klage ist zulässig.

B. Begründetheit des Feststellungsantrags

Der Feststellungsantrag ist begründet, wenn M über eine Niederlassungserlaubnis verfügt.

I. Im Jahre 2009 wurde M eine Niederlassungserlaubnis gemäß § 9 AufenthG erteilt.

II. Ein Erlöschen der Niederlassungserlaubnis nach §§ 51, 52 AufenthG (Erlöschen kraft spezialgesetzlicher Regelung oder durch Widerruf) liegt nicht vor.

III. Das BVerwG sieht §§ 51, 52 AufenthG nicht als abschließend an, sondern prüft einen Wegfall der Niederlassungserlaubnis aufgrund der allgemeinen Regelung in § 43 II VwVfG als Folge der Einbürgerung vom 19. 12. 2009.

1. Nach § 43 II VwVfG entfällt die Wirksamkeit eines VA durch Erledigung. Eine solche Erledigung könnte im Hinblick auf die Niederlassungserlaubnis eingetreten sein. Zurückgenommen oder anderweitig aufgehoben wurde die Niederlassungserlaubnis nicht. Sie hat sich auch nicht durch Zeitablauf erledigt. Es könnte aber eine Erledigung auf andere Weise eingetreten sein.

Das BVerwG verweist im vorliegenden Fall unter [12] auf BVerwG NJW 2012, 56 [14, 15]: Die Erledigung eines VA tritt ein, wenn er nicht mehr geeignet ist, rechtliche Wirkungen zu erzeugen oder wenn die Steuerungsfunktion, die ihm ursprünglich innewohnte, nachträglich entfallen ist (…). In dem Fall, in dem an die Stelle einer einmal getroffenen Regelung eine neue Regelung tritt, spricht BVerwG NVwZ 2012, 173 von einer „Erledigung durch inhaltliche Überholung“. Im vorliegenden Fall wurde die Niederlassungserlaubnis durch die (weitergehende) Einbürgerung inhaltlich überholt. Mit der Einbürgerung des Klägers ist der Regelungszweck der ihm erteilten Niederlassungserlaubnis, der in der Vermittlung und Ausgestaltung seines Aufenthaltsrechts als Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland lag, weggefallen. Sein Aufenthalt in Deutschland bedurfte mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nicht mehr eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 4 ff. AufenthG, zumal das Gesetz nur auf Ausländer Anwendung findet (…). Die Steuerungsfunktion der Niederlassungserlaubnis war hier nachträglich entfallen, der Aufenthaltstitel konnte ab dem Zeitpunkt der Einbürgerung keine Rechtsfolgen mehr zeitigen. Damit hatte sich die Niederlassungserlaubnis auf andere Weise erledigt (§ 43 Abs. 2 VwVfG). Weder hätte es zur Beendigung der Wirksamkeit der Niederlassungserlaubnis eines rechtsgestaltenden Akts bedurft noch ist ein solcher erfolgt.

2. Die rückwirkende Rücknahme der Einbürgerung könnte auch zu einem rückwirkenden Wegfall der Erledigung und damit zu einem Wiederaufleben der Niederlassungserlaubnis geführt haben. BVerwG NVwZ 2012, 56 [17-21]:

a) Welche Rechtsfolgen die rückwirkende Aufhebung eines zur Erledigung führenden Verwaltungsakts hat, ist nicht für das gesamte Verwaltungsrecht einheitlich zu beurteilen, sondern bestimmt sich nach dem jeweils einschlägigen materiellen Recht (BVerwGE 129, 66, 70) . Nur dies führt zu sachgerechten Ergebnissen, weil der häufig im jeweiligen Fachrecht verortete Grund der Erledigung und die Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebiets berücksichtigt werden können.

b) Das BVerwG billigt die Auffassung des BerGer.,. dass das ordnungsrechtliche Grundanliegen des Ausländerrechts einem Wiederaufleben der erledigten Niederlassungserlaubnis nach Rücknahme der Einbürgerung des Klägers entgegensteht. Denn die Ausländerbehörde konnte vom Zeitpunkt der Einbürgerung des Klägers an nicht mehr mit ausländerrechtlichen Mitteln auf ein mögliches Fehlverhalten des Klägers reagieren, etwa ihm gegenüber eine Ausweisung aussprechen. Die gegenteilige Auffassung kann zu Wertungswidersprüchen führen. Denn ein Ausländer, der sich durch Täuschung die Einbürgerung erschlichen und dann einen Ausweisungstatbestand erfüllt hat, stünde unter Umständen besser da als ein Ausländer, auf dessen Fehlverhalten eine unmittelbare ausländerbehördliche Reaktion erfolgt…Im Übrigen stünde ein Ausländer, dessen Einbürgerung wegen schweren Fehlverhaltens ex tunc zurückgenommen wurde, besser da als ein solcher, der die deutsche Staatsangehörigkeit ex nunc verliert, denn bei letzterem kommt ein Wiederaufleben des früheren Aufenthaltstitels schon deshalb nicht in Betracht, weil die Einbürgerung als erledigendes Ereignis nicht rückwirkend beseitigt wurde.

Auch spricht die in § 38 AufenthG getroffene Regelung gegen ein Wiederaufleben der erledigten Niederlassungserlaubnis. Nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist einem ehemaligen Deutschen, der die deutsche Staatsangehörigkeit verloren hat, unter bestimmten (erleichterten) Voraussetzungen eine Niederlassungserlaubnis (Nr. 1) oder eine Aufenthaltserlaubnis (Nr. 2) zu erteilen…Offensichtlich ist der Gesetzgeber nicht von einem Wiederaufleben eines etwaigen, vor Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vorhandenen Aufenthaltstitels ausgegangen. Ist aber im Fall eines Verlustes der Staatsangehörigkeit ex nunc nur der Neuerwerb einer Niederlassungs- oder Aufenthaltserlaubnis möglich (§ 38 Abs. 1 Satz 1 AufenthG), wäre es ein Wertungswiderspruch, wenn im Fall einer ex-tunc-Rücknahme der Einbürgerung ein Ausländer, der arglistig getäuscht hat, in den Genuss eines automatischen Wiederauflebens des früheren Aufenthaltstitels käme.

Somit hat M seine Niederlassungserlaubnis verloren und nicht wiedererworben. Der Klageantrag des M, festzustellen, dass er weiterhin über die Niederlassungserlaubnis von 2009 verfügt, ist unbegründet.

B. Begründetheit des Antrags auf Erteilung einer Niederlassungs- oder Aufenthaltserlaubnis

Da der Hauptantrag auf Feststellung keinen Erfolg hat, ist die Begründetheit des hilfsweise gestellten Verpflichtungsantrags zu prüfen. Dieser ist begründet, wenn M einen Anspruch entweder auf eine Niederlassungs- oder auf eine Aufenthaltserlaubnis oder wenigstens einen Anspruch auf eine erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag hat (§ 113 V VwGO). Da Aufenthalts- und Niederlassungserlaubnis zwei ähnliche der vier in § 4 I AufenthG enthaltenen Aufenthaltstitel sind (vgl. dort Nr. 2 und Nr. 3), können die formellen Anforderungen zusammen behandelt werden.

I. Die auf beide Aufenthaltstitel bezogenen formellen Anforderungen finden sich in §§ 71 ff., 77 ff. AufenthG.

a) Nach § 77 I sind die Ausländerbehörden zuständig. M hat den Antrag bei der zuständigen (B-) Ausländerbehörde gestellt.

b) Der nach § 81 I AufenthG erforderliche Antrag des M liegt vor.

II. Die Niederlassungserlaubnis (§§ 4 I Nr. 3, 5, 9 AufenthG) ist der weitergehende Aufenthaltstitel, weil sie unbefristet erteilt wird und deshalb zu einem Daueraufenthalt berechtigt, keine Zweckbindung enthält und die Berechtigung zu einer Erwerbstätigkeit umfasst. Sie kann M jedoch nicht erteilt werden, weil die speziellen Voraussetzungen nach § 9 II AufenthG auf M nicht zutreffen:

1. Nach § 9 II Nr. 1 müsste M eine Aufenthaltserlaubnis besitzen. M verfügt aber seit dem 19. 12. 2009 über keinen Aufenthaltstitel mehr. Auch bestand die frühere Erlaubnis keine fünf Jahre. Selbst wenn man - etwa analog § 9 IV Nr. 1 - die Zeit, in der M eine Niederlassungserlaubnis hatte, einrechnet, verfügte M über die nötige Erlaubnis nur von Anfang 2005 bis Ende 2009, also nur für gut vier Jahre; die Zeit von fünf Jahren wäre erst Anfang 2010 abgelaufen.

2. M hat das Vorliegen der Voraussetzung aus § 9 II Nr. 8, Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, nicht in der Form der erfolgreichen Ablegung eines Integrationskurses (§ 9 II 2) nachgewiesen. Dass Ausnahmen nach § 9 II 3-6 vorliegen, ist nicht ersichtlich.

III. Für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (§§ 4 I Nr. 2, 5, 7 AufenthG) müssen zunächst die allgemeinen Voraussetzungen für jeden Aufenthaltstitel (§ 5 I AufenthG) erfüllt sein.

1. Die Voraussetzung der Nr. 1 liegt vor. M hat eine Arbeitsstelle, durch die sein Lebensunterhalt gesichert ist. Dafür spricht auch, dass bei seiner Einbürgerung offenbar die Voraussetzung des § 8 I Nr. 4 StAG („sich und seine Angehörigen zu ernähren imstande ist“) bejaht wurde. Auch ist die Identität des M (§ 5 I Nr. 1a AufenthG) geklärt.

2. Nach Nr. 2 darf kein Ausweisungsgrund vorliegen. Damit wird auf §§ 53, 54, 55 AufenthG verwiesen. Ein Fall einer zwingenden Ausweisung (§ 53 AufenthG) oder einer Ausweisung im Regelfall (§ 54 AufenthG) liegt nicht vor. Es könnte einer der Fälle vorliegen, die zu einer Ermessensausweisung berechtigen (§ 55 AufenthG). Nach § 55 I, II Nr. 2 AufenthG kann ein Ausländer ausgewiesen werden, der einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Ein solcher Fall ist insbesondere die Begehung einer Straftat. Dabei ist nicht erforderlich, dass der Ausländer bestraft ist, auch nicht dass er wirklich ausgewiesen würde (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Januar 2012, A 1 § 5 Rdnr. 26, 30).

a) Nach § 42 StAG wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer unrichtige oder unvollständige Angaben zu wesentlichen Voraussetzungen der Einbürgerung macht oder benutzt, um für sich oder einen anderen eine Einbürgerung zu erschleichen. Indem M in seinem Einbürgerungsantrag erklärt hat, dass er mit seiner Ehefrau zusammenlebt, während sie sich bereits getrennt hatten, hat er eine unrichtige Angabe gemacht. Für die Einbürgerung nach §§ 9, 8 StAG war dieser Umstand, obwohl es sich bei § 9 StAG um eine Soll-Einbürgerung handelt, eine wesentliche Erwägung. Denn bei § 9 StAG ist es der Normalfall, dass die Ehegatten auch zusammenleben. Deshalb ist für eine Einbürgerung abweichend von dem Normalfall zumindest eine zusätzliche Begründung erforderlich, die hier für die Einbürgerungsbehörde mangels Kenntnis nicht möglich war. Durch diese falsche Angabe hat M sich die Einbürgerung erschlichen. (Dementsprechend ist auch die Rücknahme der Einbürgerung erfolgt und diese Rücknahme vom VG als rechtmäßig bestätigt worden.)

b) Um einen geringfügigen Verstoß handelt es sich angesichts der Androhung einer längeren Freiheitsstrafe nicht. In Betracht kommt ein vereinzelter Verstoß („vereinzelt“ steht neben „geringfügig“, Hailbronner a. a. O. Rdnr. 27). Dafür spricht, dass M nur einen Verstoß begangen hat. Allerdings kann nicht ausreichen, dass nur rein zahlenmäßig ein einziger Fall vorliegt. Da „vereinzelt“ neben „geringfügig“ steht, muss hinzukommen, dass der Verstoß nicht schwerwiegend war. Das trifft auf die falsche Angabe des M zu, weil die Trennung erst wenige Monate vorher erfolgt war und M - was ihm geglaubt werden kann - gehofft hat, dass die Trennung nur vorübergehend war. Somit hat M keinen Ausweisungstatbestand verwirklicht. - Anders wohl das BVerwG, das bei [21] ohne weitere Begründung ausführt: Bei einem auf die Einbürgerung begrenzten Fehlverhalten des Betroffenen dürfte… ein Ausweisungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG bestehen (jedenfalls seit Einführung der Strafvorschrift des § 42 StAG…).

3. Es liegen auch die weiteren Voraussetzungen des § 5 I AufenthG vor: Der Aufenthalt des M beeinträchtigt die Interessen der BRD nicht (§ 5 I Nr. 3 AufenthG). M besitzt noch einen marokkanischen Pass (§ 5 I Nr. 4, § 3 AufenthG).

4. Für eine Aufenthaltserlaubnis müssen zusätzliche Voraussetzungen nach § 5 II AufenthG gelten. Ob sie auch für M gelten, der sich bereits mehrere Jahre berechtigt in der BRD aufhält - zumindest seit 2005 bis zum 9. 6. 2011 und seit der Antragstellung am 1. 7. 2011 nach § 81 III AufenthG -, kann offen bleiben. Denn M ist 2005 ordnungsgemäß mit Visum eingereist, und es ist nicht ersichtlich, dass er die dafür nötigen Angaben nicht gemacht hätte.

Die allgemeinen Voraussetzungen nach § 5 I, II AufenthG liegen vor.

IV. Die Aufenthaltserlaubnis darf nur für einen bestimmten, konkreten Zweck erteilt werden (§ 7 I 2 AufenthG; Hofmann/Hoffmann, AuslR, 2008, § 7 AufenthG Rdnr. 3: „Die Aufenthaltserlaubnis ist immer an einen bestimmten Zweck gebunden.“). Durch die Zweckbindung werden besondere Voraussetzungen für diesen Aufenthaltstitel aufgestellt. Die Zwecke sind im 2. Kapitel in den Abschnitten 3-7 (§§ 16-38a AufenthG) aufgeführt und näher behandelt. Zwecke sind u. a. Ausbildung, Erwerbstätigkeit, humanitäre und familiäre Gründe.

1. M will zwar weiterhin in Deutschland einer Beschäftigung nachgehen. Eine Beschäftigung ist aber nicht Zweck seines Aufenthalts i. S. der §§ 18 ff. AufenthG. M erfüllt auch nicht die Voraussetzungen, um eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Beschäftigung zu erhalten. Da er nur einer einfachen Arbeit nachgeht, entfallen die Vergünstigungen für besonders Qualifizierte. Es bleibt die allgemeine Regelung des § 18 II AufenthG, nach der aber eine Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit erforderlich ist. Diese liegt nicht vor. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Bundesagentur diese Zustimmung nach § 39 AufenthG im Fall des M erteilen müsste.

2. Auf familiäre Gründe i. S. der §§ 27 ff. AufenthG kann M sich nicht stützen. Seine Ehe ist geschieden. Ein Kind aus dieser Ehe hat M nicht.

3. Die vom Gesetz behandelten Zwecke sind nicht abschließend. Nach § 7 I 3 AufenthG kann in begründeten Fällen eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen anderen Zweck erteilt werden. Einen konkreten anderen Zweck gibt es im Fall des M aber nicht. M will nach Scheitern seiner Ehe und nach misslungener Einbürgerung schlicht weiter in Deutschland bleiben.

4. In Betracht kommt noch der Zweck des § 38 AufenthG. Nach Abs. 1 ist einem ehemaligen Deutschen (1.) eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn er bei Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit seit fünf Jahren als Deutscher seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte, oder (2.) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn er bei Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit seit mindestens einem Jahr seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte.

a) Eine Anwendung des § 38 I Nr. 1 AufenthG scheidet - abgesehen von der Voraussetzung „ehemaliger Deutscher“ (dazu unter b) - zumindest deshalb aus, weil M keinen fünfjährigen Aufenthalt „als Deutscher“ im Bundesgebiet aufweisen kann, vielmehr betrug die Zeit seines Aufenthalts als Deutscher nur etwa neun Monate zwischen Einbürgerung und Rücknahme (vgl. BVerwG [25]).

b) § 38 I Nr. 2 AufenthG hat einen „ehemaligen Deutschen“ zur Voraussetzung. Faktisch war M zwischen dem 19. 12. 2009 und dem 24. 9. 2010 Deutscher. Rechtlich hatte die Rücknahme aber Rückwirkung, so dass M nie Deutscher war; letzteres ist maßgeblich. BVerwG [15]: Mit dem Tatbestandsmerkmal des „ehemaligen Deutschen“ in § 38 Abs. 1 AufenthG hat der Gesetzgeber offenbar an den gleichen im Staatsangehörigkeitsgesetz verwendeten Begriff anknüpfen wollen (etwa in § 13 StAG - Einbürgerung eines ehemaligen Deutschen). Dass mit diesem Begriff im Staatsangehörigkeitsrecht auch diejenigen Personen erfasst werden sollen, deren Einbürgerung wegen arglistiger Täuschung, Drohung oder Bestechung…zurückgenommen worden ist (§ 35 StAG), liegt fern. Die teilweise vertretene gegenteilige Auffassung (vgl. Huber, AufenthG, 1. Aufl. 2010, § 38 Rn. 3…) steht in Widerspruch zu der vom Gesetzgeber in § 35 Abs. 4 StAG zwingend angeordneten Rücknahme der Einbürgerung mit Wirkung für die Vergangenheit. Damit soll erreicht werden, dass der Betreffende in diesen Fällen jedenfalls im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts rückwirkend so gestellt wird, als hätte er die deutsche Staatsangehörigkeit nie besessen.Somit kommt § 38 I Nr. 2 unmittelbar nicht zur Anwendung.

5. § 38 I Nr. 2 AufenthG könnte analog anwendbar sein.

a) Dann müsste eine planwidrige Regelungslücke vor liegen, und deren Ausfüllung durch § 38 I Nr. 2 müsste sachgerecht sein.

aa) Eine Regelungslücke besteht deshalb, weil das Gesetz im Falle einer Rücknahme der Einbürgerung nicht geregelt hat, welche weiteren Folgen diese Maßnahme für den Betroffenen hat. BVerwG [17]: Da sich der Aufenthaltstitel, den er vor der Einbürgerung besessen hat, mit der Einbürgerung erledigt hat und auch nach deren rückwirkender Rücknahme nicht wieder auflebt (…), könnte sich der Betroffene - ungeachtet der Dauer und Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts vor der Einbürgerung und ungeachtet des Gewichts seines konkreten Fehlverhaltens im Einbürgerungsverfahren - nur dann weiter erlaubt im Bundesgebiet aufhalten, wenn er einen Anspruch auf Neuerteilung eines Aufenthaltstitels nach den nunmehr geltenden Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes hätte, also etwa zum Zweck der Erwerbstätigkeit oder aus familiären oder humanitären Gründen. Für einen alleinstehenden Betroffenen stünde danach unter Umständen nur die Möglichkeit der Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG offen…In anderen Fällen könnte die Rücknahme der Einbürgerung mit Wirkung für die Vergangenheit dagegen gleichsam automatisch und ohne Prüfung des Einzelfalles zu einer Aufenthaltsbeendigung führen. Ein derartiger aufenthaltsrechtlicher Eingriff infolge der Rücknahme einer Einbürgerung wäre aber mit Blick auf den nach Art. 2 Abs. 1 GG zu wahrenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fragwürdig und stünde auch in Widerspruch dazu, dass bei vergleichbaren Aufenthaltsbeendigungen - etwa durch Ausweisung und durch Rücknahme oder Widerruf eines Aufenthaltstitels - nach dem Gesetz eine Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der jeweiligen Gesamtumstände erforderlich ist. Eine solche Prüfung findet auch nicht schon im Rahmen der Ermessensentscheidung bei der Rücknahme der Einbürgerung statt. Denn die hierfür zuständigen Behörden haben über die aufenthaltsrechtlichen Folgen nicht selbst zu entscheiden und brauchen sie deshalb auch nicht in ihre Erwägungen einzubeziehen. Es kann deshalb nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber für die Fälle des rückwirkenden Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit eine aufenthaltsrechtliche Regelung treffen wollte, die unter Umständen zu der Beendigung eines langfristigen Aufenthalts im Bundesgebiet führen würde, ohne dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall stattfindet.

Unter [19] weist das BVerwG noch darauf hin, dass der Gesetzgeber zwar die Auswirkungen der Rücknahme der Einbürgerung auf den Bestand der Staatsangehörigkeit Dritter (vgl. § 17 Abs. 2 StAG) und auf miteingebürgerte Dritte, z.B. Ehepartner oder Kinder (vgl. § 35 Abs. 5 StAG) geregelt hat, nicht aber die aufenthaltsrechtlichen Folgen für den Betroffenen selbst, obwohl der Bundesrat eine solche Regelung angemahnt hatte. Wenn der Gesetzgeber aufgrund dieser Unterrichtung von einer vermeintlich klaren aufenthaltsrechtlichen Gesetzeslage ausgegangen ist, ist dem zu entnehmen, dass er sich weder über die bestehende Regelung noch über etwaige Regelungslücken im Klaren war.

bb) [20]: Hiervon ausgehend erscheint eine entsprechende Anwendung der für Fälle des sonstigen Verlusts der Staatsangehörigkeit mit Wirkung für die Zukunft geschaffenen Regelungen des § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 (i.V.m. Satz 3 sowie Abs. 3 und 4) AufenthG als sachgerecht. Sie ermöglicht eine adäquate Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles auch in Fällen der Rücknahme der Einbürgerung mit Wirkung für die Vergangenheit und verhindert, dass es allein aufgrund der Rücknahme der Einbürgerung zu einer automatischen Aufenthaltsbeendigung ohne Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall kommen kann.

Somit ist M wie ein ehemaliger Deutscher i. S. des § 38 I Nr. 2 AufenthG zu behandeln.

b) Weitere Voraussetzung für § 38 I Nr. 2 AufenthG ist, dass der Ausländer bei Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit seit mindestens einem Jahr seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte. Selbst wenn man dabei die Rückwirkung der Rücknahme auf den 19 12. 2009 zu Grunde legt, lebte M damals bereits seit 2005, also länger als 4 Jahre in Deutschland.

c) Nach § 38 I 2 AufenthG muss der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Kenntnis vom Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit gestellt werden. BVerwG LS 2: Der Ausländer, dessen Einbürgerung zurückgenommen worden ist, hat erst dann Kenntnis vom Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne von § 38 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, wenn der Rücknahmebescheid bestandskräftig ist. Rechtskräftig war die Rücknahme am 9. 6. 2011. Den Antrag hat M am 1. 7. 2011 gestellt, also deutlich innerhalb der 6-Monats- Frist.

6. Somit liegen die Voraussetzungen nach §§ 5, 38 I Nr. 2 AufenthG vor. Dem M war eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (gebundener VA). Zugleich ergab sich aus dieser Vorschrift ein Anspruch des M. Die Ablehnung durch die B-Behörde war rechtswidrig und verletzte M in seinem Anspruch aus § 38 AufenthG. Die Verpflichtungsklage auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist begründet. Die Stadt S wird verurteilt, dem M eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Dabei ist der B-Behörde aufzugeben, die Aufenthaltserlaubnis nach pflichtgemäßem Ermessen zu befristen (§ 7 II 1 AufenthG).


Zusammenfassung